10. Kapitel
Da Reese nicht einschlafen konnte, stand er schließlich auf und ging ins Bad. Die Dusche voll aufgedreht genoss er den prasselnden, heißen Strahl und machte sich gedanklich eine Liste, was er zu tun hatte. Das Erste, wenn er hoch zur Brücke ging, war Rücksprache mit Keith zu halten. Ihm alles erzählen, was er bis jetzt wusste und beten, dass der Mann, der seine Sicherheitsabteilung so grandios leitete und ein ehemaliger Army-Ermittler war, eine Idee oder zwei hatte, die Klarheit in dieses verfickte Chaos bringen würde. Reese schwor sich, jedes Puzzleteil aufzuspüren. Für Cedric.
Denn er wollte den Mann an seiner Seite. Ohne Wenn und Aber. Ihm war schmerzlich bewusst, dass sein Geliebter auf seine Liebeserklärung nicht reagiert hatte. Doch das war verständlich und okay. Er wollte keine Worte, die Cedric vielleicht nicht fühlte. Der Mann sollte aus freien Stücken bei ihm bleiben. Oder ihn in seinem Leben akzeptieren. Wie auch immer. Nur weil Reese verrückt nach ihm war, bedeutete das nicht ...
„Ach fuck, Reese, mach dir nichts vor. Du bist längst verloren und wenn er deine Gefühle nicht erwidern sollte, hast du iregndwann ein Problem.“
Er drehte das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, tappte er zurück in die Kabine, wo Cedric weiter tief und fest schlief. Reese zog ein weißes T-Shirt und Khakis über. Er musste den Anker einholen, den Kurs nach Süden für Manzanillo berechnen, wo er sich mit den Architekten auf der Resortbaustelle treffen sollte. Und danach würde er Cedrics Problem aus der Welt räumen.
Minuten später war er an Deck und strebte zur Brücke. Oben angekommen registrierte er ein blinkendes, rotes Licht auf seinem marinen Telekommunikationssystem. Jemand hatte ihm ein Fax geschickt, während er unten gewesen war. Reese eilte zu der Maschine und las die Nachricht.
‚Hab versucht anzurufen. Keine Antwort. Hinweis auf den Halter des besagten Wagens. Gute Nachrichten/schlechte Nachrichten. Ruf mich an. Sofort! KJ.‘
Sein Herz hämmerte, als Reese sein Handy aus der Hosentasche zog. Gut, er hatte Empfang, dachte er, als er die Balken checkte. Er drückte die Kurzwahl für Keith‘ private Nummer.
„Hey, bist du okay?“, war dessen erste Frage.
„Alles bestens. Wir sind etwa drei, vier Stunden vom Hafen in Manzanillo entfernt. Was ist mit dem Autobesitzer?“
„Das Kennzeichen konnte einem Mann aus Laredo, Texas zugeordnet werden. 35 Jahre. In den Staaten
geboren. Sein Name war Raoul Martinez.“
„War?“, wiederholte Reese und sein Puls ging auf Overdrive.
„Er ist tot. Erschossen letztes Jahr auf dem Weg zur Arbeit. Laut der lokalen Polizeibehörde gab es kaum Beweisspuren und es konnte kein Verdächtiger identifiziert werden. Was mich nicht überrascht, das Grenzgebiet ist ein Hotspot für Kriminalität. Der zuständige Detective spekulierte aber, dass der Tote auf der Gehaltsliste des Sinoakartells stand.“
„Wie kam er darauf?“
„Weil Martinez für einen Gebrauchtwagenhändler gearbeitet hat. Nach seinem Tod sind einige Autos mit gefälschten Kennzeichen dort gefunden worden. Zudem ist ein hochrangiges Mitglied der Sinaloas mit ihm zur Schule gegangen. Sie sollen wie Brüder gewesen sein. Der Ermittler vermutet, dass Martinez die Kennzeichen als Gefallen für seinen Kumpel gefälscht hat und vielleicht aussteigen wollte. Und dann hieß es: Lebwohl Raoul.“
„Martinez‘ Auto ist über den Händler verkauft worden, richtig?“, fragte Reese ahnungsvoll.
„Ja, und bevor du fragst, es gibt keinen Hinweis auf den Käufer.“
Reese fluchte unflätig.
„Fuck! Und jetzt? Versucht jemand, den Wagen loszuwerden?“
„Bis jetzt nicht. Meine Leute sind dran. Mit einem zerstörten Kennzeichen kann er nicht rumpendeln. Zu groß die Gefahr, dass die Highway Patrol ihn kontrolliert.“
„Okay, halt mich auf dem Laufenden. Inzwischen hat Cedric mir einiges von seinen Problemen erzählt. Ich will, dass du in die Akten der Verhaftung und Verurteilung eines Menschenhändlers in New Jersey und Umgebung schaust. Radford ist vermutlich der Geburtsort von Cedric. So um 1993, 1994. Zur Vorsicht auch etwas früher oder später“
„Name?“
„Hab ich noch nicht. Es war bereits harter Tobak, was er erzählt hat. Ich wollte ihn nicht zu sehr bedrängen. Aber ich besorge dir den Namen.“
„Alles klar. Ich fange schon mal an. Vielleicht reichen deine Angaben ja. Wenn es ein großer Fall war ...Aber Name und genaues Datum wäre natürlich hilfreich und würde die Suche beschleunigen.“
„Ich weiß“.
Reese unterdrückte ein Seufzen. Es gefiel ihm nicht, Cedric noch einmal zu bedrängen, ins Detail zu gehen. Aber wenn sie eine Chance haben wollten, herauszufinden, wer seinen Liebsten verfolgte, musste es sein.
In kurzen, knappen Sätzen rekonstruierte Reese dann für Keith Cedrics Geschichte. Von den kriminellen Aktivitäten des Vaters und dessen Verhaftung, der
Zeugenaussage der Mutter, das Zeugenschutzprogramm und der Ermordung von Mutter und Bruder. Reese schluckte schwer, ehe er fortfuhr.
„Für mich klingt das nach einem Leck in dem Programm“, teilte er Keith seine Befürchtung mit.
„Hm, das ist durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen. Hat Cedric eine Idee, wer es sein könnte?“
„Nein. Er war drei, als sie New Jersey verließen und nach Nevada gezogen sind und für zwölf Jahre war alles in bester Ordnung. Keine Bedrohungen, nichts. Aber für mich ist an der Sache etwas faul.“
„Ein alter Armykumpel ist jetzt beim Marshallservice. Ich ruf ihn an und frag, ob er einen Blick auf die alten Statusberichte des Zeugenschutzes werfen könnte. Aber ich muss dich vorwarnen, es ist gut möglich, dass er uns nur wenig bis gar nichts sagen kann.“
„Ja, ich denke, die halten die Akten natürlich fest unter Verschluss. Verständlich.“
„Ihre Mission ist es, diese Menschen für immer zu verstecken und ihre wahren Identitäten zu begraben. Jeder Verstoß gegen die Geheimhaltung ist ein Grund für eine sofortige Entlassung. Oder sogar eine Strafanzeige.“
„Du denkst also, das FBI oder die Marshalls sind nicht verantwortlich für das Leck, oder? Was ist mit Infiltration von außen?“
Keith schnaufte.
„Das halte ich für fast unmöglich. Kommt auf die kriminelle Organisation an, würde ich sagen. Ich schnüffle mal herum und schaue, was ich finde.“
„Ach ja, und überprüfe das Jugendamt Las Vegas. Die haben bei Cedric totalen Mist gebaut.“
„Auch da brauche ich Namen“, forderte Keith.
„Ich verstehe, dass es nicht einfach sein wird, aber je mehr dein Freund preisgibt, desto höher sind die Chancen etwas zu finden.“
„Ist mir bewusst, Keith.“
Reese rieb sich übers Gesicht und starrte auf das dunkle Wasser hinaus.
„Das ist noch nicht alles.“
„Das hab ich auch nicht erwartet. Was noch?“
„Finde alle Fälscher in Nuevo Laredo.“
Keith pfiff laut.
„Da gibt es an jeder Straßenecke einen. Lass mich raten, auch hier hast du keinen Namen für mich?“
Reese versprach ihm, den ebenfalls herauszufinden, und war nicht überrascht, als Keith ihn sehr ernst fragte: „Worauf lassen wir uns da ein, Reese? Wieso überprüfe ich Fälscher in einer der kriminellsten Gegenden Mexikos?“
Reese klärte seinen Sicherheitschef über Cedrics
gefälschten Führerschein und Pass auf.
„Ach ja, und noch eine Sache. Keine Priorität, aber trotzdem möchte ich die Person überprüfen.“
„Das klingt als hättest du wenigstens da einen Namen für mich?“
„Ja. Philipp Hanson. San Diego.“
„Euer Freund Philipp Hanson? Der CEO eurer Konkurrenz?“
„Ein und derselbe.“
„Suche ich etwas Bestimmtes oder nur einen gründlichen Backgroundcheck?“
„Einen gründlichen Check. Etwas Auffälliges. Alles, was faul riecht“, antwortete Reese.
„Was hat er Cedric angetan?“
„Ihm einen Job gegeben. Einen hervorragenden.“
„Noch irgendetwas? Exfreunde, die ich durchleuchten soll?“, wollte Keith wissen.
„Nein, ich denke nicht. Cedric war ...“. Reese brach ab, das war privat.
„Er hatte nie Zeit für Affären oder ähnliches in der Art.“
„Aha? Frag ihn trotzdem. Ich habe gesehen, wie du ihn anschaust. Wie du auf ihn und diese Sache reagierst. Es
ist besser, alle Leichen vorher auszugraben, damit uns das Ganze nicht um die Ohren fliegt. Besonders da wir es anscheinend mit den Kartellen zu tun haben. Drogen, Waffen, Sklavenarbeit, Drohnenraketen, automatische Angriffswaffen. Die verkaufen sich verdammt gut entlang der Grenze. Das ist ein Teufelsnetz.“
„Da stimme ich dir zu. Was mich zum letzen Punkt bringt“, sagte Reese beklommen.
„Ich höre.“
„Der Grund, wieso Cedrics Mum und sein Bruder getötet wurden, ist der, dass das Syndikat in Jersey dazu gebracht wurde, zu denken, Cedrics Vater hätte seiner Ehefrau eine Liste mit allen Namen der Mitglieder der Organisation gegeben. Sie waren auf der Suche danach.“
„Fuck! Die beiden wurden hingerichtet, um an diese Liste zu kommen!“
„Exakt. Und Cedric hat keine Ahnung von einer Liste. Seine Mum hat ihm nie etwas in dieser Richtung gesagt. Cedric weiß nicht einmal, ob sie überhaupt existiert.“
„Die Mutter hat Cedric nie etwas gegeben? Vielleicht ein Tagebuch? Einen Brief? Irgendetwas?“
„So viel ich bis jetzt weiß, nein, Keith. Das ist alles, was ich bis jetzt habe.“
„Okay, es ist zumindest ein Anfang. Aber du hast noch etwas anderes.“
„Was denn?“
„Du bist unrettbar verliebt in Cedric Donnelly.“
Die Worte durchbohrten sein Herz. Die Tatsache, dass jemand anderer sie aussprach, machte es realer. Bedeutungsvoller.
„Bingo, Keith. Das bin ich. Melde dich sofort, wenn du Infos hast.“
„Versteht sich von selbst. Pass auf dich auf, Reese.“
„Ich habe Schutz“, versicherte Reese ihm und warf einen Blick hinüber zum Deckfach, wo er sein Harpunen-Set aufbewahrte. Auf der anderen Seite lag sein Messer-Set für das Ausweiden, Zerteilen und Filetieren der Fische, die er manchmal angelte.
„Meine Smith&Wesson hab ich auch dabei.“
„Trage die, wenn du von Bord gehst und lass Cedric nicht aus den Augen.“
„Das musst du mir nicht extra sagen. Danke Keith“, beendete Reese das Gespräch.
Er lehnte sich an die Reling, als die Sonne am Horizont auftauchte. Für die atemberaubende Aussicht hatte er allerdings keinen Blick. Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe und er überlegte fieberhaft, wie er Cedric helfen könnte. Emotional. Freundschaftlich. Reese war überzeugt, dass sein Geliebter die Ermordung seiner Familie nie wirklich verarbeitet hatte. Dazu das Leben auf der Flucht ...
Bestürzt kam ihm die Frage in den Sinn, wer Cedric
überhaupt in seinem Leben geholfen hatte. Nicht viele Menschen, davon war er überzeugt. Von den meisten war er im Stich gelassen worden. Der Vater ein Schwerkrimineller, die Mutter weitestgehend hilflos und dann das eklatante Versagen des Staates.
Reese würde derjenige sein, der Cedric aus dem Schlamassel half, den andere verursacht hatten.
„Weil du mir wichtig bist, Süßer“, murmelte er halblaut.
Nur das Plätschern des Wassers gegen die Bordwand antwortete ihm. Seufzend ging Reese zu seinem Sessel und plumpste hinein. Er vergaß, dass er den Kurs für Manzanillo hatte berechnen wollen. Seine Gedanken kreisten nur um den Mann, den er liebte.
„Ich will, dass du frei bist. Nicht mehr im Schatten leben musst. Einsam und allein auf der Flucht. Wenn deine Verfolger ausgeschaltet sind, bist du frei in deinen Entscheidungen und ich hoffe, du entscheidest dich dann für ein Leben mit mir. Und es ist mir egal, was es mich kosten wird.“