13. Kapitel
Keith Johnson stürmte das Büro der mexikanischen Küstenwache am nächsten Nachmittag. Cedric hielt in seinem rastlosen Auf- und Abgehen inne, um den Auftritt von Reese‘ Sicherheitschef nicht zu verpassen. Noch massiger als sein Freund und fast einen halben Kopf größer wirkte der Mann wie ein nordischer Gott, der eine permanente grimmige Miene zeigte.
Keith schob seine Sonnenbrille hoch auf seinen rasierten Schädel und blieb sich treu, als stahlgraue Augen sich durchdringend auf ihn richteten. Cedric musste sich zusammenreißen, nicht zusammenzuzucken oder gar zurückzuweichen.
Reese wurde ebenso taxiert. Muskeln in dem kantigen Kiefer zuckten, als Keith auf sie zumarschierte. Seine
breiten Schultern sperrten die mexikanischen Gesichter hinter der Glasscheibe effektiv aus.
„Bin so schnell wie möglich hergekommen“, teilte der Mann ihnen mit und schüttelte Reese die Hand.
„Ich hab in Nuevo Laredo alles stehen und liegen gelassen und einen Piloten gesucht, der mich auf direktem Weg hierherfliegt. Hat nicht ganz geklappt, den Rest musste ich mit einem Leihwagen fahren. Die Straßen sind eine Katastrophe.“
„Ich bin froh, dass du jetzt hier bist“, antwortete Reese und nickte in Richtung des Büros des Chefs der Küstenwache, wo dieser Keiths Auftreten argwöhnisch beäugte.
„Die haben uns gegrillt, bis wir gar waren.“
„Und das mehrmals“, fügte Cedric hinzu und verschränkte seine Arme.
Die unerbittlichen Befragungen der Federales und der Küstenwache zuvor hatten ihn erschöpft und frustriert. Zudem war seine Angst exponentiell seit gestern Abend gestiegen. Der Tod von Cortéz – seine reine Anwesenheit – auf Reese‘ Jacht implizierte Cedric, dieser musste seine Mum gekannt haben. Aber wie gut? Und warum arbeitete er ausgerechnet auf einer Baustelle der Davis-Corporation? War das Zufall? Cedric schauderte in dem Wissen, dass sein Instinkt recht hatte.
‚Nie im Leben.‘
Cedric entfernte sich von den beiden anderen und ging
hinüber zu dem großen Fenster, das einen grandiosen Blick auf den Hafen freigab. Zumindest hatte die Polizei sie nicht in einen fensterlosen Verhörraum gebracht. Die Sonne brach sich auf den Wellen des Ozeans und blendete ihn. Cedric schloss die Lider. Dahinter entspann sich eine Szene, die er bereits die ganze Nacht und den Morgen über wieder und wieder abgespielt hatte. Eine Szene, die er nicht einordnen konnte. Ein runder Swimmingpool mit azurblauen Kacheln. Der Boden mit einer riesigen Blume bemalt, purpurfarben. Ein sonniger Tag. Sein Bruder lachte. Und jemand rief: „Manuel! Manuel! Zeig Nicky, wie man schwebt.“
Cedric zuckte zusammen. War das die Stimme seiner Mutter, an die er sich erinnerte? Er biss sich auf die Unterlippe und öffnete die Augen. Noch immer stand er vor dem Fenster im Büro der mexikanischen Polizei. Fantasierte er? Sein Instinkt sagte ihm, dass es die Stimme seiner Mum war, die er gehört hatte. Aber wenn sie es gewesen war, wieso erinnerte er sich nicht an sie und Cortéz?
„Haben sie eure Angreifer schon identifiziert?“
Keith lehnte sich lässig gegen den Tisch, an dem Reese und Cedric zuvor stundenlang ausharren und tausende Fragen beantworten mussten.
„Einen, anhand von seinen Fingerabdrücken“, informierte Reese seinen Sicherheitschef.
„John Miller. Geboren in New Jersey und wegen Schutzgelderpressung in New York verurteilt. Saß sieben von zwanzig Jahren in Rikers ab. Wegen guter Führung
entlassen.“
Keith schnaubte verächtlich.
„Sagt dir der Name etwas, Cedric?“
„Gar nichts.“
Er zuckte mit den Achseln.
„Ich kann mich nicht mal an Cortéz erinnern und der kannte mich und meine Familie definitiv.“
„Das muss nichts heißen. Du warst ein Kind. Wenn es unbedeutend war, gibt es keinen Grund, sich daran zu erinnern.“
Der Sicherheitschef zückte ein Notizbuch mit Kugelschreiber und schrieb etwas hinein.
„Noch irgendwelche Erkenntnisse?“
„Nummer zwei und drei sind anscheinend nicht im System. Und der Vierte ist Cortéz, der Cedric kannte.“
Reese sah ihn an und Cedric versuchte, aus dem aufmunternden Blick Kraft zu ziehen.
„Den hab ich letzte Nacht selbst schon überprüft. Er hat keine Strafakte.“
„Dennoch tauchte er in der Gesellschaft von drei Bastarden auf meinem Boot auf, die uns entweder entführen oder ermorden wollten. Das klingt für mich nicht nach unschuldig. Vielleicht ist Cortéz ein Alias.“
„Höchstwahrscheinlich sogar. Okay, das ist, was ich von ihm habe.“
Keith fixierte Cedric bei seinen nächsten Worten.
„Er stammte aus Nevada und lebte immer in Vegas, nur für Jobs ist er durch den ganzen Südwesten gereist. Er war ein hervorragender Klempner und Gasinstallateur. Meine Leute haben einige Kumpel von ihm befragt, mit denen er damals auf der Baustelle neben dem Casino gearbeitet hat, in dem deine Mum angestellt war. Zwei konnten sich daran erinnern, dass er eine süße Blondine aus dem Casino gedatet hat, die dort als Croupier beschäftigt war. Auffallende, strahlend grünbraune Augen, Hammerfigur. Eine Witwe mit zwei Jungs.“
Cedric schüttelte den Kopf. Das passte alles nicht zusammen.
„Wenn Cortéz meine Mum kannte, wieso erinnere ich mich nicht?“
Er drehte sich zurück zum Fenster und starrte aufs Meer hinaus. Versuchte, sich die Szene von vorhin nochmal vorzustellen. Den Pool. Die Stimme seiner Mutter, die Manuel rief. Spielte sein Gehirn ihm einen Streich? War es ein verzweifelter Versuch, etwas Sinn in eine Situation zu bringen, die komplett aus dem Ruder gelaufen war? Vier Tote, einen davon hatte er auf dem Gewissen. Es nagte an ihm, obwohl Cedric rational wusste, er hatte keine andere Wahl gehabt.
„Was mich brennend interessiert“, meldete sich Reese
zu Wort, „ist, wie und warum Cortéz einen Job auf unserer Baustelle bekam. Unser Vorarbeiter erzählte mir gestern, dass er ihn hier in Manzanillo angeheuert hat, nachdem wir einen Jobaufruf gestartet hatten. Aber ich finde es zu auffällig, dass Cortéz hier einen Job bekommen und danach Cedric ‚zufällig‘ bei mir vorfinden konnte. Man wusste, dass ich zur Baustelle wollte. Von Cedric wusste niemand.“
„Und es ist noch haarsträubender, anzunehmen, dass er sich absichtlich hier beworben hat, in der Annahme hier auf Cedric zu treffen.“
Cedric nickte.
„Reese und ich hatten vor dem Vorfall in der Tiefgarage keinerlei privaten Kontakt.“
„Es stellt sich auch die Frage, wusste er, dass Cedric für mich arbeitet? Und wenn, woher?“, fragte Reese Keith.
Der schürzte die Lippen und antwortete nicht sofort. Als er es tat, waren seine Worte erschreckend.
„Da gibt es für mich nur eine Möglichkeit: Es sind viele Leute, die zusammenarbeiten, um dich zu finden, Cedric. Die dich unter allen Umständen haben wollen.“
„Aber das ist wahnsinnig teuer und aufwändig“, Cedric unterdrückte krampfhaft sein Zittern.
Er hatte immer gewusst, wie gefährlich die Organisation sein musste, die hinter ihm her war. Die Ermordung seiner Familie hatte das grausam bewiesen.
„Nicht, wenn du etwas unbedingt willst“, antwortete Keith und sein Blick wurde weicher.
„Und nicht, wenn es egal ist, wie viele Leichen sich auf dem Weg dahin stapeln“, fuhr er fort.
„Aber diese Typen haben sich diesmal mit den falschen Leuten angelegt, Cedric.“
„Hast du sonst noch etwas über Cortéz herausgefunden? Wann zum Beispiel ist er nach Mexiko gekommen? Für wen hat er alles gearbeitet?“
„Kam 2012 nach Manzanillo. Nahm einen Job in einer Immobilienentwicklungsfirma namens Playa Construction als Klempner und Installateur an. Inhaber ist ein Amerikaner. Saubere Akte. Ein sehr wohlhabender Mann.“
Cedric war bei der Erwähnung der Playa Construction erstarrt. Ein Bild kam ihm in den Sinn. Das Meer, umrundet mit kreisförmigen Sonnenstrahlen.
„Der Besitzer von Playa? Wie ist sein Name?“
„Walsh“, antwortete Keith.
Cedrics Verstand versuchte, das Puzzle in seinem Kopf zusammenzusetzen.
„Grant Walsh? Groß, schlank, athletisch wie ein Läufer, um die fünfzig etwa?“
„Nach dem Foto auf seiner Webseite zu urteilen, kommt das hin.“
Reese trat vor ihn und fasste nach seinen Händen, drückte sie beruhigend. Cedric hatte überhaupt nicht gemerkt, wie extrem sie zitterten. Sein Puls raste.
„Du kennst diesen Mann?“, fragte sein Geliebter sanft.
Reese‘ ruhige Art gab ihm Halt und half ihm, sich zu konzentrieren.
„Grant Walsh“, antwortete Cedric.
Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme wackelte, angesichts der Erinnerung, die nun in allen Details vor ihm aufpoppte. Ein wundervoller Nachmittag in einem Haus, als er vierzehn gewesen war. Eine riesige Hacienda auf einem Hügel.
Die Erinnerung war plötzlich so lebendig, dass Cedric glaubte, die brennende Sonne wieder auf seiner Haut zu spüren und das warme Wasser des Pools, in dem er mit seiner Mum und seinem Bruder Alex geschwommen war. Und anderen Leuten, die jedoch schemenhaft blieben, egal, wie sehr er sich anstrengte.
„Grant Walsh“, wiederholte er den Namen, um zu testen, wie er sich auf seiner Zunge anfühlte, die Art, wie er in seinen Ohren klang und sich von dort einen Weg in sein Herz bahnte.
An einen Ort, den Cedric verschließen sollte. Nicht hinsehen. Nicht erinnern.
„Erwähne niemals seinen Namen. Nicht unter uns. Nicht bei anderen. Niemals“, hatte seine Mutter damals auf dem Rückweg über die Grenze zu ihm gesagt.
Cedric presste seine Lider zusammen und sah diese Stunden noch einmal vor sich. Ein blendendes Spektrum an Fröhlichkeit und Glück. Er erinnerte sich an den Namen und an die Details, die jetzt in ihn flossen, wie eine Infusion reiner Freude ... und Angst.
„Grant Walsh. Meine Mutter ist ein einziges Mal mit uns zu ihm gefahren. Ein Tag in Mexiko in seinem Haus, als ich vierzehn war. Als wir wieder fuhren, ermahnte sie mich und Alex, dass wir niemals jemandem erzählen dürften, wo wir an diesem Tag waren. Niemandem seinen Namen zu sagen oder einen der anderen, die an dem Tag anwesend waren.“
„Um Himmels willen, Cedric.“
Reese sah ihn erschüttert an.
„Kannst du dich auch an die anderen erinnern? Oder warum deine Mum euch dörthin brachte?“
„Ich weiß es nicht“, Cedric starrte Reese hilflos an, ihre Hände miteinander verschlungen.
Das erdete ihn und er versuchte, die fließenden Erinnerungen an den Tag in Einklang zu bringen. Ohne Erfolg. Es war eine Flut aus Glückseligkeit und Verzweiflung.
„Nur ein Besuch? Um ihn um Hilfe zu bitten? Ich weiß es nicht.“
Keith kam näher.
„Deine Mutter muss ihn gut gekannt haben. Einfach
mal so über die mexikanische Grenze in eurer Situation ...“
„Oh ja“, bestätigte Cedric vollkommen überzeugt.
Er hatte keine Ahnung, woher diese Erkenntnis kam. Ewig war diese Erinnerung verschüttet geblieben, warum auch immer.
„Sie kannte ihn bereits bevor wir in den Zeugenschutz kamen.“
Der Sicherheitschef fluchte unflätig.
Reese schüttelte den Kopf und nahm ihn in den Arm.
„Falls das stimmt und deine Mutter ihn von früher kannte, dann hätte keiner von euch dort sein dürfen!“, seine Stimme war rau voller unterdrückter Emotionen.
„Stimmt“, antwortete Cedric mit einer Lässigkeit, die ihn selbst überraschte.
„Deine Mutter hätte euch niemals dort hinbringen dürfen“, Keith klang fassungslos.
„Aber sie hat absichtlich die Regeln gebrochen“, sinnierte Reese und sah ihn liebevoll an.
„Das muss einen Grund gehabt haben. Jahrelang hatte sie ihre Kinder und sich beschützt und alles getan, um unter dem Radar zu bleiben? Wieso diese Regelverletzung, indem sie Leute aus ihrem alten Leben treffen wollte?“
Cedric war dankbar, dass Reese seine Mutter nicht
verurteilte, wie Keith es zu tun schien. Vielleicht bildete er sich das aber auch ein. Keith Johnson arbeitete in erster Linie für den CEO Reese Davis und dessen Firma. Von dieser galt es Schaden abzuwenden. Verdammt, und wieder steckte er in seinem alten Dilemma fest. Niemals hätte er Reese in seinen Schlamassel mit hineinziehen dürfen. Man musste sich nur mal ansehen, wo sie das hingeführt hatte. Unter Beobachtung der Federales ... vier Tote auf dem Gewissen ... zum Teufel!
Was würde passieren, wenn Reese entschied, es war ihm zu viel Stress? Hatte er dann noch die Kraft, alleine weiterzumachen? Irgendwo ein neues Leben zu beginnen? Ohne den Mann, den er liebte?
Unwillig schob Cedric seinen ausufernden Visionen einen Riegel vor. Im Augenblick stand Reese felsenfest an seiner Seite und es sah nicht so aus, als würde sich das in naher Zukunft ändern. Wie war das mit dem Vertrauen? Er hatte sich doch geschworen, es zu versuchen.
„Ich kann es leider nicht sagen. Ich erinnere mich an fast jedes Detail der Hacienda. An das Logo mit Meer und Sonnenstrahlen, welches über dem Eingang prangte. An den Pool mit Bougainvillea und an den Weg zum Badehaus, der mit Rosen und Orchideen gesäumt war, in jeder Größe und Farbe, die man sich nur vorstellen konnte.“
Reese fixierte Keith mit einem harten Blick.
„Was weißt du über den Typen?“
„Wie schon gesagt, auf den ersten Blick sieht er sauber aus. Aber nun habe ich unzählige Gründe, tiefer zu graben.“
„Wir müssen zu ihm fahren“, erklärte Cedric den zwei Männern.
Sein Geliebter sah ihn eindringlich an.
„Hast du irgendeinen Grund, anzunehmen, er könnte in die Attacken auf dich involviert sein?“
„Ich weiß nicht, wer der Mann in der Tiefgarage war oder die Männer auf der Jacht, mal abgesehen von Cortéz. Was ich jedoch weiß, ist, wir sind nie verreist. Niemals. Nur dieses eine Mal. Meine Mum verdiente genug, wir hätten in den Ferien wer weiß wohin fahren können. Sind wir aber nie. Und dann fährt sie mit uns für einen Tagesausflug über die Grenze in Walshs Haus und bald darauf werden meine Mum und mein Bruder ermordet. Das ist für mich Grund genug, ihm einen Besuch abzustatten.“
Cedric ergriff Reese‘ Hand und sah ihn eindringlich an.
„Und ich nehme an, von jetzt an habe ich zwei Begleiter?“
„Worauf du wetten kannst!“, antwortete Reese rau und zog ihn schwungvoll in seine Arme.
Ungeachtet der unzähligen Augen auf ihnen - und Keiths verlegenem Hüsteln - küssten sie sich leidenschaftlich. Cedrics Herz öffnete sich weit und er ließ zu, dass die Liebe für diesen Mann dort voll erblühen
konnte. Sie waren noch nicht am Ende des Weges angekommen, es lagen weiter unbekannte Gefahren vor ihnen. Aber er war bereit für sein Glück zu kämpfen. Für ihr gemeinsames Glück!