Bei Lady Jessica und Arrakis zahlte sich das System der Bene Gesserit, durch die Missionaria Protectiva Legenden zu implantieren, voll aus. Es wurde schon oft darauf hingewiesen, wie klug es war, im bekannten Universum ein Raster aus Prophezeiungen zum Schutz von Bene-Gesserit-Personal auszusäen, aber nie zuvor konnte man eine Conditio ut extremis mit einer idealeren Verbindung aus Person und Vorbereitung beobachten. Die Prophezeiungen wurden auf Arrakis so gut aufgenommen, dass man sogar einige Begrifflichkeiten weiterführte (darunter Ehrwürdige Mutter, Canto und Respondu sowie den Großteil der Panoplia Propheticus der Schari-a). Und inzwischen ist allgemein anerkannt, dass die latenten Fähigkeiten der Lady Jessica stark unterschätzt wurden.

– Aus »Analyse: Die Arrakeen-Krise« von Prinzessin Irulan (privater Umlauf: B. G. Aktenzeichen AR-81088587)

Überall um Lady Jessica herum – in allen Ecken und Nischen des großen Saals von Arrakeen – stapelte sich die verpackte Fracht ihres Lebens: Kisten, Truhen, Kartons, Schachteln, manche schon teilweise ausgepackt. Sie hörte, wie die Schauerleute der Gildenfähre im Eingangsbereich eine weitere Ladung abstellten.

Jessica stand in der Mitte des Saals. Sie drehte sich langsam im Kreis, ließ ihren Blick nach oben und an den Wänden entlang schweifen, über im Schatten liegende Reliefs, dunkle Winkel und tief in die Wände eingelassene Fenster. Dieser gewaltige Anachronismus von einem Raum erinnerte sie an den Saal der Schwestern in der Bene-Gesserit-Schule. Doch dort hatte er ein Gefühl von Wärme vermittelt. Hier gab es nur nackten Stein.

Irgendein Architekt hat für diese befestigten Mauern und dunklen Wandteppiche weit in die Vergangenheit zurückgegriffen , dachte sie. Zwei Stockwerke über ihr war die Gewölbedecke, deren mächtige Trägerbalken ganz sicher zu monströsen Kosten nach Arrakis geliefert worden waren – auf keinem Planeten in diesem System gab es Bäume, aus denen man derartige Balken zimmern konnte, es sei denn, es handelte sich um Holzimitat. Doch diesen Eindruck hatte sie nicht.

Dies war in den Tagen des Alten Imperiums der Regierungssitz gewesen; in jener Zeit hatte man sich noch nicht so sehr um Kostenfragen geschert. Die Harkonnen mit ihrer Mega-Metropole Carthag waren erst später gekommen – eine billige, polierte Stadt, die etwa zweihundert Kilometer weiter im Nordosten lag, jenseits des Versehrten Landes. Es war klug von Leto gewesen, seinen Regierungssitz hierher zurückzuverlegen. Der Name Arrakeen hatte einen guten Klang, ihm haftete etwas Traditionsreiches an. Außerdem war es eine kleinere Stadt, die sich leichter sterilisieren und verteidigen ließ.

Wieder war das Poltern von Kisten zu hören, die an der Tür abgeladen wurden. Jessica seufzte.

An einem Karton zu ihrer Rechten lehnte ein Gemälde, das den Vater des Herzogs zeigte. Packband hing daran wie eine zerfranste Girlande, und ein Stück des Bands hielt Jessica mit der linken Hand umfasst. Neben dem Gemälde lag ein schwarzer ausgestopfter Stierkopf wie eine dunkle Insel in einem Meer von zerknülltem Papier. Die glänzende Schnauze des Stiers war zur Decke gerichtet, als wollte das Tier jeden Moment eine Herausforderung in den Saal brüllen.

Jessica fragte sich, was sie dazu gebracht hatte, diese beide Dinge als Erstes auszupacken: den Stierkopf und das Gemälde. Sie wusste, dass darin etwas Symbolisches lag. Seit jenem Tag, an dem sie die Beauftragten des Herzogs aus der Schule abgeholt hatten, hatte sie sich nicht mehr so verängstigt und unsicher gefühlt.

Der Kopf und das Bild.

Sie verstärkten das Gefühl der Verwirrung. Jessica zitterte. Sie warf einen Blick zu den Schießschartenfenstern weit über ihr. Es war früher Nachmittag, aber in diesen Breitengraden wirkte der Himmel schwarz und kalt – so viel dunkler als das warme Blau auf Caladan. Das Heimweh versetzte ihr einen Stich.

Caladan  – so weit weg.

»Da wären wir also!«

Die Stimme von Herzog Leto.

Jessica wirbelte herum und sah Leto durch die Bogentür, die zum Speisesaal führte, hereinkommen. Seine schwarze Arbeitsuniform mit dem roten Falkenwappen auf der Brust war staubig und zerknittert.

»Ich dachte schon, dass du dich vielleicht an diesem schaurigen Ort verlaufen hast«, sagte er.

»Es ist ein kalter Ort«, sagte sie und musterte seine hochgewachsene Gestalt, die dunkle Haut, die sie an Olivenhaine und eine goldene Sonne auf blauen Wassern erinnerte. Das Grau seiner Augen hatte etwas von Holzrauch, doch sein Gesicht war das eines Raubtiers: schmal, voller scharfer Kanten und Flächen. Plötzlich schnürte ihr die Angst vor ihm die Kehle zu. Er war zu einem unerbittlichen Menschen geworden, seit er beschlossen hatte, sich dem Befehl des Imperators zu beugen. »Die ganze Stadt fühlt sich kalt an«, sagte sie.

»Es ist eine schmuddelige, staubige kleine Garnisonsstadt«, erwiderte er. »Aber das werden wir ändern.« Er blickte sich im Saal um. »Dies hier sind öffentliche Bereiche, für Staatsangelegenheiten. Ich habe gerade einen Blick in einige der Familiengemächer im Südflügel geworfen. Sie sind viel annehmlicher.« Er trat näher an sie heran, berührte ihren Arm, bewunderte ihre würdevolle Haltung. Einmal mehr fragte er sich, von wem sie wohl abstammte – vielleicht von einem Renegatenhaus? Von einer Familie mit geschwärztem Namen? Sie sah königlicher aus als die Abkömmlinge des Imperators.

Unter seinem eindringlichen Blick wandte sich Jessica halb ab und zeigte dabei ihr Profil, und Leto wurde bewusst, dass es keine klar benennbare Einzelheit gab, die ihre Schönheit auf den Punkt brachte. Über dem ovalen Gesicht trug sie eine Kappe aus bronzeglänzendem Haar. Ihre Augen standen weit auseinander und waren so grün und klar wie der Morgenhimmel auf Caladan. Ihre Nase war klein, der Mund breit und großmütig. Sie war hochgewachsen und hatte eine schöne, aber schmale Figur; ihre Rundungen fügten sich in ihren schlanken Körperbau ein. Er erinnerte sich daran, dass die Laienschwestern an der Schule sie als dürr bezeichnet hatten, das hatten ihm seine Kaufagenten gesagt. Aber diese Beschreibung vereinfachte die Dinge zu sehr. Sie hatte eine herrschaftliche Schönheit in das Geschlecht der Atreides gebracht, und er war froh, dass Paul nach ihr schlug.

»Wo ist Paul?«, fragte er.

»Yueh unterrichtet ihn irgendwo im Haus.«

»Vermutlich im Südflügel. Ich dachte schon, dass ich Yuehs Stimme gehört habe, aber ich hatte keine Zeit nachzusehen.« Leto hielt inne und sah sie an. »Ich bin nur hergekommen, um den Schlüssel von Schloss Caladan im Speisesaal aufzuhängen.«

Jessica schnappte nach Luft und unterdrückte den Impuls, die Hand nach ihm auszustrecken. Den Schlüssel aufhängen – das hatte etwas Endgültiges. Doch hier war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um Trost zu suchen. »Ich habe unser Banner über dem Gebäude gesehen, als wir eingetroffen sind«, sagte sie.

Er warf einen Blick auf das Gemälde seines Vaters. »Wo wolltest du das aufhängen?«

»Irgendwo hier drin.«

»Nein.« Er sagte das mit einer ausdrucklosen Bestimmtheit, die ihr verriet, dass sie ihn womöglich mit einem ihrer Tricks umstimmen konnte, dass offener Widerspruch jedoch sinnlos war. Trotzdem musste sie es versuchen, selbst wenn es nur eine Geste war, mit der sie sich daran erinnerte, dass sie ihre Fähigkeiten nicht gegen ihn einsetzen würde.

»Mylord«, sagte sie, »würdest du nur …«

Er schüttelte den Kopf. »Die Antwort bleibt nein. In den meisten Dingen verwöhne ich dich aufs Schändlichste, aber nicht in dieser Angelegenheit. Ich komme gerade aus dem Speisesaal, wo es …«

»Mylord! Bitte.«

»Wir müssen uns zwischen deinem Appetit und der Würde meiner Vorfahren entscheiden, meine Liebe. Die Gemälde kommen in den Speisesaal.«

Sie seufzte. »Ja, Mylord.«

»Es steht dir natürlich frei, in deinen Gemächern zu speisen. Nur bei offiziellen Anlässen erwarte ich, dass du deinen angestammten Platz einnimmst.«

»Danke, Mylord.«

»Und sei bitte nicht so kühl und förmlich. Sei froh, dass ich dich nie geheiratet habe, meine Liebe. Dann wäre es deine Pflicht , jede Mahlzeit mit mir einzunehmen.«

Jessica wahrte ihre unbewegte Miene und nickte.

»Hawat hat bereits unseren eigenen Giftschnüffler über dem Esstisch angebracht«, sagte er. »In deinem Zimmer gibt es ein tragbares Gerät.«

»Du hast diese … Meinungsverschiedenheit vorhergesehen«, sagte sie.

»Meine Liebe, ich denke auch an deine Bequemlichkeit. Ich habe Diener eingestellt. Sie sind von hier, aber Hawat hat sie überprüft. Sie sind alle Fremen. Mit ihnen werden wir auskommen, bis unsere eigenen Leute von ihren anderen Pflichten entbunden sind.«

»Können wir uns denn mit irgendjemandem von hier wirklich sicher fühlen?«

»Mit jedem, der die Harkonnen hasst. Vielleicht willst du die oberste Haushälterin ja sogar übernehmen – Shadout Mapes.«

»Shadout?«, sagte Jessica. »Ein Fremen-Titel?«

»Man hat mir gesagt, dass es ›Brunnen-Schöpfer‹ heißt, was hier einen bedeutsamen Beiklang hat. Sie wird dir vielleicht nicht wie eine typische Dienstbotin vorkommen, aber Hawat spricht auf Grundlage von Duncans Bericht in höchsten Tönen von ihr. Sie sind beide überzeugt, dass sie uns zu Diensten sein möchte – dass sie insbesondere dir zu Diensten sein möchte.«

»Mir?«

»Die Fremen haben herausgefunden, dass du eine Bene Gesserit bist. Und hier gibt es Legenden über die Bene Gesserit.«

Die Missionaria Protectiva , dachte Jessica. Keine Welt entgeht ihr. »Heißt das, dass Duncan Erfolg hatte?«, fragte sie. »Werden sich die Fremen mit uns verbünden?«

»Das lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen«, erwiderte er. »Duncan glaubt, dass sie uns für eine Weile beobachten wollen. Allerdings haben sie uns versprochen, für einen gewissen Zeitraum, in dem Waffenstillstand herrscht, nicht mehr unsere weiter draußen liegenden Dörfer zu überfallen. Das ist ein bedeutender Fortschritt. Laut Hawat waren die Fremen den Harkonnen ein echter Dorn im Auge. Offenbar haben sie sorgfältig geheim gehalten, wie viel Schaden die Wüstenbewohner angerichtet haben – es wäre nicht besonders hilfreich für die Harkonnen gewesen, wenn der Imperator von der Ineffizienz ihrer Truppen erfahren hätte.«

»Eine Fremen-Haushälterin«, sinnierte Jessica. »Dann hat sie wohl auch diese durch und durch blauen Augen.«

»Lass dich nicht vom Erscheinungsbild dieser Leute täuschen«, sagte Leto. »Sie sind von einer tiefen Kraft und gesunden Vitalität erfüllt. Ich glaube, sie haben alles, was wir brauchen.«

»Es ist ein gefährliches Spiel.«

»Lass uns nicht wieder damit anfangen.«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Jedenfalls spielen wir mit vollem Einsatz, daran besteht kein Zweifel.« Rasch führte sie eine Gelassenheitsübung durch – zwei tiefe Atemzüge, ein ritueller Gedanke – und sagte dann: »Wenn ich die Zimmer zuweise, soll ich dann ein bestimmtes für dich reservieren?«

»Eines Tages musst du mir beibringen, wie du das machst«, sagte er. »Wie du deine Sorgen zur Seite schiebst und dich praktischen Dingen zuwendest. Das muss ein Bene-Gesserit-Trick sein.«

»Es ist ein Frauentrick«, sagte sie.

Er lächelte. »Tja, die Zuweisung der Zimmer … Achte darauf, dass es einen großen Arbeitsbereich neben meinem Schlafzimmer gibt. Ich werde hier mehr Papierkram zu erledigen haben als auf Caladan. Und natürlich einen Wachraum. Das sollte genügen. Mach dir keine Gedanken über die Sicherheit. Hawats Leute haben alles eingehend überprüft.«

»Davon gehe ich aus.«

Leto warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Außerdem könntest du dafür sorgen, dass unsere Uhren auf die Ortszeit von Arrakeen eingestellt werden. Ich habe einen Techniker beauftragt, sich darum zu kümmern. Er wird in Kürze hier sein.« Er schob ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich muss wieder zurück zum Landefeld. Die zweite Fähre mit meinem Reservestab kann jede Minute eintreffen.«

»Kann Hawat sie nicht empfangen? Du siehst so müde aus.«

»Der gute Thufir ist sogar noch beschäftigter als ich. Auf diesem Planeten wimmelt es von Harkonnen-Intrigen wie von Ungeziefer. Außerdem muss ich versuchen, einige der ausgebildeten Gewürzjäger davon abzubringen, uns zu verlassen. Das dürften sie nämlich bei einem Wechsel des Lehnsherrn – und dieser Planetologe, den der Imperator und der Landsraad als Ablösungsrichter eingesetzt haben, ist nicht bestechlich. Wenn sie das möchten, lässt er sie ihren Abschied nehmen. Etwa achthundert gut ausgebildete Männer planen, mit der Gewürzfähre abzureisen, und das Frachtschiff der Gilde steht schon bereit.«

»Mylord …« Sie verstummte, zögerte.

»Ja?«

Er wird sich nicht von dem Versuch abbringen lassen, diesen Planeten für uns sicher zu machen , dachte sie. Und meine Tricks sind bei ihm nutzlos. »Um welche Zeit soll das Abendessen aufgetragen werden?«, fragte sie.

Das war es nicht, was sie sagen wollte , dachte er. Ah, meine Jessica, wären wir doch nur anderswo, weit weg von diesem schrecklichen Ort  – nur wir beide, allein, ohne Sorgen. »Ich esse in der Offiziersmesse am Landefeld«, sagte er. »Rechne erst sehr spät mit mir. Und … ich schicke einen Schutzwagen, um Paul abzuholen. Ich will, dass er an unserer Strategiesitzung teilnimmt.«

Leto räusperte sich, als wollte er noch etwas sagen, doch dann drehte er sich unvermittelt um und verließ mit großen Schritten den Saal. An der Eingangstür wurden, den Geräuschen nach zu urteilen, gerade weitere Kisten abgeladen, und noch einmal hörte sie seine Stimme von dort, gebieterisch und verächtlich, wie sie Bediensteten gegenüber immer klang, wenn er es eilig hatte: »Die Lady Jessica ist im großen Saal. Begib dich sofort zu ihr.«

Die Eingangstür knallte zu.

Jessica wandte sich dem Gemälde von Letos Vater zu. Der berühmte Künstler Albe hatte es gemalt, als der alte Herzog in den mittleren Jahren gewesen war. Es zeigte ihn in einem Matadorskostüm, mit einem magentafarbenen Umhang über dem linken Arm. Sein Gesicht sah jung aus, kaum älter als das von Leto jetzt, und es hatte die gleichen Falkenzüge, den gleichen grauen Blick. Sie ballte die Fäuste und starrte das Bild finster an. »Sei verdammt! Sei verdammt! Sei verdammt!«, flüsterte sie.

»Wie lauten Ihre Befehle, Hochgeboren?«

Eine Frauenstimme, dünn und faserig.

Jessica drehte sich um und blickte auf eine knorrige, grauhaarige Frau hinab, die ein unförmiges Sackkleid im Braun der Leibeigenen trug. Die Frau sah so runzlig und ausgetrocknet aus wie die Leute in dem Menschenauflauf, der sie am Morgen auf dem Weg vom Landefeld hierher empfangen hatte. Jessica fand, dass alle Einheimischen, die sie bisher gesehen hatte, verschrumpelt und unterernährt wirkten. Und doch hatte Leto behauptet, dass sie stark und voller Lebenskraft seien.

Und da waren die Augen – dieser Überzug aus tiefdunklem Blau ohne Weiß – er hatte etwas Verstohlenes, Geheimnisvolles. Jessica musste sich Mühe geben, sie nicht anzustarren.

Die Frau nickte steif und sagte: »Man nennt mich Shadout Mapes, Hochgeboren. Wie lauten Ihre Befehle?«

»Du darfst mich als ›Mylady‹ anreden«, sagte Jessica. »Ich bin nicht von edler Geburt. Ich bin als Konkubine an Herzog Leto gebunden.«

Erneut dieses seltsame Nicken. Die Frau sah Jessica mit einem listigen, fragenden Blick an. »Dann gibt es eine Gattin?«

»Nein, die gibt es nicht, und es gab auch keine. Ich bin die einzige … Gefährtin des Herzogs, die Mutter seines Erben.« Noch während sie sprach, musste Jessica innerlich über den Stolz in ihren Worten lachen. Was hatte der Heilige Augustinus noch einmal gesagt? , dachte sie. »Der Geist gebietet dem Körper, und er gehorcht zugleich. Der Geist gebietet sich selbst, und er findet Widerstand.« Ja, in letzter Zeit finde ich immer mehr Widerstand. Ich könnte selbst ein wenig Ruhe und Zurückgezogenheit brauchen.

Ein seltsamer Schrei ertönte von der Straße. Ein »Suu-Suu-Suuk, Suu-Suu-Suuk«, gefolgt von »Ikhut-ech, Ikhut-ech«. Und dann wieder »Suu-Suu-Suuk«.

»Was ist das?«, fragte Jessica. »Ich habe es schon gehört, als wir heute Morgen durch die Straßen gefahren sind.«

»Nur ein Wasserverkäufer, Mylady. Für die müssen Sie sich nicht interessieren – die Zisterne hier fasst fünfzigtausend Liter und ist immer gut gefüllt.« Mapes blickte an ihrem Kleid herab. »Sehen Sie, Mylady, dass ich nicht mal meinen Destillanzug tragen muss?« Sie lachte gackernd. »Dabei bin ich noch gar nicht tot.«

Jessica zögerte. Sie wollte diese Fremen-Frau befragen, weil sie Datenmaterial brauchte, von dem sie sich leiten lassen konnte. Aber Ordnung in das Durcheinander des Schlosses zu bringen war dringlicher. Und doch fand sie den Gedanken beunruhigend, dass Wasser hier ein wichtiger Indikator für Wohlstand war. »Der Herzog hat mir von deinem Titel erzählt … Shadout«, sagte sie. »Ich habe das Wort erkannt. Es ist sehr alt.«

»Sie kennen die alten Sprachen?«, fragte Mapes und wartete mit einer seltsamen Anspannung auf die Antwort.

»Sprachen sind mit das Erste, was die Bene Gesserit lernen«, erklärte Jessica. »Ich kann Bhotani Jib und Chakobsa. All die Jagdsprachen.«

Mapes nickte. »So wie es in der Legende heißt.«

Und Jessica fragte sich: Warum führe ich diese Scharade auf? Aber die Methoden der Bene Gesserit waren eben durchtrieben. »Ich bin mit der Dunkelheit und den Künsten der Großen Mutter vertraut«, sagte sie. Sie studierte die Zeichen in Mapes Haltung und Erscheinung, die Kleinigkeiten, die sie verrieten. »Miseces prejia«, sagte sie auf Chakobsa. »Andral t’re pera! Trada cik buscakri miseces perakri …«

Mapes machte einen Schritt zurück; es schien, als wäre sie bereit zur Flucht.

»Ich weiß vieles«, sagte Jessica. »Ich weiß, dass du Kinder zur Welt gebracht hast, dass du geliebte Menschen verloren hast, dass du dich in Angst versteckt und Gewalt ausgeübt hast und noch mehr Gewalt ausüben wirst. Ich weiß vieles.«

Mit gedämpfter Stimme sagte Mapes: »Ich wollte Sie nicht beleidigen, Mylady.«

»Du sprichst von Legenden und suchst Antworten«, sagte Jessica. »Aber nimm dich in Acht vor den Antworten. Ich weiß, dass du bereit bist, Gewalt auszuüben. Du bist mit einer Waffe in deinem Kleid gekommen.«

»Mylady, ich …«

»Es besteht die vage Möglichkeit, dass du mein Blut vergießen könntest«, fuhr Jessica fort. »Aber du würdest dadurch mehr Verderben über dich bringen, als du es dir in deinen wildesten Ängsten ausmalen kannst. Du musst wissen, dass es Schlimmeres gibt, als zu sterben – selbst für ein ganzes Volk.«

»Mylady!«, flehte Mapes. Es schien, als wollte sie jeden Moment auf die Knie fallen. »Die Waffe wurde als Geschenk an Sie gesandt, falls Sie sich als die Eine erweisen sollten.«

»Und als Instrument meines Todes, sollte ich mich als etwas anderes erweisen«, sagte Jessica. Sie wartete mit jener äußerlichen Gelassenheit, die Frauen mit Bene-Gesserit-Ausbildung zu solch Furcht einflößenden Gegnerinnen machte. Jetzt sehen wir, in welche Richtung das Pendel ausschlägt , dachte sie.

Ganz langsam griff Mapes in den Kragen ihres Kleids und brachte eine dunkle Messerscheide zum Vorschein, aus der ein schwarzer Griff mit tiefen Fingerkerben ragte. Sie nahm die Scheide in eine Hand und den Griff in die andere, zog eine milchweiße Klinge heraus und hielt sie hoch. Die Klinge schien aus sich selbst heraus zu leuchten. Sie war zweischneidig wie ein Kindjal, und ihr Blatt war etwa zwanzig Zentimeter lang.

»Wissen Sie, was das ist, Mylady?«, fragte Mapes.

Jessica wusste, dass es sich nur um eines handeln konnte: um das sagenumwobene Krismesser von Arrakis, die Klinge, die den Planeten nie verließ und von der man nur in Gerüchten und wilden Ammenmärchen hörte. »Es ist ein Krismesser«, sagte sie.

»Sagen Sie das nicht leichthin«, erwiderte Mapes. »Kennen Sie seine Bedeutung?«

Und Jessica dachte: Da liegt eine Schärfe in dieser Frage. Das ist der Grund dafür, dass diese Fremen-Frau in meine Dienste getreten ist  – sie wollte mir diese eine Frage stellen. Meine Antwort könnte Gewalt zur Folge haben oder  … was sonst? Aber sie erwartet eine Antwort von mir. Was ist die Bedeutung eines Messer s? In der Zunge der Chakobsa nennt man sie Shadout, und Messer heißt »Bringer des Todes«. Sie wird unruhig. Ich muss jetzt antworten. Eine Verzögerung ist ebenso gefährlich wie eine falsche Antwort.

Sie sagte: »Es ist ein Bringer …«

»Ai-iiih!«, jaulte Mapes. Es war Wehklagen und Triumphschrei zugleich. Sie zitterte so sehr, dass die Messerklinge helle Funken reflektierten Lichts durch den Saal sandte.

Jessica wartete. Sie hatte eigentlich sagen wollen, dass das Messer ein Bringer des Todes sei, und sie hätte das alte Wort dafür hinzugefügt, doch nun warnten sie all ihre Sinne, die selbst im beiläufigsten Zucken eines Muskels eine Bedeutung bloßlegten, davor.

Das Schlüsselwort war … Bringer.

Bringer? Bringer.

Dennoch hielt Mapes das Messer, als sei sie bereit, es einzusetzen.

Jessica sagte: »Dachtest du, dass ich als eine, die in die Geheimnisse der Großen Mutter eingeweiht ist, den Bringer nicht erkenne?«

Mapes senkte die Klinge. »Mylady, wenn man so lange mit einer Prophezeiung gelebt hat, dann ist der Moment ihrer Erfüllung ein Schock.«

Jessica dachte an die Prophezeiung: die Schari-a und die gesamte Panoplia Propheticus, die eine Bene Gesserit der Missionaria Protectiva hier vor Jahrhunderten hinterlassen hatte. Zweifellos war diese Frau schon lange tot, aber sie hatte ihre Bestimmung erfüllt – sie hatte diesem Volk eine Legende eingepflanzt, die eines Tages einer Bene Gesserit in Not helfen sollte.

Und dieser Tag war gekommen.

Mapes steckte das Messer in die Scheide zurück. »Diese Klinge ist unbehandelt, Mylady. Tragen Sie sie immer dicht bei sich. Wenn sie länger als eine Woche fern von einem lebenden Körper aufbewahrt wird, zersetzt sie sich. Sie gehört Ihnen, solange Sie leben – ein Zahn Shai-Huluds.«

Jessica streckte die rechte Hand aus und ging ein Wagnis ein. »Mapes«, sagte sie, »du hast diese Klinge zurück in die Scheide gesteckt, ohne Blut zu vergießen.«

Nach Luft schnappend ließ Mapes das Messer in Jessicas Hand fallen. Dann riss sie ihr braunes Mieder auf und heulte: »Nehmen Sie das Wasser meines Lebens!«

Jessica zog die Klinge aus der Scheide. Wie sie glitzerte! Sie richtete die Messerspitze auf Mapes und sah, wie die Fremen-Frau von einer Angst überwältigt wurde, die schlimmer war als Todespanik. Ist die Spitze vergiftet? , fragte sich Jessica. Sie hob die Spitze und zog mit der Schneide einen feinen Kratzer über Mapes linke Brust. Für einen kurzen Moment quoll dickflüssiges Blut hervor, das fast sofort versiegte. Unnatürlich schnelle Gerinnung , dachte Jessica. Eine Mutation, um Feuchtigkeit zu konservieren? Sie schob die Klinge zurück in die Scheide und sagte: »Knöpf dein Kleid zu, Mapes.«

Zitternd gehorchte Mapes. Die Augen ohne Weiß darin starrten Jessica an. »Sie gehören zu uns«, murmelte sie. »Sie sind die Eine.«

Erneut war zu hören, wie am Eingang etwas abgeladen wurde. Blitzschnell griff Mapes nach dem Messer und verbarg es in Jessicas Mieder. »Wer dieses Messer sieht, muss gereinigt oder getötet werden«, fauchte sie. »Das wissen Sie, Mylady.«

Jetzt weiß ich es , dachte Jessica.

Die Frachtträger gingen, ohne den großen Saal zu betreten.

Mapes sammelte sich und sagte: »Die Unreinen, die ein Krismesser gesehen haben, dürfen Arrakis nicht lebend verlassen. Vergessen Sie das nie, Mylady. Man hat Ihnen ein Krismesser anvertraut.« Sie holte tief Luft. »Jetzt müssen die Dinge ihren Gang nehmen. Man kann sie nicht beschleunigen.« Sie sah auf die übereinandergestapelten Kisten und die darum herum aufgeschichteten Gegenstände. »Und es gibt genug Arbeit, um uns die Zeit zu vertreiben.«

Jessica zögerte. »Die Dinge müssen ihren Gang nehmen. « Das war ein Merksatz aus den Anrufungen der Missionaria Protectiva – die Ankunft der Ehrwürdigen Mutter, die euch befreit.

Aber ich bin keine Ehrwürdige Mutter , dachte sie. Und dann: Große Mutter! Auch das haben Sie hier also hinterlassen. Dieser Planet muss ein wahrhaft schauriger Ort sein.

Mit sachlicher Stimme sagte Mapes: »Was wünschen Sie, Mylady? Womit soll ich beginnen?«

Ihr Instinkt riet Jessica, einen ebenso beiläufigen Ton anzuschlagen. Sie antwortete: »Das Gemälde des alten Herzogs dort muss auf einer Seite des Speisesaals aufgehängt werden. Und der Stierkopf muss an die gegenüberliegende Wand.«

Mapes ging zu dem Stierkopf. »Was für ein gewaltiges Tier es gewesen sein muss, das einen solchen Kopf mit sich herumtrug«, sagte sie und bückte sich. »Ich werde ihn erst säubern müssen, nicht wahr, Mylady?«

»Nein.«

»Aber dort ist eine Schmutzschicht an den Hörnern.«

»Das ist kein Schmutz, Mapes. Das ist das Blut des Vaters unseres Herzogs. Nur wenige Stunden, nachdem das Tier den alten Herzog getötet hatte, wurden die Hörner mit einem transparenten Fixativ besprüht.«

Mapes richtete sich auf. »Ah!«, sagte sie.

»Es ist nur Blut«, sagte Jessica. »Noch dazu altes. Such dir jemanden, der dir beim Aufhängen hilft. Diese Objekte sind schwer.«

»Denken Sie, dass Blut mir etwas ausmacht?«, fragte Mapes. »Ich komme aus der Wüste und habe reichlich Blut gesehen.«

»Das … das ist mir klar«, sagte Jessica.

»Einiges davon war mein eigenes«, sagte Mapes. »Und zwar mehr, als Sie mit ihrem winzigen Kratzer vergossen haben.«

»Hätte ich tiefer schneiden sollen?«

»Oh nein! Das Wasser des Körpers ist knapp genug, man darf es nicht verschwenden. Sie haben es ganz richtig gemacht.«

Jessica, die aufmerksam verfolgte, was Mapes sagte und wie sie es sagte, erkannte die tieferen Bedeutungen der Wendung »Das Wasser des Körpers«. Einmal mehr empfand sie die wichtige Rolle, die Wasser auf Arrakis spielte, als bedrückend.

»Auf welcher Seite des Speisesaals soll ich welche dieser Schönheiten aufhängen, Mylady?«, fragte Mapes.

Immer auf praktische Fragen ausgerichtet, diese Mapes , dachte Jessica. Sie sagte: »Das kannst du selbst entscheiden, Mapes. Es macht keinen Unterschied.«

»Wie Sie befehlen, Mylady.« Mapes verbeugte sich tief. Dann begann sie, den Stierkopf von Packmaterial und Schnur zu befreien. »Einen alten Herzog hast du also getötet?«, gurrte sie.

»Soll ich einen der Lastenträger rufen, damit er dir hilft?«, fragte Jessica.

»Ich schaffe das schon, Mylady.«

Ja, das schafft sie , dachte Jessica. Das ist ihr eigen, diesem Fremen-Geschöpf  – der unbedingte Wille, etwas zu schaffen. Sie spürte die kalte Scheide des Krismessers unter ihrem Mieder und dachte an die lange Kette von Bene-Gesserit-Plänen, der nun ein weiteres Glied hinzugefügt worden war. Aufgrund dieser Pläne hatte sie eine tödliche Bedrohung überstanden. »Die Dinge lassen sich nicht beschleunigen« , hatte Mapes gesagt. Und doch erweckte das Tempo, mit dem sich die Dinge hier überstürzten, eine düstere Vorahnung in Jessica. Und weder die Vorkehrungen der Missionaria Protectiva noch Hawats sorgfältige Inspektion dieses befestigten Felshaufens konnten das Gefühl zerstreuen.

»Wenn du mit dem Aufhängen fertig bist, mach dich daran, die Kisten auszupacken«, sagte Jessica. »Einer der Lastenträger hat alle Schlüssel und weiß, wo was hin muss. Hol dir die Schlüssel und die Liste von ihm. Falls du Fragen hast, ich bin im Südflügel.«

»Wie Sie befehlen, Mylady«, sagte Mapes.

Jessica wandte sich ab und dachte: Hawat mag diese Wohnstatt für sicher befunden haben, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Ich spüre es. Mit einem Mal wurde sie von dem heftigen Drang gepackt, ihren Sohn zu sehen. Sie ging durch die Bogentür, die zu Speisesaal und Familienflügel führte. Immer mehr beschleunigte sie ihren Schritt, bis sie fast rannte.

Hinter ihr hielt Mapes beim Auspacken des Stierkopfs inne und blickte Jessica nach. »Ja, sie ist die Eine«, murmelte die Fremen-Frau. »Armes Mädchen.«