Eine Legende besagt , dass in jenem Moment, als Herzog Leto Atreides starb, am Himmel über dem Palast seiner Vorfahren auf Caladan ein Komet erschien .

– Aus: Einleitung zu »Muad’Dibs Kindheit« von Prinzessin Irulan

Baron Vladimir Harkonnen stand an einem der Aussichtsfenster des Leichters, mit dem er gelandet war und der ihm als Kommandoposten diente. Backbord konnte er die flammenerleuchtete Nacht über Arrakeen sehen, aber seine Aufmerksamkeit war auf den entfernten Schildwall gerichtet, wo seine Geheimwaffe ihre Arbeit tat.

Artilleriegranaten.

Die Geschütze zerfraßen die Höhlen, in die sich die Kämpfer des Herzogs zurückgezogen hatten. Bemessene, orange-gleißende Bisse, Stein- und Staubfontänen in der kurz aufblitzenden Helligkeit – so wurde der Kerker der Männer des Herzogs versiegelt, sodass sie in ihrem Bau verhungern mussten wie gefangene Tiere.

Der Baron spürte das entfernte Wummern, ein Trommeln, das durch das Metall des Schiffsrumpfs drang: Bromm  … bromm  … bromm. Und dann: BROMM-bromm!

Wer wäre je darauf gekommen, in Zeiten von Schutzschilden die Artillerie wiederzubeleben? Bei dem Gedanken kicherte er innerlich. Aber es war abzusehen, dass die Männer des Herzogs zu diesen Höhlen rennen würden. Und der Imperator wird es zu schätzen wissen, dass ich auf so schlaue Weise das Leben unserer gemeinsamen Truppen geschont habe.

Er rückte einen der kleinen Suspensoren zurecht, die seinen fetten Leib dem Griff der Schwerkraft enthoben, und ein Lächeln kräuselte seine Lippen, zupfte an seinen Hängebacken. Ein Jammer, solche Kämpfer wie die des Herzogs zu vergeuden , dachte er. Dann lächelte er breiter, lachte über sich selbst. Mitleid sollte grausam sein! Er nickte. Wer versagte, war entbehrlich. Das Universum stand jenen offen, die wussten, wie man die richtigen Entscheidungen traf. Die zögernden Karnickel mussten aufgescheucht werden, sodass sie in ihre Löcher rannten – wie sollte man sie sonst im Griff behalten und züchten? Er stellte sich seine Kämpfer als Bienen vor, die die Karnickel aufstörten. Und er dachte: Wenn nur genug Bienen für einen arbeiten, ist der Tag von einem lieblichen Summen erfüllt.

Hinter ihm öffnete sich eine Tür. Im Spiegelbild des nachtschwarzen Aussichtsfensters sah er, wie Piter de Vries das Zimmer betrat, gefolgt von Umman Kudu, dem Hauptmann der Leibgarde des Barons. Auch draußen vor der Tür bewegten sich mehrere Personen; der Baron sah die Gesichter seiner Wachen, die in seiner Gegenwart angemessen schafsköpfige Mienen aufsetzten. Er drehte sich um.

Piter hob die Finger zu einem leicht spöttischen Salutieren. »Gute Neuigkeiten, mein Baron. Die Sardaukar haben den Herzog gefangen genommen.«

»Natürlich haben sie das«, polterte der Baron. Er musterte die düstere, bösartige Miene, die auf Piters weibischem Gesicht lag. Und die Augen – diese überschatteten Schlitze von tiefstem Blau-in-Blau. Ich muss ihn bald loswerden , dachte er. Er ist mir kaum noch von Nutzen und hat fast schon den Punkt erreicht, an dem er zu einer Gefahr für mich wird. Aber zuerst muss er das Volk von Arrakis dazu bringen, dass es ihn hasst. Dann  … dann werden sie meinen liebsten Feyd-Rautha als Retter willkommen heißen.

Der Baron wandte sich dem Gardehauptmann zu. Umman Kudu – wie mit der Schere geschnittene Kiefermuskeln, ein Kinn wie eine Stiefelspitze, ein Mann, dem man vertrauen konnte, weil seine Laster bekannt waren. »Zuerst einmal: Wo ist der Verräter, der mir den Herzog geliefert hat?«, fragte der Baron. »Der Verräter muss seinen Lohn erhalten.«

Piter drehte sich um und gab den Wachleuten draußen ein Zeichen. Etwas Schwarzes bewegte sich, und Yueh kam zwischen ihnen hindurch. Seine Bewegungen waren steif und sehnig. Sein herabhängender Schnurrbart rahmte die purpurfarbenen Lippen. Nur seine Augen wirkten lebendig. Drei Schritte weit im Raum verharrte er auf einen Wink Piters hin und sah den Baron an.

»Ah, Dr. Yueh.«

»Mylord Harkonnen.«

»Wie ich höre, hast du uns den Herzog geliefert.«

»Mein Teil der Abmachung, Mylord.«

Der Baron sah Piter an. Piter nickte. Der Baron blickte wieder zu Yueh. »Die Abmachung, was? Und ich … was sollte ich noch mal im Gegenzug tun?«

»Daran erinnern Sie sich ganz genau, Mylord Harkonnen.« Yueh gestattete es sich zu denken. Er hatte die verräterischen Anzeichen im Verhalten des Barons bemerkt. Wanna war tot – sie hatte sich dem Zugriff der Harkonnen entzogen. Andernfalls hätte der Baron diesen jämmerlichen Doktor noch in der Hand gehabt; doch das Verhalten des Barons zeigte, dass er ihn nicht mehr in der Hand hatte. Es war vorbei. In seinem Kopf hörte Yueh das Ticken einer Uhr.

»Ach ja?«

»Sie haben mir versprochen, meine Wanna von ihren Qualen zu erlösen.«

Der Baron nickte. »Ah, jetzt fällt es mir wieder ein. Ja, das habe ich. Das war mein Versprechen. So habe ich die imperiale Konditionierung gebrochen. Du konntest es nicht ertragen mitanzusehen, wie sich deine Bene-Gesserit-Hexe in Piters Schmerzverstärkern windet. Tja, Baron Vladimir Harkonnen hält seine Versprechen. Ich habe dir gesagt, dass ich sie von ihren Qualen erlösen und dir gestatten werde, bei ihr zu sein. So sei es.« Er gab Piter einen Wink.

Piters blaue Augen nahmen einen glasigen Ausdruck an. Seine fließenden Bewegungen hatten etwas Katzenhaftes, und das Messer in seiner Hand glänzte feucht wie eine Klaue, als es Yueh in den Rücken fuhr.

Der Arzt zuckte zusammen, aber er wandte seine Aufmerksamkeit nicht von dem Baron ab.

»Geh zu ihr!«, fauchte der Baron.

Yueh stand schwankend da. Seine Lippen bewegten sich mit peinlicher Genauigkeit, und seine Stimme hatte einen seltsam bemessenen Takt: »Sie … meinen … Sie … hätten … mich … besiegt … Sie … meinen … ich … wüsste … nicht … was … ich … für … meine … Wanna … getan … habe.« Er kippte nach vorne, ohne dabei einzuknicken – wie ein fallender Baum.

»Dann geh zu ihr«, wiederholte der Baron, aber es klang wie ein schwacher Nachhall. Yuehs Worte hatten ihn mit unguten Vorahnungen erfüllt. Er fuhr zu Piter herum, sah, wie der Mentat seine Klinge an einem Tuchfetzen abwischte, bemerkte den Ausdruck sahniger Zufriedenheit in seinen blauen Augen. So tötet er also , dachte der Baron. Gut, das zu wissen. »Er hat uns doch den Herzog geliefert?«, fragte er.

»Aber sicher, Mylord«, sagte Piter.

»Dann bringt ihn herein!«

Piter warf dem Gardehauptmann einen Blick zu, der herumwirbelte, um den Befehl auszuführen.

Der Baron sah auf Yueh hinab. So wie der Arzt umgefallen war, hätte man meinen können, er hätte Eichenholz in sich statt Knochen. »Ich kann mich seit jeher nicht dazu durchringen, einem Verräter zu trauen«, sagte er. »Nicht einmal einem Verräter, der mein eigenes Geschöpf ist.«

Er blickte aus dem dunklen Aussichtsfenster. Er wusste, dass die schwarze Stille dort draußen nun ihm gehörte. Kein Artilleriefeuer traf mehr knirschend auf die Höhlen im Schildwall; die Ausgänge waren versiegelt. Und er konnte sich nichts Schöneres vorstellen als diese vollkommene schwarze Leere. Außer vielleicht Weiß auf dem Schwarz. Ein weißer Überzug. Weiß wie Porzellan.

Aber er verspürte noch immer Zweifel.

Was hatte der Doktor, dieser Narr, da gesagt? Er hatte doch gewusst, zumindest geahnt, was am Ende mit ihm geschehen würde. Aber … »Sie meinen, Sie hätten mich besiegt. « Was hatte er damit sagen wollen?

In diesem Augenblick kam Herzog Leto Atreides durch die Tür, die Arme in Ketten, Schmutzstreifen auf dem Adlergesicht. Seine Uniform war zerfetzt – jemand hatte ihm seine Abzeichen abgerissen. Auch an der Hüfte, wo man seinen Schildgürtel entfernt hatte, ohne zuvor die Uniformschnalle zu lösen, hing der Stoff in Fetzen. Seine Augen waren glasig und wirr.

»Nuuun«, sagte der Baron. Er zögerte und holte tief Luft. Er wusste, dass er zu laut gesprochen hatte. Der Moment, den er sich so lange ausgemalt hatte, hatte etwas von seiner Süße verloren. Dieser verfluchte Doktor soll bis in alle Ewigkeit verdammt sein!

»Ich glaube, der Herzog steht unter Drogen«, sagte Piter. »So hat Yueh ihn für uns gefangen.« Er wandte sich Leto zu. »Hat man Sie unter Drogen gesetzt, mein lieber Herzog?«

Die Stimme klang wie von weit her. Leto spürte die Ketten, seine schmerzenden Muskeln, seine gesprungenen Lippen, seine brennenden Wangen, den trockenen, schmutzigen Geschmack von Durst in seinem Mund. Doch die Geräusche blieben gedämpft, verborgen hinter einer Watteschicht, durch die hindurch er nur grobe Umrisse erahnte.

»Was ist mit der Frau und dem Jungen, Piter?«, fragte der Baron. »Hast du schon etwas gehört?«

Piters Zunge huschte über seine Lippen.

»Du hast etwas gehört«, schnappte der Baron. »Was?«

Piter warf dem Gardehauptmann einen kurzen Blick zu. »Die Männer, die man mit der Aufgabe betraut hat, Mylord … sie … ah … man hat sie … gefunden.«

»Und ist ihr Bericht zufriedenstellend?«

»Sie sind tot, Mylord.«

»Natürlich sind sie das! Was ich wissen will, ist …«

»Sie waren tot, als man sie gefunden hat, Mylord.«

Der Baron erbleichte. »Und die Frau und der Junge?«

»Keine Spur von ihnen, Mylord. Aber da war ein Wurm. Er kam, als die Soldaten die Umgebung inspizierten. Vielleicht ist das eingetreten, was wir wollten – ein Unfall.«

»Du weißt, dass wir uns nicht mit Eventualitäten zufriedengeben, Piter. Und was ist mit dem fehlenden Thopter? Gibt der meinem Mentaten Anlass zu irgendwelchen Mutmaßungen?«

»Offenbar ist einer der Männer des Herzogs damit entkommen, Mylord. Er hat den Piloten getötet und ist geflohen.«

»Welcher von den Leuten des Herzogs?«

»Es war ein sauberer und leiser Todesstoß, Mylord. Hawat vielleicht. Oder Halleck. Womöglich auch Idaho. Oder einer der oberen Leutnants.«

»Möglichkeiten«, brummte der Baron. Er warf dem taumelnden Herzog einen Blick zu.

»Die Situation ist unter Kontrolle, Mylord«, sagte Piter.

»Nein, ist sie nicht! Wo ist dieser dumme Planetologe? Wo ist dieser Kynes?«

»Uns wurde zugetragen, wo wir ihn finden können, und man hat nach ihm geschickt, Mylord.«

»Mir gefällt die Art nicht, wie uns dieser Diener des Imperators behilflich ist.«

Obwohl die Worte wie durch eine Watteschicht an Letos Ohren drangen, brannten sich ihm manche davon dennoch ein. Die Frau und der Junge  … keine Spur  … Paul und Jessica waren entkommen. Und das Schicksal von Hawat, Halleck und Idaho war unklar. Es gab noch Hoffnung!

»Wo ist der herzogliche Siegelring?«, wollte der Baron wissen. »Er trägt ihn nicht am Finger.«

»Die Sardaukar sagen, der Herzog hätte ihn nicht bei sich gehabt, als man ihn gefangen nahm, Mylord«, erwiderte der Gardehauptmann.

»Du hast den Doktor zu früh getötet, Piter«, sagte der Baron. »Das war ein Fehler. Du hättest mich warnen sollen. Du hast zu überstürzt gehandelt und dadurch unserem Plan geschadet.« Er zog eine finstere Miene. »Möglichkeiten!«

Der Gedanke schwang wie eine Sinuswelle in Letos Kopf: Paul und Jessica sind entkommen! Und da war noch etwas, das eine Spur in seinem Gedächtnis hinterlassen hatte: ein Handel. Er versuchte sich zu erinnern.

Der Zahn! Eine Kapsel mit Giftgas in Form eines falschen Zahns !

Jemand hatte ihm gesagt, dass er den Zahn nicht vergessen dürfe. Der Zahn war in seinem Mund. Er konnte ihn mit der Zunge ertasten. Er musste nur fest darauf beißen.

Nein, noch nicht! Dieser Jemand hatte ihm gesagt, dass er warten sollte, bis er dem Baron ganz nahe war. Wer hatte ihm das gesagt?

»Wie lange wird er so benommen bleiben?«, fragte der Baron.

»Vielleicht noch für eine Stunde, Mylord«, sagte Piter.

»Vielleicht«, brummte der Baron. Einmal mehr wandte er sich dem nachtschwarzen Fenster zu. »Ich habe Hunger.«

Das dort ist der Baron, dieser verschwommene graue Fleck , dachte Leto. Der Fleck zuckte hin und her, bewegte sich mit dem schwankenden Zimmer. Und das Zimmer dehnte sich aus und zog sich zusammen, wurde heller und dunkler, wurde von Schwärze eingehüllt und verblasste. Die Zeit wurde für den Herzog zu einer Abfolge von Schichten. Er trieb durch sie empor. Ich muss warten  …

Da war ein Tisch. Den Tisch sah Leto ganz deutlich. Und auf der anderen Seite des Tisches saß ein widerwärtiger, fetter Mann, der die Reste einer Mahlzeit vor sich hatte. Leto spürte, dass er dem fetten Mann gegenüber auf einem Stuhl saß, er spürte die Ketten und die Riemen, die seinen kribbelnden Leib in dem Stuhl hielten. Er wusste, dass Zeit vergangen war, aber er wusste nicht, wie viel Zeit.

»Ich glaube, er kommt langsam zu sich, Baron.«

Eine samtene Stimme. Das war Piter.

»Das sehe ich auch, Piter.«

Ein polternder Bass  – der Baron.

Die Umgebung trat nun schärfer hervor. Der Stuhl unter Leto wurde fester, die Riemen schnitten schärfer ein. Und er sah den Baron jetzt deutlich vor sich, beobachtete die Bewegungen des Mannes, das zwanghafte Betatschen – eines Tellerrandes, eines Löffelstiels, seiner Wangenfalte. Fasziniert folgte Leto der geschäftigen Hand.

»Sie hören mich, Herzog Leto«, sagte der Baron. »Ich weiß, dass Sie mich hören. Wir wollen von Ihnen erfahren, wo sich Ihre Konkubine und das Kind, das Sie mit ihr gezeugt haben, befinden.«

Kein Seufzer entwich Leto, obwohl ihn die Worte wie eine sanfte Woge durchströmten. Dann stimmt es also  – sie haben Paul und Jessica nicht erwischt.

»Das hier ist kein Spiel für Kinder«, polterte der Baron. »Das wissen Sie genauso gut wie ich.« Er beugte sich vor und musterte Letos Gesicht. Es war ihm unangenehm, dass er diese Angelegenheit nicht mit dem Herzog allein regeln konnte. Dass andere mit ansahen, wie Personen von hohem Geblüt in solche Bedrängnis gerieten – es war ein schlechtes Beispiel.

Langsam spürte Leto, wie seine Kräfte zurückkehrten, und die Erinnerung an den falschen Zahn stach in seinen Gedanken nun hervor wie ein Turm in einer öden Landschaft. Die einem Nerv nachempfundene Kapsel im Zahn … Das Giftgas … Und jetzt erinnerte er sich auch, wer ihm die tödliche Waffe in den Mund gesetzt hatte.

Yueh.

Die Erinnerung an einen schlaffen Leichnam, den man hier in diesem Raum an ihm vorbeigeschleift hatte, hing wie ein Nebel in Letos Kopf. Das war Yueh gewesen, da war er sich ganz sicher.

»Hören Sie dieses Geräusch, Herzog Leto?«, fragte der Baron.

Leto wurde sich eines froschartigen Lauts bewusst – das verschliffene Wimmern eines Mannes, der Todesqualen litt.

»Wir haben einen Ihrer Männer erwischt, der sich als Fremen verkleidet hatte«, sagte der Baron. »Wir haben seine Tarnung ziemlich leicht durchschaut – Sie wissen ja, die Augen. Er beharrt darauf, dass er zu den Fremen geschickt wurde, um sie auszuspionieren. Nun, ich habe eine Weile auf diesem Planeten gelebt, geschätzter Cousin. Man spioniert diesen lumpigen Wüstenabschaum nicht aus. Sagen Sie mir, haben Sie sich ihre Hilfe erkauft? Haben Sie Ihre Frau und Ihren Sohn zu ihnen geschickt?«

Leto spürte, wie ihm Angst die Kehle zuschnürte. Wenn Yueh sie zu diesem Wüstenvolk geschickt hat  … dann wird die Suche kein Ende finden, bis man sie gefunden hat.

»Kommen Sie schon«, sagte der Baron. »Wir haben nicht viel Zeit, und Schmerz ist die schnellste Methode. Bitte lassen Sie es nicht dazu kommen, lieber Herzog.« Er sah zu Piter auf, der neben Leto stand. »Piter hat zwar nicht alle seine Werkzeuge dabei, aber ich bin mir sicher, dass er etwas improvisieren könnte.«

»Manchmal ist es sogar am besten zu improvisieren, Baron«, sagte Piter.

Diese samtige, durchtriebene Stimme! Leto hörte sie direkt neben seinem Ohr.

»Sie hatten einen Plan für den Notfall«, sagte der Baron. »Wo hat man Ihre Frau und den Jungen hingeschickt?« Er blickte auf Letos Hand. »Ihr Ring fehlt. Hat ihn der Junge?« Er hob den Kopf und starrte Leto in die Augen. »Sie antworten nicht. Möchten Sie mich zwingen, etwas zu tun, das mir widerstrebt? Piter wird einfache, direkte Methoden einsetzen. Ich bin auch der Meinung, dass das manchmal die besten sind, aber es ist nicht gut, wenn man Sie einer solchen Behandlung unterzieht.«

»Wie wäre es mit heißem Talg auf dem Rücken? Oder auf den Augenlidern?«, sagte Piter. »Oder vielleicht auf anderen Körperteilen? Es ist besonders wirkungsvoll, wenn das Subjekt nicht weiß, wo der Talg als Nächstes landet. Eine gute Methode. Und ein Muster eiterweißer Pusteln auf nackter Haut entbehrt nicht einer gewissen Schönheit, habe ich recht, Baron?«

»Ganz exquisit«, sagte der Baron mit leicht verdrießlicher Stimme.

Diese grapschenden Finger! Leto beobachtete die fetten Hände des Barons, die glitzernden Edelsteine an den Babyfingern, ihre zwanghafte Geschäftigkeit. Die Schmerzenslaute, die durch die Tür hinter ihm drangen, zerrten an seinen Nerven. Wen haben sie gefangen? Duncan? Gurney?

»Glauben Sie mir, geschätzter Cousin«, sagte der Baron, »ich möchte nicht, dass es dazu kommt.«

»Man denke an Nervensignale, die loseilen, um Hilfe zu holen, wo es keine gibt«, sagte Piter. »Wissen Sie, in gewisser Weise ist das eine Kunstform.«

»Du bist ein erlesener Künstler«, knurrte der Baron. »Und jetzt zeig ein bisschen Anstand, und sei still.«

Plötzlich fiel Leto ein, was Halleck einmal beim Anblick eines Bildes, das den Baron gezeigt hatte, gesagt hatte: »›Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte auf seinen Häuptern lästerliche Namen.‹ «

»Wir vergeuden Zeit, Baron«, sagte Piter.

»Vielleicht.« Der Baron nickte. »Wissen Sie, mein lieber Leto, letztendlich werden Sie uns doch erzählen, wo sie sind. Es gibt ein Maß an Schmerz, mit dem man Sie kaufen kann.«

Vermutlich hat er recht , dachte Leto. Wären da nicht dieser Zahn  – und der Umstand, dass ich tatsächlich nicht weiß, wo sie sind.

Der Baron nahm eine Scheibe Fleisch, steckte sie sich in den Mund, kaute gemächlich und schluckte. Wir müssen eine andere Gangart anschlagen , dachte er und sagte: »Sieh dir diese hochkarätige Person an, die abstreitet, ein Mietling zu sein. Beobachte ihn, Piter.« Ja! Sieh ihn dir an, diesen Mann, der glaubt, dass man ihn nicht kaufen könne. Sieh ihn an, ein Gefangener der Anteile an seiner Person, die er sein ganzes Leben lang verkauft hat, tröpfchenweise, mit jeder Sekunde. Wenn man ihn jetzt packen und durchschütteln würde, dann würde es in ihm rasseln. Entleert! Ausverkauft! Welchen Unterschied macht es noch, wie er stirbt?

Die jämmerlichen Laute im Hintergrund verstummten. Der Baron sah Umman Kudu, den Gardehauptmann, in der Tür am anderen Ende des Zimmers auftauchen und den Kopf schütteln. Der Gefangene hatte ihnen also nicht die benötigte Information geliefert. Ein weiterer Fehlschlag. Der Baron konnte jetzt nicht mehr länger seine Zeit mit diesem närrischen Herzog vertrödeln, diesem dummen, weichherzigen Trottel, der nicht begriff, wie dicht er vor der Hölle stand – nur die Breite einer Nervenfaser entfernt. Dieser Gedanke beruhigte den Baron und ließ ihn seinen Widerwillen, jemanden von hohem Geblüt dem Schmerz auszuliefern, überwinden. Jetzt sah er sich als einen Chirurgen, der zu einem unendlich raffinierten Schnitt ansetzte, einen Schnitt, mit dem er den Narren die Masken entfernte und die Hölle dahinter bloßlegte. Karnickel, allesamt! Wie sie sich ducken, wenn sie das Raubtier sehen!

Leto starrte über den Tisch und fragte sich, worauf er noch wartete – der Zahn würde alldem ein schnelles Ende bereiten. Und ein großer Teil seines Lebens war gut gewesen. Er erinnerte sich an einen Antennendrachen am muschelblauen Himmel Caladans, und daran, wie der Anblick Paul vor Freude hatte jauchzen lassen. Und er erinnerte sich an den Sonnenaufgang hier auf Arrakis, an die bunten Schichten des Schildwalls, weichgezeichnet vom Staubschleier …

»Zu schade«, murmelte der Baron. Er stieß sich vom Tisch ab, stand in seinen Suspensoren und zögerte, als er sah, wie eine Veränderung den Herzog erfasste – wie der Mann tief Atem holte, sich sein Kiefer verkrampfte und ein Muskel zuckte, als er den Mund zukniff. Wie sehr er mich fürchtet! , dachte der Baron.

Vor Angst, dass ihm der Baron entkommen könnte, biss Leto auf die Zahnkapsel. Spürte, wie sie zerbrach. Er öffnete den Mund und atmete den beißenden Dunst aus, den er auf der Zunge schmeckte. Der Baron wurde kleiner, eine Gestalt in einem sich verengenden Tunnel, und Leto hörte ein Keuchen an seinem Ohr. Es war der Mann mit der samtenen Stimme – Piter.

Ihn habe ich auch erwischt!

»Piter! Was ist los?«

Die polternde Stimme kam von weit her.

Leto wurde von Erinnerungen durchwogt. Das zahnlose Gebrabbel alter Hexen. Dann wieder das Zimmer, der Tisch, der Baron, ein entsetztes Augenpaar, Blau in Blau … Alles zog sich in zerfallender Symmetrie um ihn herum zusammen. Da war ein Mann mit Stiefelspitzenkinn, ein Spielzeugmann, der umfiel. Der Spielzeugmann hatte eine gebrochene, nach links verbogene Nase – ein Metronom aus dem Takt, auf ewig kurz vor dem Hochpendeln eingefroren. Leto hörte das Klappern von Geschirr – so weit weg – tosend laut in seinen Ohren. Sein Geist war ein Behälter ohne Boden, er nahm alles auf, alles, was es je gegeben hatte – jeden Ruf, jedes Flüstern, jede …

Stille.

Ein Gedanke blieb ihm noch. Leto sah ihn in einem von schwarzen Strahlen getragenen, gestaltlosen Licht: Der vom Fleisch geformte Tag und das vom Tag geformte Fleisch. Der Gedanke gab ihm ein Gefühl von Vollständigkeit, von dem er wusste, dass er es nie würde erklären können. Dann …

Stille.

Der Baron stand mit dem Rücken zur Geheimtür, durch die er in den Korridor gelangt war. Er hatte sie hinter sich zugeknallt, und langsam wurde er sich der Wachleute bewusst, die ihn umschwärmten. Auf der anderen Seite der Tür lag ein Zimmer voller Toter. Habe ich eingeatmet? , dachte er panisch. Was immer das da drin war, hat es mich auch erwischt?

Er begann, wieder Dinge zu hören … und klar zu denken. Jemand rief Befehle … Gasmasken … Lasst die Tür geschlossen … Setzt die Belüftung in Gang …

Die anderen sind sofort umgefallen , dachte er. Ich stehe noch. Ich atme noch. Gnadenlose Hölle, das war knapp!

Jetzt konnte er die Geschehnisse analysieren. Sein Schild war eingeschaltet gewesen, auf niedriger Stufe, aber stark genug, um den Austausch von Molekülen entlang des Sperrfelds zu verlangsamen. Außerdem hatte er sich gerade vom Tisch abgestoßen – das war es gewesen. Das und Piters erschrecktes Aufkeuchen, das den Gardehauptmann hatte herbeirennen lassen – in sein Verderben. Der Zufall und die Warnung im Keuchen eines Sterbenden – das hatte ihn gerettet.

Der Baron verspürte Piter gegenüber keine Dankbarkeit. Dieser Schwachkopf hatte seinen Tod selbst zu verantworten. Und dieser blödsinnige Gardehauptmann – angeblich hatte er Leto genau in Augenschein genommen, bevor er ihn zu ihm gebracht hatte. Wie konnte es also sein, dass der Herzog … Es hatte keine Vorwarnung gegeben, nicht einmal von dem Giftschnüffler über dem Tisch. Wie war das möglich?

Aber das spielt jetzt keine Rolle , dachte der Baron, dessen Gedanken wieder klare Formen annahmen. Der nächste Gardehauptmann wird sich daranmachen dürfen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Ihm fiel auf, dass weiter unten im Korridor ebenfalls große Geschäftigkeit herrschte – vor der anderen Tür zu diesem Zimmer des Todes. Der Baron stieß sich von der Wand ab und musterte die um ihn herumstehenden Lakaien. Sie starrten ihn schweigend an, warteten auf seine Reaktion. War der Baron wütend?

Der Baron begriff, dass seit seiner Flucht aus diesem schrecklichen Zimmer nur wenige Sekunden vergangen waren. Einige Wachleute hielten Waffen auf die Tür gerichtet, andere starrten mit wilder Entschlossenheit in den Korridor. Geräusche waren dort zu hören. Und dann kam ein Mann um die Ecke. Die Gasmaske baumelte ihm vom Hals, und er hatte den Blick nach oben auf die Giftschnüffler an der Decke gerichtet. Er hatte gelbes Haar und ein flaches Gesicht mit grünen Augen, sein dicklippiger Mund war von einem Strahlenmuster scharfer Falten umgeben. Er sah aus wie ein Wasserlebewesen, das man versehentlich unter Landbewohner gebracht hatte.

Der Baron sah den nahenden Mann an und erinnerte sich an seinen Namen. Nefud. Iakin Nefud. Ein Gardekorporal. Nefud war süchtig nach Semuta, jener Kombination von Drogen und Musik, die das tiefste Unterbewusstsein beeinflusste. Ein nützliches Stück Information.

Nefud blieb vor dem Baron stehen und salutierte. »Der Korridor ist sauber, Mylord. Ich habe von draußen zugesehen – es muss Giftgas gewesen sein. Die Ventilatoren in Ihrem Zimmer haben Luft aus diesen Korridoren gesogen.« Er warf einen Blick auf den Giftschnüffler über dem Kopf des Barons. »Nichts davon ist entwichen. Der Raum ist jetzt gesäubert. Wie lauten Ihre Befehle?«

Der Baron erkannte die Stimme des Mannes – er war es gewesen, der zuvor die Befehle gebrüllt hatte. Tüchtig, dieser Korporal , dachte er. »Da drin sind alle tot?«, fragte er.

Nefud nickte. »Ja, Mylord.«

Tja, dann müssen wir uns an eine neue Lage anpassen , dachte der Baron. »Zuerst«, sagte er, »möchte ich Ihnen gratulieren, Nefud. Sie sind mein neuer Gardehauptmann. Und ich hoffe, dass Sie aus dem Schicksal Ihres Vorgängers Ihre Lehren ziehen.« Der Baron sah, wie sein frisch beförderter Hauptmann aufmerkte – er wusste, dass es ihm von nun an nie wieder an Semuta mangeln würde.

Nefud nickte erneut. »Mylord wissen, dass ich mich ganz Ihrer Sicherheit widmen werde.«

»Ja«, sagte der Baron. »Nun zur Sache. Ich vermute, dass der Herzog etwas im Mund hatte. Sie werden herausfinden, worum es sich handelte, wie es verwendet wurde und mit wessen Hilfe es dort hineingelangt ist. Sie treffen alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen …« Er brach ab, als sein Gedankengang durch ein Poltern im Korridor gestört wurde. Die Wachen am Aufzug, der zu den unteren Decks der Fregatte führte, versuchten, einen großen Oberst-Baschar festzuhalten, der eben durch die Tür getreten war.

Der Baron konnte das Gesicht des Oberst-Baschars nicht zuordnen – es war schmal, hatte einen Mund, der aussah wie durchschnittenes Leder, und zwei Tintenkleckse als Augen.

»Nehmt eure Hände von mir, ihr Aasfresser!«, brüllte der Mann und schleuderte die Wachen beiseite.

Ah, einer von den Sardaukar , dachte der Baron.

Der Oberst-Baschar ging auf den Baron zu, der die Augen misstrauisch zusammenkniff. In Gegenwart der Sardaukar-Offiziere fühlte er sich unbehaglich. Sie sahen alle aus wie Verwandte des Herzogs – des verstorbenen Herzogs. Und die Manieren, die sie ihm gegenüber an den Tag legten!

Der Oberst-Baschar stellte sich einen halben Schritt vor dem Baron auf und stemmte die Hände in die Hüften. Er salutierte nicht, und die Verachtung, die er ausstrahlte, beunruhigte den Baron noch mehr. Nur eine Legion von ihnen – zehn Brigaden – befand sich zur Verstärkung der Harkonnen-Legionen auf Arrakis, aber der Baron machte sich nichts vor. Würde sich diese eine Legion gegen die Harkonnen wenden, war sie absolut dazu in der Lage, sie zu überwältigen.

»Sagen Sie Ihren Leuten, dass sie mich jederzeit zu Ihnen vorzulassen haben, Baron«, knurrte der Sardaukar. »Meine Männer haben Ihnen den Atreides-Herzog gebracht, bevor ich mit Ihnen besprechen konnte, was aus ihm werden soll. Das holen wir jetzt nach.«

Ich darf auf keinen Fall vor meinem Gefolge das Gesicht verlieren , dachte der Baron. »So?« Er sprach das Wort kühl und kontrolliert aus und war stolz darauf.

»Der Imperator hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass sein edler Cousin sauber und ohne Qualen stirbt«, sagte der Oberst-Baschar.

»Die gleichen Befehle habe auch ich erhalten«, log der Baron. »Dachten Sie etwa, ich würde sie nicht befolgen?«

»Ich soll dem Imperator berichten, was ich mit eigenen Augen sehe«, sagte der Sardaukar.

»Der Herzog ist bereits tot«, blaffte der Baron und wedelte mit der Hand, um sein Gegenüber zu entlassen.

Der Oberst-Baschar rührte sich nicht vom Fleck; nicht einmal mit einem Blinzeln nahm er die Geste des Barons zur Kenntnis. »Wie bitte?«, zischte er.

Also wirklich , dachte der Baron. Das ist zu viel. »Von seiner eigenen Hand, wenn Sie es unbedingt wissen wollen«, sagte er. »Er hat Gift genommen.«

»Ich will auf der Stelle seine Leiche sehen«, sagte der Oberst-Baschar.

In gespielter Verzweiflung hob der Baron den Kopf zur Decke, während er hektisch nachdachte. Zur Hölle! Dieser Sardaukar wird das Zimmer mit seinem scharfen Blick in Augenschein nehmen, bevor wir es aufräumen können.

»Sofort«, knurrte der Sardaukar. »Ich will ihn mit eigenen Augen sehen.«

Dem Baron wurde klar, dass er nichts dagegen unternehmen konnte. Der Sardaukar würde alles sehen, würde erfahren, dass der Herzog Harkonnen-Männer getötet hatte und dass der Baron selbst ihm nur mit knapper Not entkommen war. Auf dem Tisch standen noch die Reste seines Abendessens, ein deutlicher Hinweis. Und dem Platz, an dem er gesessen hatte, gegenüber saß der tote Herzog …

»Ich lasse mich nicht abwimmeln«, fauchte der Oberst-Baschar.

»Sie werden auch nicht abgewimmelt«, erwiderte der Baron und sah dem Sardaukar in die obsidianfarbenen Augen. »Ich verberge nichts vor meinem Imperator.« Er gab Nefud ein Zeichen. »Dem Oberst-Baschar soll sofort alles gezeigt werden. Bringen Sie ihn durch die Tür hinein, an der Sie Wache gestanden haben, Nefud.«

»Hier entlang, Sir«, sagte Nefud.

Provozierend langsam ging der Sardaukar um den Baron herum und drängelte sich zwischen den Wachen hindurch.

Was für ein Desaster , dachte der Baron. Jetzt wird der Imperator von alldem erfahren, und er wird darin ein Zeichen der Schwäche sehen. Zu seinem Leidwesen wurde ihm bewusst, dass der Imperator und die Sardaukar in ihrer Verachtung für Schwäche übereinstimmten. Er kaute auf seiner Unterlippe und tröstete sich damit, dass der Imperator zumindest nichts von dem Atreides-Überfall auf Giedi Primus und der Vernichtung der dortigen Gewürzvorräte erfahren hatte.

Verdammt sei dieser aalglatte Herzog! Der Baron sah den Männern nach, dem arroganten Sardaukar und dem gedrungenen, tüchtigen Nefud, und dachte: Wir müssen uns an die neue Lage anpassen . Ich werde Rabban wieder als Herrscher über diesen elenden Planeten einsetzen, und er soll keinerlei Rücksichten nehmen. Ich muss mein eigenes Blut aufwenden, um Arrakis in den richtigen Zustand für Feyd-Rautha zu versetzen. Zum Henker mit diesem Piter! Natürlich musste er sich umbringen lassen, bevor ich mit ihm fertig war. Er seufzte. Und ich muss sofort von Tleilax einen neuen Mentaten anfordern. Bestimmt haben sie ihn schon für mich bereitgestellt.

Einer der Wachmänner neben ihm räusperte sich.

Der Baron wandte sich dem Mann zu. »Ich habe Hunger.«

»Ja, Mylord.«

»Und ich möchte Ablenkung, während ihr das Zimmer säubert und untersucht.«

Der Wachmann senkte den Blick. »Was für eine Art von Zeitvertreib wünschen Mylord?«

»Ich bin in meinem Schlafgemach«, sagte der Baron. »Bringt mir den Burschen, den wir auf Gamont gekauft haben, den mit den schönen Augen. Und betäubt ihn gut – mir ist nicht nach einem Ringkampf.«

»Ja, Mylord.«

Der Baron drehte sich um und ging in seinem wippenden, suspensorgetragenen Schritt zu seinen Gemächern. Ja , dachte er. Den mit den schönen Augen. Den, der dem jungen Paul Atreides so ähnlich sieht.