Das gefährlichste Spiel im Universum ist es, auf Basis hellseherischer Kräfte zu regieren. Unseres Erachtens sind wir weder weise noch mutig genug für dieses Spiel. Die hier dargelegten Regulationsmaßnahmen für Angelegenheiten von geringerer Bedeutung sind das Äußerste, was wir in Sachen Regierung wagen. Für unsere Zwecke entlehnen wir eine Definition von den Bene Gesserit und betrachten die unterschiedlichen Welten als Genpools, Quellen von Lehren und Lehrern, Quellen des Möglichen. Es ist nicht unser Ziel, zu herrschen, sondern diese Genpools anzuzapfen, zu lernen und uns von allen Fesseln der Abhängigkeit und der Regierung zu befreien.

– Aus: »Die Orgie als Werkzeug der Staatskunst« (Drittes Kapitel von »Die Gilde der Steuermänner«)

»Ist dort Ihr Vater gestorben?«, fragte Edric und richtete von seinem Tank aus ein Punktlicht auf eine der Reliefkarten, die die Wand von Pauls Empfangszimmer schmückten. Die Stelle war mit eingelassenen Edelsteinen markiert.

»Das ist sein Schädelschrein«, erwiderte Paul. »Gestorben ist mein Vater als Gefangener auf einer Harkonnen-Fregatte. Im Sink unter uns.«

»Ach ja, jetzt fällt mir die Geschichte wieder ein. Es hatte damit zu tun, dass er den alten Baron Harkonnen, seinen Blutfeind, töten wollte.« In der Hoffnung, nicht zu viel von dem Schrecken preiszugeben, den derart kleine Räume in ihm auslösten, drehte sich Edric im orangefarbenen Gas und richtete den Blick auf Paul, der auf einem langen, grau und schwarz gestreiften Diwan saß.

»Meine Schwester hat den Baron getötet. Kurz vor der Schlacht von Arrakeen«, sagte Paul in trockenem Tonfall und fragte sich dabei, warum der Fischmann von der Gilde hier und jetzt alte Wunden aufriss.

Edric befand sich bei dem Versuch, seine nervöse Angespanntheit im Zaum zu halten, offenbar auf einem Rückzugsgefecht. Von den schläfrigen Fischbewegungen bei ihrem vorangegangenen Zusammentreffen war nichts mehr zu erkennen. Seine winzigen Augen zuckten von hier nach dort, suchend, messend. Der eine Bedienstete, der ihn hier hinein begleitet hatte, wartete etwas abseits bei den Hauswachen, die links von Paul entlang der Wand aufgestellt waren. Der Bedienstete bereitete Paul Unbehagen – eine massige Gestalt mit dickem Hals, stumpfer Miene und leerem Blick. Der Mann hatte mit einem seltsamen Gang, die Hände in die Hüften gestemmt, den Salon betreten und dabei Edrics Tank auf dem Schwebefeld vor sich hergeschoben.

Scytale , hatte Edric ihn genannt. Scytale, ein Bediensteter.

Das Äußere des Bediensteten schrie geradezu vor Dummheit, doch seine Augen verrieten ihn. Sie lachten über alles, was sie sahen.

»Ihre Konkubine schien die Vorstellung der Gestalttänzer genossen zu haben«, sagte Edric. »Es erfreut mich, dass ich für ein wenig Zerstreuung sorgen konnte. Besonders gefallen hat mir ihre Reaktion, als die ganze Truppe auf einmal ihr eigenes Gesicht nachgeahmt hat.«

»Gibt es da nicht eine Warnung vor Gildenleuten, die Geschenke bringen?«, fragte Paul. Er dachte an die Vorstellung im Großen Saal zurück. Die Tänzer hatten den Raum in den Kostümen und Masken des Wüstentarots betreten und waren dann in einer scheinbar zufälligen Choreografie umhergesprungen, die sich schließlich in Feuerströme und uralte Wahrsagemuster aufgelöst hatte. Dann waren die Herrscher aufgetreten – eine Parade von Königen und Imperatoren wie Gesichter auf Münzen, von förmlicher, steifer Gestalt, aber doch seltsam fließend. Und schließlich der Humor: eine Kopie von Pauls Gesicht und Körper, Chani, die vervielfacht im Saal stand, sogar Stilgar (der geschnaubt hatte und leicht erschauert war, während die anderen gelacht hatten).

»Aber wir machen unsere Geschenke in freundlichster Absicht«, protestierte Edric.

»Wie freundlich können Sie sein? Der Ghola, den Sie uns geschenkt haben, glaubt, dass er geschaffen wurde, um uns zu zerstören.«

»Sie zu zerstören, Sire?« Edric war ganz ausdrucksloses Interesse. »Kann man einen Gott zerstören?«

Stilgar, der bei diesen letzten Worten eingetreten war, hielt inne und starrte die Wachen finster an. Sie standen viel weiter weg von Paul, als es ihm recht war. Zornig winkte er sie näher heran.

Paul hob die Hand. »Das ist schon in Ordnung, Stil. Wir führen hier ein Gespräch unter Freunden. Schieb den Tank des Botschafters doch bitte ans Ende meines Diwans.«

Stilgar wägte den Befehl ab und erkannte, dass sich der Tank des Steuermanns dadurch zwischen Paul und dem massigen Bediensteten befinden würde. Viel zu nah bei Paul, aber …

»Das ist schon in Ordnung, Stil«, wiederholte Paul und gab dabei das geheime Handzeichen, das dem Befehl Nachdruck verlieh.

Mit offensichtlichem Widerwillen schob Stilgar den Tank näher an Paul heran. Ihm gefiel weder, wie sich dieser Behälter anfühlte, noch der schwere, üppige Geruch der Melange, der ihn umgab. Dann stellte er sich an einer Ecke des Tanks auf, direkt unter dem im Kreis fliegenden Gerät, durch das der Steuermann sprach.

»Einen Gott töten«, sagte Paul. »Sehr interessant. Aber wer sagt, dass ich ein Gott bin?«

»Die, die Sie anbeten«, erwiderte Edric. Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf Stilgar.

»Ist es auch das, was Sie glauben?«

»Was ich glaube, ist nicht von Belang, Sire. Auf die meisten Beobachter macht es allerdings den Eindruck, dass Sie sich dazu verschworen haben, einen Gott aus sich zu machen. Und man könnte sich die Frage stellen, ob ein Sterblicher zu so etwas überhaupt in der Lage ist … ohne sich dabei in Gefahr zu bringen.«

Paul betrachtete den Gildenmann. Er war eine abstoßende Kreatur, aber scharfsinnig. Es handelte sich um eine Frage, die sich auch Paul selbst immer wieder gestellt hatte. Doch er hatte genug alternative Zeitpfade gesehen, um von schlimmeren Möglichkeiten zu wissen als jener, sich zum Gott erklären zu lassen. Sehr viel schlimmeren. Allerdings war es ungewöhnlich, dass ein Steuermann ihn zu derartigen Aspekten ausfragte. Ja, seltsam. Warum war diese Frage gestellt worden? Was hoffte Edric durch eine solche Unverfrorenheit zu gewinnen? In Pauls Kopf machte es klick! (die Vereinigung der Tleilaxu steckte hinter diesem Manöver) – klick! (der jüngste Dschihad-Sieg auf Sembou beeinflusste Edric in seinem Handeln) – klick! (hier zeigten sich verschiedene Bene-Gesserit-Glaubenssätze) – klick!  … Ein Prozess, der Tausende von Informationsbits umfasste, ratterte durch Pauls Computerbewusstsein. Das Ganze dauerte etwa drei Sekunden.

Dann fragte er: »Stellt ein Steuermann die Leitlinien der Vorahnens infrage?« Damit brachte er Edric auf denkbar schwankenden Boden.

Die Frage verstörte den Steuermann auch sichtlich, doch er bot eine gute Deckung auf. Seine Antwort klang nach einem langen Aphorismus: »Kein intelligenter Mann stellt die Tatsache infrage, dass Vorahnungen existieren, Sire. Die Menschheit kennt die Hellsicht seit uralten Zeiten. Und häufig verwickeln wir uns gerade dann in die Kräfte der Vorahnung, wenn wir am wenigsten damit rechnen. Glücklicherweise gibt es in unserem Universum noch andere Kräfte.«

»Größere Kräfte als die Vorahnung?«

»Wenn es nur die Vorahnung gäbe, würde sie sich selbst auslöschen, Sire. Nichts außer Vorahnung? Worauf ließe sie sich anwenden außer auf ihren eigenen Verfall?«

»Sie haben recht, man muss immer die menschliche Situation in Betracht ziehen.«

»Die im besten Falle prekär ist, selbst wenn sie nicht durch Halluzinationen verwirrt wird.«

»Sind meine Visionen also nicht mehr als Halluzinationen?«, fragte Paul in einem Ton gespielter Traurigkeit. »Oder wollen Sie andeuten, dass die, die mich verehren, halluzinieren?«

Stilgar, der die wachsende Spannung spürte, trat einen Schritt näher an Paul heran und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Gildenmann, der sich in seinem Tank zurücklehnte.

»Sie drehen mir das Wort im Mund herum, Sire.« Eine seltsame Andeutung von Gewalt lag in Edrics Worten.

Gewalt? Hier? , dachte Paul. Das würden sie nicht wagen! Es sei denn (und dabei warf er einen Blick auf seine Wachen), die Kräfte, die ihn beschützen, sollen dazu verwendet werden, ihn zu ersetzen. »Aber Sie werfen mir vor, dass ich mich dazu verschworen habe, mich selbst zum Gott zu machen«, sagte er so leise, dass nur Edric und Stilgar ihn hören konnten. »Eine Verschwörung?«

»Das war womöglich eine unglückliche Wortwahl, Mylord«, sagte Edric.

»Unglücklich, aber doch bemerkenswert. Sie verrät, dass Sie das Schlimmste von mir erwarten.«

Edric bog den Hals und warf Stilgar einen besorgten Seitenblick zu. »Von den Reichen und den Mächtigen wird stets das Schlimmste erwartet, Sire. Es heißt, dass die Menschen einen Aristokraten immer erkennen – nach außen hin zeigt er nur diejenigen Laster, die ihn beliebt machen.«

Ein Beben lief über Stilgars Gesicht, und diese Bewegung ließ Paul aufblicken. Er ahnte, was in Stilgars Kopf vorging, welch wütendes Flüstern dort erklang. Wie konnte es dieser Gildenmann wagen, so zu Muad’Dib zu sprechen?

»Sie scherzen natürlich nicht«, sagte Paul.

»Scherzen, Sire?«

Pauls Mund fühlte sich trocken an. Er spürte, dass sich in diesem Raum zu viele Personen aufhielten, dass die Luft, die er atmete, durch zu viele Lungen gegangen war. Der Melangegeruch aus Edrics Tank nahm eine bedrohliche Qualität an. Er fragte: »Und wer könnten meine Komplizen bei einer solchen Verschwörung sein? Wollen Sie den Qizarat dafür nominieren?«

Edrics Schulterzucken wirbelte das orangefarbene Gas um seinen Kopf herum auf. Stilgar schien ihm nun keine Sorgen mehr zu bereiten, auch wenn der alte Fremen ihn weiter finster anstarrte.

»Wollen Sie andeuten, dass meine Missionare der Heiligen Orden – und zwar alle  – subtile Unwahrheiten predigen?«, fragte Paul weiter.

»Es könnte sich um eine Frage von Eigeninteresse und Aufrichtigkeit handeln«, erwiderte Edric.

Stilgar legte die Hand an das Krismesser unter seiner Robe.

Paul schüttelte den Kopf und sagte: »Dann werfen Sie mir also Unaufrichtigkeit vor.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob vorwerfen das richtige Wort ist, Sire.«

Was für ein dreistes Geschöpf! , dachte Paul. Er sagte: »Ob es sich nun um einen Vorwurf handelt oder nicht, Sie behaupten damit, dass meine Kleriker und ich nicht besser sind als machthungrige Räuberbarone.«

»Machthungrig, Sire?« Wieder blickte Edric zu Stilgar. »Macht neigt dazu, diejenigen zu isolieren, die zu viel von ihr besitzen. Letztendlich verlieren sie den Bezug zur Wirklichkeit … und stürzen.«

»Mylord«, knurrte Stilgar neben Paul. »Du hast schon aus geringerem Anlass Männer hinrichten lassen.«

Paul nickte. »Männer, ja. Aber dies ist ein Gildengesandter.«

»Er beschuldigt dich einer lästerlichen Täuschung!«

»Seine Überlegungen interessieren mich, Stil. Halt deine Wut im Zaum und bleib wachsam.«

»Wie Muad’Dib befiehlt.«

Paul wandte sich wieder Edric zu. »Sagen Sie mir, Steuermann, wie könnten wir diesen hypothetischen Betrug über so gewaltige räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg aufrechterhalten ohne die Möglichkeit, jeden einzelnen Missionar zu überwachen und die Kloster und Tempel des Qizarats in allen Einzelheiten auszuforschen?«

»Was bedeutet für Sie schon Zeit?«, fragte Edric.

Sichtlich verwirrt runzelte Stilgar die Stirn. Muad’Dib hat oft gesagt, dass er zwischen den Schleiern der Zeit hindurchsieht , dachte er. Was will der Gildenmann damit wirklich sagen?

»Würde ein solches Lügengebäude nicht irgendwann Löcher aufweisen?«, fragte Paul. »Ernsthafte Meinungsverschiedenheiten, Schismen, Zweifel, Schuldeingeständnisse – all das ließe sich doch kaum durch einen Betrug unterdrücken.«

»Was Religion und Eigeninteresse nicht verbergen können, können Regierungen sehr wohl verbergen«, sagte Edric.

»Testen Sie die Grenzen meiner Toleranz aus?«, fragte Paul.

»Fehlt es meinen Argumenten an jeder Überzeugungskraft?«, erwiderte Edric blitzschnell.

Will er, dass wir ihn töten? , überlegte Paul. Hat Edric sich als Opfer zur Verfügung gestellt? »Ich bevorzuge eine zynische Sicht der Dinge«, sagte er. »Man hat Sie offenbar in allen Tricks der Staatskunst unterwiesen, in Doppeldeutigkeiten, in den täuschenden Worten der Macht. Für Sie ist Sprache nichts weiter als eine Waffe, und entsprechend stellen Sie gerade meine Rüstung auf die Probe.«

»Die zynische Sicht …« Edrics Mund spannte sich zu einem Lächeln. »Und Herrscher sind bekanntermaßen zynisch, wenn es um Religion geht. Auch die Religion ist eine Waffe. Welche Art von Waffe ist eine Religion, die zur Regierung wird?«

Paul spürte, wie er innerlich erstarrte, als hätte jede Zelle seines Körpers auf höchste Wachsamkeit umgeschaltet. Zu wem sprach Edric? Es waren verdammenswert kluge Worte, die unzählige Hebel zur Manipulation in sich bargen: der Unterton gelassener Belustigung, die unausgesprochene Andeutung geteilter Geheimnisse. Das Benehmen des Gildenmannes vermittelte, dass er und Paul kultiviert waren, Männer, die in einem größeren Universum lebten und vieles verstanden, was sich den einfachen Leuten entzog. Schockiert begriff Paul, dass er nicht das Ziel von Edrics Redekunst war. Die Worte dieser Zumutung an den Hof waren für die Ohren anderer bestimmt – die von Stilgar, die der Hauswachen – vielleicht auch die des massigen Bediensteten.

Paul räusperte sich und sagte: »Das religiöse Mana wurde mir auferlegt. Ich habe nicht danach gestrebt.« Und er dachte: Nun gut! Soll dieser Mensch-Fisch glauben, er hätte in unserer Schlacht der Worte gesiegt!

»Warum haben Sie es dann nicht zurückgewiesen, Sire?«, fragte Edric.

»Wegen meiner Schwester Alia«, erwiderte Paul und beobachtete Edric dabei aufmerksam. »Sie ist eine Göttin. Ich möchte Sie zur Vorsicht in Bezug auf Alia mahnen – sie könnte Sie mit ihrem Blick töten.«

Edrics Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen, das jedoch gleich von einem Ausdruck des Erschreckens ersetzt wurde.

»Ich meine es todernst«, sagte Paul, während er zusah, wie sich dieses Erschrecken auf dem Gesicht des Steuermanns ausbreitete. Stilgar nickte.

Mit düsterer Stimme sagte Edric: »Sie haben das Vertrauen, dass ich in Sie setzte, schwer beschädigt, Sire. Und zweifellos war genau das Ihre Absicht.«

»Seien Sie sich nicht zu sicher, meine Absichten zu kennen«, entgegnete Paul und bedeutete Stilgar, dass die Audienz beendet war.

Auf Stilgars fragende Geste, mit der der alte Fremen wissen wollte, ob Edric einem Mordanschlag zum Opfer fallen sollte, antwortete Paul mit einem abschlägigen Handzeichen, dem er noch zusätzlich Nachdruck verlieh, damit Stilgar die Sache nicht selbst in die Hand nahm.

Scytale, Edrics Helfer, ging zur hinteren Ecke des Tanks und schob ihn langsam Richtung Tür. Als er vor Paul stand, hielt er inne, richtete seinen Blick mit dem darin verborgenen Lachen auf ihn und sagte: »Wenn Mylord gestatten?«

»Ja?«, sagte Paul, und Stilgar trat, als Reaktion auf die implizite Bedrohung, näher an ihn heran.

»Manche behaupten, dass sich die Menschen an der imperialen Führung festklammern, weil der Raum unendlich ist«, sagte Scytale. »Ohne ein Symbol der Einheit fühlen sie sich einsam. Für ein einsames Volk ist der Imperator etwas Greifbares. Sie können sich ihm zuwenden und sagen: ›Seht, dort ist er. Er eint uns.‹ Vielleicht dient die Religion demselben Zweck, Mylord.«

Dann nickte Scytale freundlich, gab Edrics Tank einen weiteren leichten Stoß, und die beiden verließen den Raum – Edric ausgestreckt im orangefarbenen Gas, die Augen geschlossen. Der Steuermann wirkte, als hätte er sich völlig verausgabt, als hätte er alle seine nervlichen Energien erschöpft.

Paul sah der schlurfenden Gestalt Scytales nach und dachte über die Worte des Mannes nach. Ein sonderbarer Kerl, dachte er. Beim Sprechen hatte er den Eindruck vermittelt, eine Vielzahl von Personen zu sein  – als würde sein gesamtes genetisches Erbe auf seiner Haut zum Vorschein kommen.

»Das war seltsam«, murmelte Stilgar.

Während eine Wache die Tür hinter Edric und seinem Begleiter schloss, erhob sich Paul von seinem Diwan.

»Seltsam«, wiederholte Stilgar. An seiner Schläfe pochte eine Ader.

Paul dämpfte die Beleuchtung und trat an eines der Fenster, das sich zu einer schrägen Steinwand hin öffnete. Tief unten waren Lichter und Bewegungen zu erkennen. Ein Arbeitstrupp schaffte dort riesige Plasschmelzquader heran, um an Alias Tempel ein Stück Fassade zu reparieren, das durch die unerwarteten Wirbel eines Sandstrahlwinds beschädigt worden war.

Nach einer Weile sagte Stilgar: »Das war eine dumme Idee, Usul – ein solches Geschöpf in diese Räumlichkeiten einzuladen.«

Usul , dachte Paul. Mein Sietch-Name. Stilgar erinnert mich daran, dass er einst mein Herr war, dass er mich aus der Wüste gerettet hat.

»Warum hast du es getan?«, fragte Stilgar. Er stand dicht hinter Paul.

»Daten«, erwiderte Paul. »Ich benötige mehr Daten.«

»Ist es nicht gefährlich, dieser Bedrohung nur als Mentat begegnen zu wollen?«

Das war scharfsinnig , dachte Paul. Die Berechnungen eines Mentaten blieben immer endlich. Etwas Unbegrenztes konnte man nicht innerhalb der Begrenzungen einer Sprache ausdrücken. Mentatenfähigkeiten hatten jedoch durchaus ihren Nutzen. Das sagte Paul und forderte Stilgar damit zur Gegenrede heraus.

»Es gibt immer etwas, das sich außerhalb befindet«, sagte Stilgar. »Es gibt Dinge, die man am besten außerhalb lässt

»Oder innerhalb«, erwiderte Paul. Und für den Moment akzeptierte er seine eigene Schlussfolgerung als Hellseher/Mentat. Außerhalb, ja. Und innerhalb – hier lag das eigentliche Grauen. Wie konnte er sich vor sich selbst schützen? Zweifellos wollten sie ihn dazu bringen, sich selbst zu zerstören, aber er befand sich in einer Situation, in der er zwischen weitaus erschreckenderen Alternativen feststeckte.

Das Geräusch schneller Schritte riss ihn aus seinen Gedanken. Korba der Qizara stürmte durch die Tür, von hinten angestrahlt durch das helle Licht des Korridors. Wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben rannte er herein – und kam dann von einem Moment auf den anderen zum Stehen, als er feststellte, dass im Empfangszimmer Zwielicht herrschte. Offenbar hatte er die Hände voller Shigadrahtspulen. Sie glitzerten im Licht aus dem Korridor – seltsame kleine, runde Edelsteine, deren Glanz erlosch, als die Hand einer Wache erschien und die Tür schloss.

Korba spähte in die Schatten. »Mylord?«

»Was gibt es?«, fragte Stilgar.

»Stilgar?«

»Wir sind beide hier. Was gibt es?«

»Der Empfang des Gildenmannes beunruhigt mich.«

»Beunruhigt?«, sagte Paul.

»Mylord, das Volk sagt, dass du unseren Feinden Ehre erweist.«

»Ist das alles?« Paul deutete auf die Shigadrahtkugeln in Korbas Händen. »Sind das die Spulen, die ich dir zu holen aufgetragen habe?«

»Spulen? Oh! Ja, Mylord. Das sind die historischen Aufzeichnungen. Willst du sie hier ansehen?«

»Ich habe sie schon angesehen. Sie sind für Stilgar.«

»Für mich?« Stilgar empfand Verärgerung über etwas, das ihm wie eine Laune Pauls erschien. Historische Aufzeichnungen! Stilgar war zu Paul gekommen, um die logistischen Berechnungen für die Eroberung Zabulons durchzusprechen. Das Eintreffen des Gildenbotschafters hatte sie dabei unterbrochen. Und nun kam Korba mit historischen Aufzeichnungen!

»Wie viel weißt du über Geschichte?«, fragte Paul mit leiser Stimme, während er Stilgars Gestalt neben sich in den Schatten musterte.

»Mylord, ich kann alle Welten aufzählen, die unser Volk besucht hat. Ich kenne die fernsten Winkel des imperialen …«

»Und das Goldene Zeitalter der Erde – hast du dich damit jemals befasst?«

»Die Erde? Das Goldene Zeitalter?« Stilgar war verärgert und verwirrt. Warum wollte Paul über Mythen vom Anbeginn der Zeit reden? Stilgars Kopf war immer noch angefüllt mit den Zahlen und Daten von Zabulon: die Berechnungen des Mentatenstabs – zweihundertundfünf Angriffsfregatten mit je dreißig Legionen, Reservebataillone, Befriedungskader, Qizarat-Missionare … der Bedarf an Nahrungsmitteln (er hatte die Zahlen alle parat) und Melange … Waffen, Uniformen, Medaillen … Urnen für die Asche der Toten … die Zahl der Spezialisten  – Männer, die Propaganda-Rohmaterial erstellen würden, Sekretäre, Buchhalter … Spione … und Spione für die Spione …

»Ich habe auch den Impuls-Synchronisator dazu mitgebracht, Mylord«, sagte Korba, dem die Spannung zwischen Paul und Stilgar sichtlich unangenehm war.

Stilgar schüttelte den Kopf. Impuls-Synchronisator? Warum wollte Paul, dass er bei einem Shigadraht-Projektor ein mnemonisches Flattersystem verwendete? Warum sollte er in den historischen Aufzeichnungen nach bestimmtem Daten suchen? Das war Mentatenarbeit! Wie so oft stellte Stilgar fest, dass er bei dem Gedanken daran, einen Projektor und die dazugehörigen Geräte zu benutzen, ein tiefsitzendes Misstrauen empfand. Denn immer, wenn er das tat, tauchte er in verstörende Sinneswahrnehmungen ab – eine überwältigende Menge an Datenmaterial, die auf ihn einprasselte und die sein Verstand später sortierte. Und ihn dabei mit Wissen überraschte, von dem er nicht einmal geahnt hatte, dass er es besaß. »Mylord, ich bin wegen der Zabulon-Berechnungen gekommen«, sagte er.

»Dehydriere die Zabulon-Berechnungen!«, fuhr Paul ihn an, wobei er ein obszönes Fremen-Wort verwendete: das Wasser, das man nicht anrühren durfte, wollte man sich nicht erniedrigen.

»Mylord!«

»Stilgar, du musst ein Gefühl für Ausgewogenheit entwickeln, und das kannst du nur, indem du dich mit den langfristigen Auswirkungen von Ereignissen befasst. Korba hat die wenigen Informationen, die wir über die alten Zeiten haben – das kleine bisschen, das uns Butlers Kreuzzug hinterlassen hat –, für dich mitgebracht. Fang bei Dschingis Khan an.«

»Dschingis … Khan? War das ein Sardaukar, Mylord?«

»Oh, das war lange vor den Sardaukar. Er hat so um die … vier Millionen Menschen umgebracht.«

»Dann muss er über herausragende Waffen verfügt haben, Mylord. Lasbeams womöglich oder …«

»Er hat sie nicht selbst getötet, Stil. Er hat sie so getötet wie ich, indem er seine Truppen aussandte. Es gibt da noch einen weiteren Herrscher, den du dir näher ansehen solltest – einen Mann namens Hitler. Er hat über sechs Millionen umgebracht. Das war eine ziemliche Leistung für die damaligen Zeiten.«

»Hat er sie … mit seinen Legionen umgebracht?«

»Ja.«

»Das sind keine besonders beeindruckenden Zahlen, Mylord.«

»Mag sein, Stil.« Paul warf einen Blick auf die Spulen in Korbas Händen. Korba stand da, als hätte er sie am liebsten fallen gelassen und die Flucht ergriffen. »Wollt ihr Zahlen hören? Vorsichtigen Schätzungen zufolge habe ich einundsechzig Milliarden Menschen getötet, neunzig Planeten sterilisiert und fünfhundert weitere vollständig demoralisiert. Ich habe die Anhänger von vierzig Religionen ausgerottet, die es seit …«

»Ungläubige!«, zischte Korba. »Alles Ungläubige!«

»Nein«, sagte Paul. »Gläubige.«

»Mein Herr beliebt zu scherzen.« Korbas Stimme zitterte leicht. »Der Dschihad hat zehntausend Welten ins helle Licht des …«

»Er hat sie in die Finsternis gestoßen«, sagte Paul. »Wir werden hundert Generationen brauchen, um uns von Muad’Dibs Dschihad zu erholen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass jemand jemals diese Leistung übertreffen wird.« Plötzlich kam ein bellendes Lachen aus seiner Kehle.

»Was belustigt Muad’Dib?«, fragte Stilgar.

»Ich bin nicht belustigt. Ich habe nur gerade daran gedacht, dass Imperator Hitler vermutlich auch einmal etwas in der Art gesagt haben dürfte. Ja, zweifellos.«

»Es gab nie einen anderen Herrscher, der über Kräfte wie die deinen verfügte«, sagte Korba. »Wer würde es wagen, dich herauszufordern? Deine Legionen kontrollieren das ganze bekannte Universum und alle …«

»Die Legionen kontrollieren es«, sagte Paul. »Und ich frage mich, ob sie das wissen.«

»Du kontrollierst deine Legionen, Mylord«, warf Stilgar ein, und sein Tonfall machte deutlich, dass er sich mit einem Mal über seine Position in der Befehlskette bewusst wurde – darüber, welche Macht seine Hände lenkten.

Nachdem er Stilgars Gedanken in die gewünschten Bahnen gelenkt hatte, wandte Paul nun seine Aufmerksamkeit Korba zu. »Leg die Spulen hier auf den Diwan.« Korba gehorchte, und Paul fuhr fort: »Wie läuft der Empfang, Korba? Hat meine Schwester alles im Griff?«

»Ja, Mylord.« Korbas Stimme verriet Wachsamkeit. »Und Chani sieht durch das Guckloch zu. Sie vermutet, dass sich im Gefolge des Gildenmannes Sardaukar befinden.«

Paul nickte. »Damit hat sie zweifellos recht. Die Schakale sammeln sich.«

»Bannerjee«, sagte Stilgar und kam damit auf Pauls Sicherheitschef zu sprechen, »hat schon befürchtet, dass einige von ihnen versuchen könnten, in die Privatbereiche der Festung einzudringen.«

»Und ist ihnen das gelungen?«

»Bisher nicht.«

»Es gab allerdings etwas Verwirrung in den Palastgärten«, sagte Korba.

»Was für eine Verwirrung?«, fragte Stilgar.

Paul nickte.

»Fremde, die kamen und gingen«, sagte Korba. »Die die Beete zertrampelt und sich flüsternd unterhalten haben. Ich habe Berichte über einige beunruhigende Bemerkungen gelesen.«

»Zum Beispiel?«, fragte Paul.

»Dafür werden also unsere Steuern ausgegeben? Wie ich hörte, stammte dieser Satz vom Botschafter persönlich.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte Paul. »Haben sich viele Fremde in den Gärten aufgehalten?«

»Dutzende, Mylord.«

»Bannerjee hat an den gefährdeten Türen handverlesene Truppen aufgestellt, Mylord«, sagte Stilgar.

Der alte Fremen drehte sich beim Sprechen, sodass das gedämpfte Licht im Zimmer seine rechte Gesichtshälfte erhellte. Die eigenartige Beleuchtung, dieses vertraute Gesicht – all das berührte in Paul eine Erinnerung aus seiner Zeit in der Wüste. Paul brachte sie sich nicht voll zu Bewusstsein, sondern richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen darauf, wie sich Stilgar innerlich zurückzog. Auf der faltenlosen Stirn des Fremen spiegelte sich praktisch jeder Gedanke wider, der ihm durch den Kopf ging, und gerade war er argwöhnisch – zutiefst argwöhnisch angesichts des seltsamen Verhaltens seines Imperators.

»Es gefällt mir nicht, dass Leute in die Gärten eindringen«, sagte Paul. »Gastfreundschaft ist eine Sache, ebenso wie die formale Notwendigkeit, einen Gesandten zu begrüßen, aber das …«

»Ich lasse diese Leute entfernen«, sagte Korba. »Sofort.«

»Moment!«, zischte Paul, als sich Korba schon zum Gehen wandte.

In der plötzlichen Stille dieses Augenblicks bewegte sich Stilgar unmerklich in eine Position, von der aus er Pauls Gesicht sehen konnte. Er stellte sich dabei ziemlich geschickt an – Paul bewunderte ihn für die Art, wie er ganz subtil sein Ziel erreichte. Das war typisch für einen Fremen: eine Verstohlenheit, die sich mit dem Respekt vor der Privatsphäre eines anderen verband, eine Bewegung aus Notwendigkeit.

»Wie spät ist es?«, fragte Paul.

»Beinahe Mitternacht, Mylord«, erwiderte Korba.

»Korba, ich glaube, du bist meine gelungenste Schöpfung.«

»Mylord!« Korbas Stimme hatte einen verletzten Unterton.

»Empfindest du Ehrfurcht vor mir?«

»Du bist Paul-Muad’Dib, der in unserem Sietch Usul war. Du weißt, wie treu ich …«

»Hast du dich jemals als Jünger gesehen?«

Ganz offensichtlich missverstand Korba diese Frage, interpretierte ihren Tonfall jedoch richtig. »Mein Imperator weiß, dass mein Gewissen rein ist.«

»Shai-Hulud sei uns gnädig«, murmelte Paul.

Die Stille wurde nun von dem Pfeifen eines Mannes gebrochen, der draußen den Korridor entlang ging. Als sich der Pfeifende direkt auf der anderen Seite der Tür befand, herrschte ihn ein Wachtposten an, leise zu sein.

Paul sagte: »Korba, ich glaube, dass du all das überleben könntest.« Er sah in Stilgars Gesicht, dass auch der alte Fremen langsam begriff.

»Die Fremden in den Gärten, Mylord?«, sagte Stilgar.

»Ah, ja«, erwiderte Paul. »Bannerjee soll sie dort wegschaffen, Stil. Korba wird ihn dabei unterstützen.«

»Ich, Mylord?« Korba war sein tiefes Unbehagen anzumerken.

»Einige meiner Freunde haben vergessen, dass sie einmal Fremen waren«, sagte Paul an Korba gewandt, doch seine Worte waren für Stilgars Ohren bestimmt. »Du wirst dir diejenigen merken, die Chani als Sardaukar identifiziert, und dafür sorgen, dass sie getötet werden. Mach es selbst. Ich will, dass es leise und ohne unnötigen Aufruhr vonstatten geht. Wir dürfen nicht vergessen, dass Religion und Regierung mehr bedeuten als nur Abkommen und Predigten zu unterschreiben.«

»Ich befolge die Befehle Muad’Dibs«, flüsterte Korba.

»Und die Zabulon-Berechnungen?«, fragte Stilgar.

»Morgen«, sagte Paul. »Und wenn die Fremden aus den Gärten entfernt sind, verkündest du, dass der Empfang beendet ist. Die Party ist vorbei, Stil.«

»Ich verstehe, Mylord.«

»Da bin ich mir sicher.«