Frage: »Hast du den Prediger gesehen?«

Antwort: »Ich habe einen Sandwurm gesehen.«

Frage: »Was hat es mit dem Sandwurm auf sich?«

Antwort: »Er schenkt uns die Luft, die wir atmen.«

Frage: »Warum zerstören wir dann sein Land?«

Antwort: »Weil Shai-Hulud [der vergöttlichte Sandwurm] es befiehlt.«

– Rätsel von Arrakis, von Harq al-Ada

Wie es bei den Fremen Sitte war, standen die Atreides-Zwillinge eine Stunde vor Morgengrauen auf. Sie gähnten und streckten sich in heimlichem Einklang in ihren benachbarten Zimmern und spürten die Geschäftigkeit um sie herum. Sie hörten, wie die Bediensteten in der Vorkammer das Frühstück bereiteten, eine einfache Grütze mit Datteln und Nüssen, versehen mit einer von halbfermentiertem Gewürz abgeschöpften Flüssigkeit. Im Vorzimmer gab es Leuchtgloben, sodass ein sanfter gelber Schein durch die offenen Türbögen in die Schlafgemächer fiel. Die Zwillinge zogen sich rasch an, wobei jedes Kind das andere hörte. Sie waren übereingekommen, Destillanzüge zu tragen, um sich vor dem ausdörrenden Wüstenwind zu schützen.

Kurz darauf trafen sich die beiden im Vorzimmer, wo sie bemerkten, dass die Bediensteten ganz plötzlich verstummt waren. Leto trug einen hellbraunen Umhang mit schwarzem Saum über dem grauen, glatten Destillanzug. Seine Schwester hatte einen grünen übergeworfen. Am Hals wurden ihre Umhänge durch eine Brosche in der Form des Atreides-Falken zusammengehalten. Sie war aus Gold mit roten Edelsteinen als Augen.

Als Harah, eine von Stilgars Frauen, sah, wie sich die beiden Zwillinge herausgeputzt hatten, sagte sie: »Wie ich sehe, erweist ihr heute mit eurer Kleidung eurer Großmutter die Ehre.«

Leto nahm seine Frühstücksschale in die Hand, dann blickte er Harah in das dunkle, vom Wind gegerbte Gesicht. Er schüttelte den Kopf. »Woher willst du wissen, dass wir uns nicht selbst die Ehre erweisen?«

Unbeirrt begegnete Harah Letos spöttischen Blick und erwiderte: »Meine Augen sind genauso blau wie eure.«

Ghanima lachte laut auf. Seit jeher war Harah äußerst begabt im Fremenspiel der Rätselfragen. In einem einzigen Satz hatte sie gesagt: »Zieh mich nicht auf, Junge. Du magst von königlichem Geblüt sein, aber wir tragen beide das Mal der Gewürzabhängigkeit – Augen ohne Weiß. Welcher Fremen braucht darüber hinaus noch einen feinen Aufzug oder mehr Ehre?«

Leto lächelte und schüttelte reuig den Kopf. »Harah, meine Liebe, wenn du nur jünger wärst und nicht schon Stilgar gehören würdest, ich würde dich zu der Meinen machen.«

Harah nahm ihren kleinen Sieg ohne viel Aufhebens zur Kenntnis und bedeutete den anderen Bediensteten, die Gemächer weiter für diesen wichtigen Tag vorzubereiten. »Esst euer Frühstück. Ihr werdet heute Kraft brauchen.«

»Dann bist du auch der Meinung, dass wir uns nicht zu sehr für unsere Großmutter herausgeputzt haben?«, fragte Ghanima mit vollem Mund.

»Fürchtet sie nicht, Ghani«, sagte Harah.

Leto schluckte eine Portion Brei herunter und bedachte Harah mit einem durchdringenden Blick. Sie war eine bauernschlaue Frau, die das Spiel von Tand und Schein nur zu schnell durchschaute. »Wird sie denken, dass wir sie fürchten?«, fragte Leto.

»Das kann gut sein«, erwiderte Harah. »Denkt dran, dass sie unsere Ehrwürdige Mutter war. Ich kenne ihre Methoden.«

»Wie war denn Alia gekleidet?«, fragte Ghanima.

»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte Harah mit tonloser Stimme und wandte sich ab.

Leto und Ghanima wechselten einen Blick, der von geteilten Geheimnissen zeugte, dann beugten sie sich schnell wieder über ihr Frühstück. Nachdem sie es beendet hatten, traten sie auf den Hauptgang hinaus.

»Heute haben wir also eine Großmutter«, sagte Ghanima in einer der alten Sprachen, die sie durch ihre genetische Erinnerung miteinander teilten.

»Das macht Alia schwer zu schaffen«, erwiderte Leto.

»Ja, wer gibt schon gerne ein solches Maß an Autorität auf?«

Leto lachte leise, ein seltsam erwachsener Laut aus einem so jungen Körper. »Es ist mehr als das.«

»Werden die Augen ihrer Mutter sehen, was wir gesehen haben?«

»Warum sollten sie nicht?«

»Ja … vielleicht fürchtet sich Alia davor.«

»Wer erkennt eine Abscheulichkeit besser als eine andere Abscheulichkeit?«

»Denk daran, dass auch wir uns irren könnten.«

»Aber wir irren uns nicht.« Und Leto zitierte aus dem Buch Azhar der Bene Gesserit: »Es ist aus gutem Grund und schrecklicher Erfahrung heraus so, dass wir die Vorgeborenen als Abscheulichkeit bezeichnen. Denn wer weiß, welche verlorenen und verdammten Persönlichkeiten aus unserer bösen Vergangenheit das lebende Fleisch übernehmen können.«

»Ich kenne die Geschichte dahinter«, sagte Ghanima. »Aber, wenn das wahr ist, warum erleiden wir dann nicht diesen inneren Ansturm?«

»Vielleicht halten unsere Eltern in unserem Inneren Wache.«

»Und warum hat Alia keine Wächter?«

»Das weiß ich nicht. Es könnte daran liegen, dass von ihren Eltern niemand mehr unter den Lebenden weilt. Vielleicht ist der Grund auch einfach, dass wir noch jung und stark sind. Wenn wir älter und zynischer werden …«

»Wir müssen bei unserer Großmutter sehr vorsichtig sein.«

»Und nicht über den Prediger reden, der über den Planeten zieht und ketzerische Reden führt?«

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass er unser Vater ist?«

»Ich fälle darüber kein Urteil. Aber Alia fürchtet ihn.«

Ghanima schüttelte energisch den Kopf. »Ich glaube diesen Unsinn von den Abscheulichkeiten nicht.«

»Du hast ebenso viele Erinnerungen wie ich. Du kannst glauben, was du willst.«

»Du meinst, es liegt daran, dass wir im Gegensatz zu Alia nicht das Wagnis der Gewürztrance eingegangen sind.«

»Eben das meine ich.«

Sie verfielen in Schweigen und mischten sich unter die Menschen im Hauptgang. Es war kühl in Sietch Tabr, aber die Destillanzüge waren warm, und die Zwillinge hatten die Kondensationskapuzen zurückgeschlagen, sodass ihr rotes Haar gut sichtbar war. Ihre Gesichter verrieten ihre gemeinsamen Gene: volle Lippen und weit auseinanderstehende Augen, die im Blau-in-Blau des Gewürzabhängigen schimmerten.

Leto bemerkte als Erster, dass sich ihre Tante Alia näherte.

»Da kommt sie«, sagte er und wechselte in die Kampfsprache der Atreides, um seine Schwester zu warnen.

Alia blieb vor ihnen stehen, und Ghanima nickte ihrer Tante zu. »Eine Kriegsbeute grüßt ihre erhabene Verwandte«, sagte sie in Chakobsa und hob dabei die Bedeutung ihres eigenen Namens hervor: Kriegsbeute .

»Wie du siehst, geliebte Tante«, sagte Leto, »bereiten wir uns auf unsere Begegnung mit deiner Mutter vor.«

Alia, die einzige Person im königlichen Haushalt, die vom erwachsenen Verhalten der Zwillinge nicht im Geringsten überrascht war, warf Leto und Ghanima einen finsteren Blick zu. »Schweigt still, alle beide!«, zischte sie. Ihr bronzefarbenes Haar wurde hinten von zwei goldenen Wasserringen zusammengehalten. Auf ihrem ovalen Gesicht lag ein Stirnrunzeln, und ihre breiten Lippen mit den leicht nach unten gezogenen Mundwinkeln, die eine gewisse Verwöhntheit verrieten, waren fest zusammengepresst. Sie hatte fächerförmige Sorgenfalten in den Winkeln der ganz und gar blauen Augen. »Ich habe euch beide bezüglich eures Benehmens heute vorgewarnt«, fuhr sie fort. »Ihr kennt den Grund dafür genauso gut wie ich.«

»Wir kennen deine Gründe, aber vielleicht kennst du nicht die unseren«, erwiderte Ghanima.

»Ghani!«, knurrte Alia.

Leto bedachte seine Tante seinerseits mit einem finsteren Blick. »Heute werden wir nicht so tun, als wären wir einfältige Kleinkinder.«

»Niemand will, dass ihr euch einfältig zeigt«, sagte Alia. »Aber wir halten es für unklug, wenn ihr meine Mutter auf gefährliche Gedanken bringt. Irulan ist der gleichen Meinung. Wer weiß, für welche Rolle sich Lady Jessica entscheiden wird. Sie ist immerhin eine Bene Gesserit.«

Leto schüttelte den Kopf. Warum erkennt Alia nicht, was wir vermuten? , fragte er sich. Hat sie die Grenze schon zu weit überschritten? Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die subtilen Genmarker in Alias Gesicht, die auf ihren Großvater mütterlicherseits hindeuteten. Baron Vladimir Harkonnen war keine sehr angenehme Person gewesen. Als sich Leto das bewusst machte, spürte er, wie sich in ihm eine leise Unruhe regte. Er ist auch mein Vorfahr . Laut sagte er: »Man hat Lady Jessica zum Herrschen ausgebildet.«

Ghanima nickte. »Warum hat sie beschlossen, gerade jetzt zurückzukehren?«

Alia runzelte die Stirn. »Könnte es sein, dass sie einfach nur ihre Enkelkinder sehen will?«

Das hoffst du, liebe Tante , dachte Ghanima. Aber es ist sehr unwahrscheinlich.

»Sie kann hier nicht herrschen«, fuhr Alia fort. »Sie hat Caladan. Das muss ihr genügen.«

»Als unser Vater zum Sterben in die Wüste gegangen ist«, sagte Ghanima, »hat er dich als Regentin zurückgelassen. Er …«

»Willst du dich beschweren?«, unterbrach sie Alia unwirsch.

»Es war eine vernünftige Wahl«, sagte Leto. »Du warst die Eine, die wusste, wie es ist, wie wir geboren zu sein.«

»Den Gerüchten zufolge ist meine Mutter in den Schoß der Schwesternschaft zurückgekehrt«, sagte Alia. »Und ihr wisst beide, wie die Bene Gesserit über …«

»Abscheulichkeiten«, warf Leto ein.

»Ja!«, zischte Alia.

»Einmal eine Hexe, immer eine Hexe – so heißt es«, sagte Ghanima.

Schwester, du spielst ein gefährliches Spiel , dachte Leto und sagte: »Unsere Großmutter war eine einfachere Frau als andere ihrer Art. Du teilst ihre Erinnerungen, Alia. Du weißt doch sicher, was wir zu erwarten haben.«

»Einfacher!« Alia schüttelte den Kopf, blickte sich zu den vorbeiziehenden Menschen um und sah dann wieder die Zwillinge an. »Wenn meine Mutter so einfach wäre, gäbe es keinen von euch beiden. Und mich auch nicht. Ich wäre ihre Erstgeborene gewesen, und nichts von alledem …« Ein Zucken, das fast wie ein Schaudern aussah, ließ Alias Schultern erzittern. »Ich warne euch, nehmt euch heute gut in Acht.« Sie blickte auf. »Da kommt meine Wache.«

»Und du denkst immer noch, dass es nicht sicher für uns ist, dich zum Raumhafen zu begleiten?«, fragte Leto.

»Wartet hier«, wies Alia die Zwillinge an. »Ich bringe sie her.«

Leto sah kurz zu seiner Schwester, dann sagte er: »Du hast uns schon viele Mal gesagt, dass die Erinnerungen, die wir von unseren Vorfahren haben, nicht besonders nützlich sind, solange wir nicht in unseren eigenen Körpern genug Erfahrungen gemacht haben, um sie in etwas Wirkliches zu verwandeln. Meine Schwester und ich glauben das. Wir gehen davon aus, dass die Ankunft unserer Großmutter gefährliche Veränderungen zur Folge haben wird.«

»Dann glaubt das auch weiterhin«, sagte Alia. Sie wandte sich ab, trat zurück in den Schutz ihrer Wachen und ging mit ihnen rasch den Gang entlang zum Hauptportal, wo mehrere Ornithopter auf sie warteten.

Ghanima wischte sich eine Träne aus dem rechten Auge.

»Wasser für die Toten?«, flüsterte Leto und legte die Hand auf ihren Arm.

Ghanima holte tief seufzend Luft und dachte daran, was sie bei Alia mit den Methoden, die sie aus den gesammelten Erinnerungen ihrer Vorfahren am besten kannte, beobachtet hatte. »Kommt es von der Gewürztrance?«, fragte sie.

»Hast du eine bessere Idee?«

»Um der Diskussion willen: Warum ist unser Vater … oder unsere Großmutter … nicht dem gleichen Schicksal anheimgefallen?«

Für einen Moment sah Leto seine Schwester an. Dann sagte er: »Du kennst die Antwort auf diese Frage ebenso gut wie ich. Sie hatten bereits gefestigte Persönlichkeiten, als sie nach Arrakis kamen. Die Gewürztrance … nun …« Er zuckte mit den Schultern. »Bei ihrer Geburt waren sie noch nicht von ihren Vorfahren besessen. Alia hingegen …«

»Warum hat sie den Warnungen der Bene Gesserit keinen Glauben geschenkt?« Ghanima kaute auf ihrer Unterlippe. »Sie konnte doch auf die gleichen Informationen zurückgreifen wie wir.«

»Man hat sie bereits als Abscheulichkeit bezeichnet. Reizt es dich nicht, herauszufinden, ob du stärker bist als all diese …«

»Nein, das reizt mich nicht.« Unter dem forschenden Blick ihres Bruders wandte sich Ghanima ab und erschauerte. Sie musste nur auf ihre genetischen Erinnerungen zurückgreifen, damit die Warnungen der Schwesternschaft lebhafte Gestalt annahmen. Die Vorgeborenen neigten sichtlich dazu, als Erwachsene hässliche Gewohnheiten zu entwickeln. Und die wahrscheinliche Ursache dafür … Erneut erschauerte sie.

»Ein Jammer, dass wir nicht ein paar Vorgeborene unter unseren Ahnen haben«, sagte Leto.

»Vielleicht haben wir das ja.«

»Aber dann würden wir … Ah ja, die alte unbeantwortete Frage: Haben wir wirklich freien Zugriff auf das gesamte Erfahrungsmaterial unserer Vorfahren?« Sein eigener innerer Aufruhr ließ Leto erahnen, wie sehr dieses Gespräch seine Schwester verstören musste. Schon viele Male hatten sie über diese Frage nachgedacht und waren dabei nie zu einem Ergebnis gekommen. »Wir müssen es hinauszögern, wieder und wieder, wenn sie uns die Trance aufdrängen will«, sagte er. »Extreme Vorsicht, wenn es um hohe Gewürzdosen geht, das ist die beste Strategie.«

»Es müsste schon eine wirklich hohe Dosis sein«, sagte Ghanima.

»Ja, wir verfügen vermutlich über eine gewisse Toleranz. Denk nur daran, wie viel Alia braucht.«

»Sie tut mir leid. Das Gewürz war bestimmt eine unmerkliche Lockung für sie, bis eines Tages …«

»Sie ist ein Opfer, ja. Eben eine Abscheulichkeit.«

»Wir könnten uns irren.«

»Stimmt.«

»Ich frage mich immer, ob die nächste Erinnerung eines Vorfahren, die ich aufsuche, die von …«

»Die Vergangenheit ist nur so weit entfernt wie dein Kopfkissen.«

»Wir müssen eine Gelegenheit finden, mit unserer Großmutter darüber zu sprechen.«

Leto nickte. »Ja, dazu drängen mich ihre Erinnerungen in mir.«

Ghanima begegnete seinem Blick. »Zu viel Wissen führt niemals zu einfachen Entscheidungen.«