Ich höre den Wind über die Wüste wehen, und ich sehe die Monde einer Winternacht, die wie große Schiffe in der Leere aufsteigen. Ihnen gelobe ich: Ich werde unnachgiebig bleiben und das Regieren zur Kunst machen. Ich werde meine ererbte Vergangenheit in ein Gleichgewicht bringen und zur perfekten Lagerhalle für die Relikte meiner Erinnerung werden. Und man wird mich mehr für meine Güte als für mein Wissen kennen. Der Schein meines Gesichts wird durch die Korridore der Zeit fallen, solange es Menschen gibt.

– Letos Schwur, nach Harq al-Ada

Als sie noch sehr jung gewesen war, hatte Alia Atreides stundenlang die Prana-Bindu-Trance geübt, in dem Versuch, ihr Inneres gegen den Ansturm all der anderen zu stärken. Sie war sich des Problems bewusst – in einem Sietch konnte man der Melange nicht entkommen. Alles war damit verseucht: die Nahrung, das Wasser, die Luft, selbst die Tücher, in die sie nachts weinte. Schon sehr früh hatte sie erkannt, welchen Nutzen die Sietchorgie hatte, bei der der Stamm vom Todeswasser eines Wurms trank. In dieser Orgie gaben die Fremen dem angestauten Druck ihrer genetischen Erinnerungen nach und verweigerten sich ihnen gleichzeitig. Alia sah die zeitweilige Besessenheit der anderen bei diesen Orgien.

Für sie gab es kein derartiges Ventil. Und keine Verweigerung. Schon lange vor ihrer Geburt war sie zu Bewusstsein gekommen, und zu diesem Bewusstsein gehörte ein kataklysmisches Wissen um ihre Lage: gefangen im Mutterleib, in intensivem, unentrinnbarem Kontakt mit den Persönlichkeiten all ihrer Vorfahren sowie jener Identitäten, die Jessica im Gewürz-Tau übermittelt worden waren. Lange vor ihrer Geburt hatte Alia jedes bisschen Wissen in sich getragen, das eine Ehrwürdige Mutter der Bene Gesserit benötigte – und viel, viel mehr von all den anderen .

Dieses Wissen umfasste auch die Einsicht in eine fürchterliche Realität: die Abscheulichkeit. In seiner Totalität schwächte dieses Wissen Alia. Die Vorgeborenen waren immer präsent. Aber sie hatte gegen die schrecklicheren unter ihren Vorfahren gekämpft und einen Pyrrhussieg errungen, der zumindest für die Zeit ihrer Kindheit Bestand gehabt hatte. Sie hatte erlebt, wie es war, eine eigene Persönlichkeit zu besitzen, doch diese Persönlichkeit war nicht immun gegen das beiläufige Eindringen jener, die ihre gespiegelten Leben durch sie lebten.

Eines Tages werde auch ich so sein , dachte sie. Der Gedanke ließ sie schaudern. Durch das Leben eines Kindes ihrer eigenen Lenden zu wandeln, sich in ihm auszubreiten, in es einzudringen, sich nach seinem Bewusstsein zu recken, um ein winziges bisschen neuer Erfahrung zu erlangen …

Ihre ganze Kindheit über, bis in die Pubertät hinein, hatte ihr die Angst im Nacken gesessen. Sie hatte gegen sie angekämpft und nie um Hilfe gebeten. Wer hätte schon verstanden, welche Form von Hilfe sie brauchte? Ihre Mutter jedenfalls nicht. Jessica hatte nie das Schreckgespenst des Bene-Gesserit-Urteils über die Vorgeborenen vergessen: dass sie Abscheulichkeiten waren.

Und dann war die Nacht gekommen, in der ihr Bruder allein hinaus in die Dunkelheit gegangen war, um den Tod zu suchen und sich Shai-Hulud zu überantworten, wie man es von blinden Fremen erwartete. Noch im selben Monat hatte Alia Pauls Schwertmeister Duncan Idaho geheiratet, einen Mentaten, den die Künste der Tleilaxu ins Leben zurückgeholt hatten. Ihre Mutter war zurück nach Caladan geflohen. Pauls Zwillinge standen nun unter Alias Vormundschaft.

Und die Herrschaft lag in ihren Händen.

Nachdem die Last der Verantwortung ihr die alten Ängste ausgetrieben hatte, öffnete sie sich für ihre inneren Leben, holte ihren Rat ein und vertiefte sich auf der Suche nach leitenden Visionen in die Gewürztrance.

Die Krise kam an einem ganz gewöhnlichen Tag im Frühlingsmonat Laab, ein klarer Morgen, an dem ein kalter Wind vom Pol her über Muad’Dibs Festung wehte. Alia trug nach wie vor das Gelb der Trauer, die Farbe der sterilen Sonne. In den Wochen zuvor hatte sie sich der Stimme ihrer Mutter in ihr mehr und mehr verweigert, die sich darüber lustig machte, dass sich die Vorbereitungen für die kommenden heiligen Feiertage auf den Tempel konzentrierten.

Alias inneres Bewusstsein von Jessica verblasste immer mehr – und verschwand schließlich mit der gesichtslosen Forderung, dass sie sich lieber mit der Arbeit am Atreides-Gesetz befassen sollte. Andere Leben begannen, ihren Moment des Bewusstseins zu fordern, und Alia spürte, dass sie das Tor zu einem bodenlosen Abgrund geöffnet hatte, aus dem Gesichter aufstiegen wie ein Heuschreckenschwarm, bis sie sich auf ein bestimmtes, bestiengleiches unter ihnen konzentrierte: das des alten Barons Harkonnen. Sie hatte gegen den Aufruhr in ihrem Inneren angeschrien und sich einen Moment der Stille erkämpft.

An diesem Morgen machte Alia ihren üblichen Spaziergang vor dem Frühstück durch den Dachgarten der Festung. In einem neuen Versuch, die innere Schlacht zu gewinnen, versuchte sie, ihr Bewusstsein ausschließlich innerhalb der Bahnen von Chodas Tadel der Zensunni zu bewegen: »Wenn man die Leiter verlässt, kann man nach oben fallen!«

Doch der Morgenschimmer auf den Klippen des Schildwalls lenkte sie immer wieder ab. Widerstandsfähiges Flaumgras wuchs auf den Fußwegen des Gartens, und als Alia ihren Blick vom Schildwall löste, sah sie Tautropfen auf dem Gras, die gesammelte Ausbeute der Feuchtigkeit, die in der Nacht vorübergezogen war. Und sie sah sich selbst in den Tropfen – gespiegelt und vervielfacht.

Diese Vervielfachung ließ sie schwindeln, denn jedes Spiegelbild zeigte ein anderes Gesicht aus der Menschenmenge in ihrem Inneren.

Verzweifelt versuchte sie, sich auf die Rückschlüsse zu konzentrieren, die sich aus dem Gras ziehen ließen. Das Vorhandensein von Tau verriet, wie weit die ökologische Umwandlung des Planeten bereits fortgeschritten war. Das Klima in den nördlichen Breiten wurde wärmer, das Kohlendioxid in der Atmosphäre nahm zu. Sie dachte daran, wie viele Hektar Land im kommenden Jahr bepflanzt werden sollten – und über tausend Kubikmeter Wasser wurden gebraucht, um nur einen einzigen Hektar zu bewässern.

Aber trotz aller Versuche, gewöhnliche Gedanken zu denken, konnte sie die anderen, die in ihr drin wie Haie kreisten, nicht verdrängen. Sie legte die Hände an die Stirn und drückte fest dagegen.

Am Abend zuvor hatten ihr die Tempelwachen einen Gefangenen zum Aburteilen gebracht: ein gewisser Essas Paymon, ein dunkelhäutiger kleiner Mann, der angeblich im Dienste eines geringeren Hauses, der Nebiros, stand, das mit heiligen Artefakten und kleinen, handgefertigten Raumschmuckstücken handelte. Tatsächlich wusste man, dass Paymon ein Spion der MAFEA war, dessen Aufgabe darin bestand, die jährliche Gewürzernte zu schätzen. Alia hatte ihn gerade ins Verlies schicken wollen, als er laut gegen »die Ungerechtigkeit der Atreides« protestiert hatte. Das hätte ihm eigentlich einen sofortigen Tod am Dreibein eingebracht, doch seine Kühnheit hatte Alias Neugier geweckt. Sie hatte mit strenger Stimme von ihrem Urteilsthron herab gesprochen und versucht, ihm Angst zu machen, damit er noch mehr enthüllte, als er den Inquisitoren bereits verraten hatte.

»Warum ist unsere Gewürzernte von solchem Interesse für die Merkantile Allianz?«, hatte sie gefragt. »Wenn du es uns sagst, verschonen wir dich vielleicht.«

»Ich sammle lediglich etwas, für das es einen Markt gibt«, hatte Paymon geantwortet. »Ich weiß nicht, was mit dem, was ich ernte, getan wird.«

»Und für deine armseligen Profite störst du unsere königlichen Pläne?«

»Die Könige denken nie daran, dass wir vielleicht auch Pläne haben.«

Von seiner Dreistigkeit in Bann geschlagen hatte ihm Alia ein Angebot gemacht: »Essas Paymon, willst du für mich arbeiten?«

Ein Grinsen war auf Paymons dunkles Gesicht getreten, und er hatte gesagt: »Sie waren drauf und dran, mich ohne irgendwelche Skrupel auszulöschen. Welchen neuen Wert stelle ich plötzlich dar?«

»Du hast einen ganz einfachen und sehr praktischen Wert. Du bist kühn – und du lässt dich vom Höchstbietenden kaufen. Ich kann mehr bieten als jeder andere im Imperium.«

Worauf Paymon eine beachtliche Summe genannt hatte, die er für seine Dienste verlangte. Alia hatte gelacht und mit einem Betrag geantwortet, der ihr angemessener erschien und vermutlich immer noch weit größer war als alles, was er je zuvor erhalten hatte. Sie hatte hinzugefügt: »Und natürlich lege ich auch noch dein Leben als Geschenk oben drauf, dem du wohl einen noch deutlich höheren Wert beimisst.«

»Abgemacht!«, hatte Paymon gerufen, und auf ein Handzeichen Alias hin hatte ihr priesterlicher Zeremonienmeister Ziarenko Javid den Mann fortgebracht.

Weniger als eine Stunde später, als Alia gerade den Urteilssaal verlassen wollte, war Javid herbeigeeilt, um zu berichten, dass man gehört hatte, wie Paymon verhängnisvolle Zeilen aus der Orange-Katholischen Bibel gemurmelt hatte: »Maleficos non patieris vivere.«

»Du sollst nicht dulden, dass eine Hexe lebt« – so sah also seine Dankbarkeit aus, hatte Alia gedacht. Paymon gehörte zu denjenigen, die es auf ihr Leben abgesehen hatten. In einem Aufwallen von Zorn, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte, hatte sie Paymons sofortige Hinrichtung befohlen und hatte seinen Leichnam in die Todesdestille des Tempels schicken lassen, wo wenigstens noch sein Wasser einen gewissen Wert für den Tempel haben würde.

Und die ganze Nacht lang hatte sie Paymons dunkles Gesicht heimgesucht. Sie hatte all ihre Tricks gegen diese anklagende Erscheinung zum Einsatz gebracht, hatte den Bu Ji aus dem Fremenbuch des Kreos aufgesagt: »Nichts geschieht! Nichts geschieht!« Doch er hatte sie durch eine auslaugende Nacht in diesen schwindelnden neuen Tag begleitet, an dem sie feststellte, dass sein Gesicht unter denen war, die sich in den glitzernden Tautropfen spiegelten.

Eine Wachfrau rief sie von der Tür der Dachterrasse, die sich hinter einer niedrigen Mimosenhecke befand, zum Frühstück. Alia seufzte. Sie hatte das Gefühl, dass sie nur eine Wahl zwischen unterschiedlichen Höllen hatte: dem Geschrei in ihrem Kopf oder dem Geschrei ihrer Bediensteten und Sekretäre. All das waren sinnlose Stimmen, die dennoch nachdrückliche Forderungen stellten – Stundenglasgeräusche, die sie am liebsten mit einer Messerklinge zum Schweigen gebracht hätte.

Alia ignorierte die Wachfrau und sah über den Dachgarten hinweg Richtung Schildwall. Ein Bahada hatte ein breites, fächerförmiges Tal aus Geröll auf dem geschützten Boden ihres Reiches hinterlassen. Unter der Morgensonne breitete sich dieses Sanddelta vor ihr aus. Das Auge eines Uneingeweihten hätte diesen breiten Fächer wohl als Hinweis auf einen alten Flusslauf gedeutet, aber es handelte sich um die Stelle, an der ihr Bruder mit den Atomwaffen der Atreides den Schildwall gesprengt und so einen Weg aus der Wüste herein gebahnt hatte, für die Sandwürmer, die seine Frementruppen einem triumphalen Sieg über seinen Vorgänger als Imperator Shaddam IV. entgegengetragen hatten. Jetzt floss, damit keine Sandwürmer eindringen konnten, auf der anderen Seite des Schildwalls Wasser durch einen breiten Qanat. Die Geschöpfe überquerten kein offenes Wasser; es war Gift für sie.

Hätte ich doch nur einen solchen Schutzwall in meinem Kopf , dachte Alia. Der Gedanke verstärkte das schwindelnde Gefühl, losgelöst von der Wirklichkeit zu sein.

Sandwürmer! Sandwürmer!

Ihr Gedächtnis zeigte ihr eine Reihe von Sandwurmbildern: der mächtige Shai-Hulud, Demiurg der Fremen, die tödliche Bestie aus den Tiefen der Wüste, zu dessen Aussonderungen das unbezahlbare Gewürz gehörte. Was für eine seltsame Kreatur dieser Sandwurm doch war – wie er aus einer flachen, ledrigen Sandforelle heranwuchs. Die ausschwärmenden Sandforellen glichen der Menschenmenge in Alias Inneren. Wenn sie sich kollektiv gegen das Grundgestein des Planeten drückten, bildeten sie lebende Zisternen, hielten das Wasser eingeschlossen, damit ihr Sandwurmvektor gedeihen konnte. Alia spürte die Analogie: Einige der anderen hielten gefährliche Kräfte zurück, die sie zerstören konnten.

Wieder rief die Wachfrau sie zum Frühstück, diesmal mit hörbarer Ungeduld in der Stimme.

Wütend drehte Alia sich um und entließ sie mit einem Wink. Die Wachfrau gehorchte, aber sie schlug die Dachterrassentür laut zu.

Als sie das Knallen der Tür hörte, spürte Alia, wie sie alles, was sie zu verleugnen versucht hatte, einholte. Die anderen Leben brodelten in ihr empor wie eine Flutwelle. Jedes einzelne davon schob seine Fratze in ihr Blickfeld – eine Wolke von Gesichtern. Manche hatten kranke, fleckige Haut, andere zogen widerwärtige Mienen und lagen voll tiefer Schatten. Münder wie Zangen schoben sich vor. Der Schwarm flutete mit einer Macht über sie hinweg, die verlangte, dass sie sich in ihn hineinfallen, sich von ihm fortreißen ließ.

»Nein«, flüsterte sie. »Nein … nein … nein …«

Sie wäre zusammengebrochen, hätte sich neben ihr nicht eine Bank befunden, die ihrem niedersinkenden Körper Halt bot. Sie versuchte, sich zu setzen, aber es gelang ihr nicht, also streckte sie sich auf dem kalten Plastahl aus und flüsterte weiter ihr ungläubiges »Nein«.

Die Woge in ihr stieg weiter an. Alia war sich des Risikos bewusst, aber sie achtete auf jeden Ausruf der Münder, die in ihrem Inneren durcheinanderschrien. Eine Kakophonie von Stimmen: »Ich! Ich!« , »Nein, ich!« Sie wusste, dass sie, wenn sie nur ein einziges Mal einer davon ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte, verloren sein würde. Ein einziges Gesicht in der Menge anzusehen und der Stimme dieses Gesichts zu folgen, würde bedeuten, sich in den Bann der Egozentrik zu begeben, mit der sie ihr Dasein teilte.

»Das macht die Hellsicht mit einem«, flüsterte eine Stimme.

Alia bedeckte die Ohren mit den Händen und dachte: Ich bin nicht hellsichtig! Die Trance funktioniert bei mir nicht!

Aber die Stimme fuhr hartnäckig fort: »Vielleicht doch, wenn du Hilfe hättest.«

»Nein … nein.«

Andere Stimmen schlängelten sich durch ihren Kopf. »Ich, Agamemnon, dein Vorfahr, verlange Gehör!«

»Nein … nein.« Alia drückte die Hände fest auf die Ohren, bis ihr Körper mit Schmerzen reagierte.

Eine irre gackernde Stimme fragte: »Was ist aus Ovid geworden? Ganz einfach. Er ist niemand anderes als John Bartlett!«

Die Namen hatten für Alia keine Bedeutung. Sie wollte gegen sie anschreien und gegen all die anderen Stimmen, doch sie fand ihre eigene Stimme nicht.

Ihre Wachfrau, die von einer vorgesetzten Bediensteten zurück auf das Dach geschickt worden war, spähte durch die Tür hinter den Mimosen, erblickte Alia auf der Bank und sagte zu einer Begleiterin: »Ah, sie ruht sich aus. Dir ist doch aufgefallen, dass sie letzte Nacht nicht gut geschlafen hat. Es ist gut für sie, dass sie die Zaha einhält, die Morgenruhe.«

Alia hörte diese Worte nicht. Sie stand ganz im Bann eines kreischenden Gesangs. »Fröhliche alte Vögel sind wir, hurra!«, hallten die Stimmen in ihrem Schädel, und sie dachte: Ich werde wahnsinnig. Ich verliere den Verstand.

Ihre Füße auf der Bank machten klägliche Fluchtbewegungen. Sie hätte vielleicht entkommen können, wenn sie in der Lage gewesen wäre, ihrem Körper den Befehl zum Rennen zu geben. Sie musste entkommen, wenn sie nicht wollte, dass sie ein Teil der inneren Woge in ein tiefes Schweigen spülte und ihre Seele für immer verunreinigte. Aber ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Die größten Mächte des Imperiums folgten ihrer kleinsten Laune, aber nicht ihr Körper.

Eine neue Stimme in ihrem Innern kicherte und sagte: »Aus einem bestimmten Blickwinkel, mein Kind, stellt jeder schöpferische Vorfall eine Katastrophe dar.« Es war eine Bassstimme, die hinter ihren Augen grollte, und dann war erneut das Kichern zu hören, das klang, als machte es sich über den eigenen dozierenden Tonfall lustig. »Mein liebes Kind, ich helfe dir, aber dafür musst du auch mir helfen.«

Vor dem anschwellenden Getöse, das die Bassstimme begleitete, sagte Alia mit klappernden Zähnen: »Wer … wer …«

Ein grinsendes Gesicht fügte sich vor ihrem inneren Auge zusammen. Es war so unglaublich fett, dass es zu einem Baby hätte gehören können, hätte nicht ein so funkelnder Eifer in seinen Augen gelegen. Alia versuchte zurückzuweichen, doch stattdessen bekam sie einen größeren Ausschnitt zu sehen, der nun auch den Körper zu dem Gesicht zeigte. Er war wirklich abscheulich fett und in ein Gewand gekleidet, dessen leichte Ausbuchtungen verrieten, dass er tragbare Suspensoren als Stütze brauchte.

»Siehst du«, grollte die Bassstimme, »ich bin es nur, dein Großvater mütterlicherseits. Du kennst mich. Ich war der Baron Vladimir Harkonnen.«

»Du … du bist tot!«, ächzte Alia.

»Aber ja doch, meine Liebe! Die meisten von uns hier in dir sind tot. Aber die Lebenden wollen dir nicht wirklich helfen. Sie verstehen dich nicht.«

»Geh weg. Bitte, geh weg.«

»Aber du brauchst Hilfe, Enkeltochter.«

Was für ein außergewöhnliches Äußeres , dachte Alia, während sie hinter ihren geschlossenen Lidern das Bild des Barons betrachtete.

»Ich bin bereit, dir zu helfen«, sagte der Baron. »Die anderen hier würden nur darum kämpfen, dein gesamtes Bewusstsein zu übernehmen. Jeder einzelne von ihnen würde versuchen, dich zum Teufel zu jagen. Aber ich … ich will lediglich einen kleinen Winkel für mich.«

Einmal mehr hoben die anderen Leben in Alia zu einem großen Geschrei an, und die Woge drohte erneut, sie zu verschlingen. Alia hörte die kreischende Stimme ihrer Mutter und dachte: Sie ist nicht tot.

»Haltet den Mund!«, befahl der Baron.

Alia spürte, wie dieser Befehl durch ihr eigenes Wünschen verstärkt wurde, sodass er in ihrem ganzen Bewusstsein gehört wurde.

Stille durchspülte sie wie ein kühlendes Bad, und ihr pochendes Herz fand langsam zu einem normalen Rhythmus zurück. Die sanfte Stimme des Barons erklang: »Siehst du? Gemeinsam sind wir unbesiegbar. Du hilfst mir, und ich helfe dir.«

»Was … was willst du?«, flüsterte Alia.

Ein nachdenklicher Ausdruck trat auf das fette Gesicht. »Ach, meine liebste Enkeltochter. Ich wünsche mir nur einige einfache Freuden. Stell für mich dann und wann eine Verbindung zu deinen Sinnen her. Niemand muss je davon erfahren. Lass mich nur einen kleinen Bruchteil deines Lebens erfahren – wenn du beispielsweise in den Armen eines Liebhabers liegst. Ist das nicht ein kleiner Preis?«

»Ja … ja.«

»Gut.« Der Baron lachte leise. »Und im Gegenzug, meine geliebte Enkeltochter, kann ich dir in vielerlei Weise zu Diensten sein. Ich kann dich beraten, dir mit meinem Wissen zur Seite stehen. Du wirst innerlich und äußerlich unbesiegbar sein. Du wirst alle, die sich dir entgegenstellen, hinwegfegen. Die Geschichte wird deinen Bruder vergessen und stattdessen dich lieben. Die Zukunft wird dir gehören.«

»Du … lässt nicht zu, dass … die anderen die Kontrolle übernehmen?«

»Sie haben uns nichts entgegenzusetzen. Jeder für sich sind wir besiegbar, aber gemeinsam gebieten wir. Ich zeige es dir. Hör zu.« Der Baron verstummte, zog sein Bild, seine innere Anwesenheit zurück. Nicht eine einzige Erinnerung, kein Gesicht, keine Stimme der anderen Leben drängte sich nach vorne.

Alia gestattete sich ein zitterndes Seufzen. Zusammen mit dem Seufzer kam ein Gedanke. Er kam wie von selbst, aber Alia erahnte leise Stimmen dahinter. Der alte Baron war böse. Er hat deinen Vater ermordet. Er hätte auch dich und Paul getötet. Er hat es versucht und ist gescheitert.

Die Stimme des Barons erklang wieder, ohne dass er sein Gesicht zeigte. »Natürlich hätte ich dich getötet. Hast du mir denn nicht im Weg gestanden? Aber dieser Streit ist längst vorbei. Du hast ihn gewonnen, Kind. Du bist die neue Wahrheit.«

Alia spürte ihr Nicken daran, dass ihre Wange über die raue Oberfläche der Bank rieb. Seine Worte waren vernünftig, dachte sie. Ein Grundsatz der Bene Gesserit unterstrich diese Einschätzung: »Der Zweck eines Streits besteht darin, die Natur der Wahrheit zu verändern.«

Ja … so hätten es auch die Bene Gesserit gewollt.

»Genau!«, tönte die Stimme des Barons. »Und ich bin tot, während du lebst. Meine Existenz ist brüchig. Ich bin ein reines Erinnerungsselbst. Du kannst mir befehlen. Und wie wenig ich für den weisen Rat verlange, den ich geben kann!«

»Wozu rätst du mir jetzt?«, fragte Alia, um ihn auf die Probe zu stellen.

»Du zerbrichst dir den Kopf über das Urteil, das du gestern Abend gesprochen hast. Du fragst dich, ob der Bericht über Paymons Worte wahrheitsgemäß war. Vielleicht hat Javid in diesem Paymon ja eine Bedrohung für seine Vertrauensposition gesehen. Sind das nicht die Zweifel, die dich bestürmen?«

»Ja.«

»Und deine Zweifel gründen auf einer genauen Beobachtung. Javid verhält sich dir gegenüber zunehmend vertraulich. Selbst Duncan ist das schon aufgefallen, nicht wahr?«

»Das weißt du ebenso wie ich.«

»Nun gut. Dann nimm Javid zu deinem Geliebten und …«

»Nein!«

»Du machst dir Sorgen wegen Duncan? Aber dein Ehemann ist ein Mentatenmystiker. Fleischliche Dinge können ihn nicht berühren oder verletzen. Ist dir nicht schon aufgefallen, wie fern er dir ist?«

»Aber er …«

»Jener Teil von Duncan, der ein Mentat ist, würde dich verstehen, falls es jemals notwendig werden würde, ihn wissen zu lassen, mit welchen Mitteln du Javid vernichtet hast.«

»Vernichtet?«

»Aber ja! Man kann durchaus gefährliche Werkzeuge verwenden, doch wenn sie zu gefährlich werden, sollte man sich ihrer entledigen.«

»Warum soll ich dann … ich meine …«

»Ach, du herzallerliebstes Dummerchen! Wegen des Wertes, den eine derartige Lektion darstellt.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Mein liebes Enkelkind, wie gut Werte angenommen werden, hängt von ihrem Erfolg ab. Javids Gehorsam muss bedingungslos sein, er muss deine Autorität absolut anerkennen, und er muss …«

»Mir entzieht sich die Moralität dieser Lektion

»Sei nicht begriffsstutzig, Enkelkind. Moralität muss sich immer auf Praktikabilität gründen. Gebt dem Kaiser – und all dieser Unsinn. Ein Sieg ist nutzlos, wenn sich in ihm nicht deine tiefsten Wünsche widerspiegeln. Stimmt es nicht, dass du Javids Männlichkeit bewunderst?«

Alia schluckte. Sie gab es nur mit größtem Widerwillen zu, doch ihre völlige Nacktheit gegenüber dem Beobachter in ihrem Inneren ließ ihr keine andere Wahl. »Ja.«

»Gut!« Wie kameradschaftlich das in ihrem Kopf klang. »Jetzt verstehen wir uns langsam. Wenn er hilflos vor dir liegt, wenn er davon überzeugt ist, dass du in seinem Bann stehst, wirst du ihn nach Paymon fragen. Tu es im Scherz – ein gemeinsames Lachen. Und wenn er die Täuschung zugibt, stößt du ihm ein Krismesser zwischen die Rippen. Ah, fließendes Blut kann so viel zu deiner Befriedigung …«

»Nein«, flüsterte Alia mit vor Entsetzen trockenem Mund. »Nein … nein … nein.«

»Dann tue ich es für dich. Getan werden muss es, das gibst du doch zu. Wenn du nur die richtigen Umstände herbeiführst, werde ich zeitweilig die Kontrolle …«

»Nein!«

»Deine Angst ist so durchschaubar, Enkeltochter. Ich kann deine Sinne immer nur zeitweilig übernehmen. Es gibt andere, die könnten dich so perfekt nachahmen, dass … Aber das weißt du. Meine Anwesenheit, ahhh, würde den Leuten sofort auffallen. Du weißt, was das Gesetz der Fremen für Besessene vorsieht. Man würde dich kurzerhand töten. Ja, selbst dich. Und du weißt, dass ich das ganz sicher nicht will. Ich kümmere mich für dich um Javid, und sobald meine Aufgabe erledigt ist, räume ich meinen Platz wieder. Du musst nur …«

»Was soll an diesem Rat gut sein?«

»Ich erkläre dir, wie du dich von einem gefährlichen Werkzeug befreist. Und Kind, wir stellen dadurch außerdem eine Beziehung für unsere gemeinsame Arbeit her, aus der du nur Gutes für zukünftige Urteile lernen kannst, die …«

»Lernen?«

»Aber natürlich!«

Alia legte die Hände auf die Augen und versuchte nachzudenken, wohl wissend, dass diese Wesenheit in ihrem Inneren jeden ihrer Gedanken in Erfahrung bringen konnte, ja, dass ein Gedanke, den sie für den ihren hielt, sogar von ihm kommen konnte.

»Du machst dir unnötig Gedanken«, sagte der Baron besänftigend. »Dieser Paymon, nun, er war …«

»Was ich getan habe, war falsch. Ich war müde und habe übereilt gehandelt. Ich hätte mich erst vergewissern sollen.«

»Nein, du hast das Richtige getan. Deine Urteile können nicht auf so albernen Abstraktionen wie der Atreides-Vorstellung von Gleichheit gründen. Das ist es, was dich deinen Schlaf gekostet hat, nicht Paymons Tod. Du hast eine gute Entscheidung getroffen. Auch er war ein gefährliches Werkzeug. Du hast gehandelt, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Das ist ein guter Grund für Urteile und nicht dieser Gerechtigkeitsunsinn! So etwas wie gleiches Recht gibt es nirgendwo. Es bringt die Gesellschaft nur in Aufruhr, wenn man versucht, ein falsches Gleichgewicht herzustellen.«

Es bereitete Alia durchaus Wohlbehagen, dass ihr Urteil in dieser Weise gerechtfertigt wurde, aber gleichzeitig erschreckte sie das amoralische Konzept, das der Argumentation zugrunde lag. »Gleiches Recht war für die Atreides … es war …« Sie nahm die Hände von den Augen, hielt sie aber geschlossen.

»All deine Priesterrichter sollten für diesen Irrtum getadelt werden«, sagte der Baron. »Entscheidungen dürfen nur danach getroffen werden, ob sie geeignet sind, die Ordnung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Zahllose frühere Gesellschaften haben an den Klippen des gleichen Rechts für alle Schiffbruch erlitten. Mit solchen Albernheiten zerstört man die natürlichen Hierarchien, die weit wichtiger sind. Jede Einzelperson hat nur in ihrer Beziehung zur Gesellschaft als Ganzes Bedeutung. Wenn diese Gesellschaft nicht nach logischen Stufen geordnet ist, findet niemand einen Platz in ihr, weder der Niedrigste noch der Höchste. Komm, Enkelkind! Du musst die gestrenge Mutter deines Volkes sein. Es ist deine Pflicht, die Ordnung aufrechtzuerhalten.«

»Alles, was Paul getan hat, diente dazu …«

»Dein Bruder ist tot! Er ist gescheitert.«

»Und du auch!«

»Das ist wahr … aber in meinem Fall handelte es sich um einen Zufall, der sich meinen Plänen entzog. Und jetzt komm, kümmern wir uns um diesen Javid, so, wie ich es für dich beschrieben habe.«

Alia spürte, wie ihr Körper bei diesem Gedanken warm wurde, und sagte rasch: »Ich muss darüber nachdenken.« Und sie dachte: Wenn es zu etwas Derartigem kommt, dann nur, um Javid an seinen Platz zu verweisen. Dafür muss man ihn nicht töten. Und der Narr verrät sich vielleicht wirklich selbst – in meinem Bett.

»Mit wem sprechen Sie, Mylady?«, fragte jemand.

Einen verwirrten Augenblick lang glaubte Alia, dass es sich um eine weitere Störung aus der lärmenden Menge in ihrem Inneren handelte, aber als sie die Stimme erkannte, öffnete sie ihre Augen. Ziarenka Valefor, die Hauptfrau ihrer Wachamazonen, stand neben der Bank. Auf ihrem wettergegerbten Fremengesicht lag ein besorgtes Stirnrunzeln.

»Ich spreche mit den Stimmen in meinem Inneren«, sagte Alia und setzte sich auf. Sie fühlte sich überraschend erfrischt. Das Verstummen in ihrem Kopf gab ihr Auftrieb.

»Die Stimmen in Ihrem Innern, Mylady. Natürlich.« Ein Glänzen trat in Ziarenkas Augen. Alle wussten, dass die Heilige Alia Zugriff auf innere Ressourcen hatte, die keinem anderen Menschen zur Verfügung standen.

»Bring Javid in meine Gemächer«, befahl Alia. »Es gibt eine ernsthafte Angelegenheit, die ich mit ihm besprechen muss.«

»In Ihre Gemächer, Mylady?«

»Ja. In mein Privatgemach.«

»Wie Mylady befehlen.« Ziarenka wandte sich ab, um den Befehl zu befolgen.

»Einen Augenblick«, sagte Alia. »Ist Meister Idaho schon nach Sietch Tabr aufgebrochen?«

»Ja, Mylady. Er ist wie von Ihnen befohlen heute Morgen aufgebrochen. Soll ich nach …«

»Nein, ich kümmere mich selbst darum. Und Zia, niemand darf wissen, dass man Javid zu mir gebracht hat. Erledige es persönlich. Es handelt sich um eine sehr ernste Angelegenheit.«

Ziarenka berührte das Krismesser an ihrer Hüfte. »Mylady, gibt es eine Bedrohung …«

»Ja, es gibt eine Bedrohung, und Javid steht vielleicht in ihrem Zentrum.«

»Aber Mylady, vielleicht sollte ich ihn dann nicht …«

»Zia, glaubst du, ich wäre nicht dazu in der Lage, mit so jemandem fertigzuwerden?«

Ein wölfisches Lächeln umspielte Ziarenkas Mund. »Vergeben Sie mir, Mylady. Ich bringe ihn unverzüglich in Ihre Privatgemächer, aber wenn Mylady gestatten, werde ich draußen vor der Tür Wache halten.«

»Ja. Aber nur du.«

»Sehr wohl, Mylady. Ich mache mich sofort auf den Weg.«

Alia nickte und sah der sich entfernenden Ziarenka nach. Javid war also nicht besonders beliebt bei ihren Amazonenwachen. Wieder etwas, das gegen ihn sprach. Aber er war dennoch von Wert – von großem Wert. Er war ihr Schlüssel zu Jacurutu, und wenn dieser Ort ihr gehörte, dann …

»Vielleicht hast du recht, Baron«, flüsterte sie.

»Siehst du!«, lachte die Stimme in ihr. »Ah, das wird ein schöner Dienst, den ich dir erweise, Kind, und wir fangen gerade erst an.«