Ich will nicht der Behauptung der Fremen widersprechen, dass sie der göttlichen Inspiration folgen, eine religiöse Offenbarung zu übermitteln. Es ist der damit verbundene Anspruch auf eine ideologische Offenbarung, der mich dazu reizt, meinen Hohn über ihnen auszuschütten. Natürlich stellen sie diese doppelte Behauptung in der Hoffnung auf, dass sie ihr Mandarinat stärken und ihnen dabei helfen wird, in einem Universum zu überleben, das sie mehr und mehr als Unterdrücker empfindet. Ich warne die Fremen im Namen all dieser unterdrückten Menschen: Auf lange Sicht versagen kurzfristige Lösungen immer.

– Der Prediger in Arrakeen

In der Nacht war Leto mit Stilgar auf den schmalen Sims am Grat des niedrigen Felsvorsprungs gestiegen, den man in Sietch Tabr den Diener nannte. Im Licht des abnehmenden zweiten Mondes bot ihnen der Sims eine beeindruckende Aussicht: der Schildwall mit dem Berg Idaho im Norden, die Große Ebene im Süden und die wogenden Dünen, die bis zum Habbanya-Grat reichten, im Osten. Der wirbelnde Staub eines sich abschwächenden Sturms verbarg den südlichen Horizont. Mondlicht bestäubte den Rand des Schildwalls.

Stilgar hatte erst nicht hierherkommen wollen, aber schließlich hatte er sich der geheimen Unternehmung angeschlossen, weil Leto seine Neugier geweckt hatte. Warum war es nötig, in der Nacht den Weg über den Sand zu riskieren? Der Junge hatte damit gedroht, sich alleine fortzuschleichen, wenn sich Stilgar weigerte. Es machte dem Fremennaib allerdings schwer zu schaffen, wie das Ganze lief. Zwei so wichtige Ziele allein in der Nacht!

Das Gesicht der südlichen Ebene zugewandt, kauerte sich Leto auf den Sims und trommelte in unregelmäßigen Abständen wie in hilfloser Wut auf sein Knie.

Stilgar wartete. Er war gut darin, schweigend zu warten, und nun stand er mit verschränkten Armen zwei Schritte neben seinem Schutzbefohlenen. Sein Kapuzenmantel flatterte leicht in der nächtlichen Brise.

Für Leto war die Überquerung des offenen Sands eine Reaktion auf seine innere Verzweiflung. Sie stand für das Bedürfnis, eine neue Ausrichtung für sein Leben zu finden, diesen stillen Konflikt, den Ghanima nicht mehr riskieren konnte. Er hatte Stilgar dazu gebracht, an dem Ausflug teilzunehmen, weil es Dinge gab, die der Fremennaib zur Vorbereitung auf die kommenden Tage erfahren musste.

Einmal mehr schlug sich Leto auf das Knie. Es war schwer, einen festen Punkt auszumachen. Er fühlte sich zuweilen wie eine Verlängerung der zahllosen anderen Leben, die alle ebenso wirklich und unmittelbar waren wie sein eigenes, und im Fluss dieser Leben gab es kein Ende, keine erreichten Ziele – nur ewiges Beginnen. Sie konnten auch zu einem wilden Haufen werden, der auf ihn, das Fenster, durch das sie alle hindurchspähen wollten, einbrüllte. Darin lag die Gefahr, der Alia zum Opfer gefallen war.

Leto starrte auf das Mondlicht, das die Hinterlassenschaften des Sturms versilberte. Ineinander gefaltete Dünen erstreckten sich auf der Ebene. Quarzstaub, vom Wind verteilt und zu Wellen aufgehäuft – Erbsensand, Staubsand, Kiesel. Er fühlte sich gefangen in einem dieser Momente des Wartens unmittelbar vor Morgengrauen. Die Zeit trieb ihn vor sich her. Es war bereits der Monat Akkad, und hinter Leto lag das letzte Stück einer unbestimmbaren Wartezeit: lange, heiße Tage und trockene Winde, Nächte wie diese, geplagt von Böen und endlosem Wind aus dem Hochofen der Falkenbled. Er blickte über die Schulter zum Schildwall, eine unterbrochene Linie im Sternenlicht. Jenseits dieser Linie, im nördlichen Sink, lag der Fokus seiner Probleme.

Er wandte sich wieder der Wüste zu, und während er in die heiße Dunkelheit starrte, brach der Tag an. Die Sonne erhob sich aus Vorhängen von Staub und verlieh den roten Schlieren des Sturms eine gelbliche Note. Leto schloss die Augen und stellte sich vor, wie dieser Tag wohl aus Arrakeen’scher Perspektive aussehen würde. Die Stadt war wie eine Ansammlung von Kästen, eingeklemmt zwischen dem Licht und den neuen Schatten. Wüste … Kästen … Wüste … Kästen …

Als er die Augen wieder öffnete, war nur noch die Wüste da: eine gelbfarbene Weite windgepeitschten Sandes. Ölige Schatten streckten sich am Fuß jeder einzelnen Düne wie Überreste der gerade vergangenen Nacht. Sie verbanden eine Zeit mit der anderen. Leto dachte an die Nacht, daran, wie er hier mit dem ruhelosen Stilgar an seiner Seite kauerte und der Ältere sich wegen der unklaren Gründe für ihre Anwesenheit hier Sorgen machte. Bestimmt hatte Stilgar viele Erinnerungen daran, wie er hier mit Muad’Dib entlanggekommen war. Sein geliebter Muad’Dib. Auch jetzt bewegte sich Stilgar unaufhörlich, sah sich um, hielt wachsam nach Gefahren Ausschau. Stilgar war nicht gerne bei Tageslicht draußen. In dieser Hinsicht war er ganz der alte Fremen.

Nur widerwillig ließen Letos Gedanken die Nacht und die Anstrengung der Sandüberquerung hinter sich. Als sie zu den Felsen gelangt waren, hatte die Nacht ihr Gewand der schwarzen Stille angelegt. Er verstand Stilgars Angst vor dem Tageslicht. Das Schwarz war eine Einheit, selbst wenn es große Schrecken enthielt. Licht konnte vieles sein. Zur Nacht gehörten die Gerüche der Angst und all das, was sich mit schlängelnden Geräuschen näherte. In der Nacht trennten sich die Dimensionen voneinander, und alles wurde verstärkt: Dornen wurden spitzer, Klingen schnitten tiefer. Doch die Schrecken des Tages konnten viel schlimmer sein.

Stilgar räusperte sich.

Ohne sich umzudrehen, sagte Leto: »Ich habe ein sehr ernstes Problem, Stil.«

»Das habe ich schon vermutet.« Die Stimme neben Leto klang argwöhnisch. Das Kind hatte verstörend nach dem Vater geklungen – Ausweis einer verbotenen Magie, die in Stilgar Ekel auslöste. Die Fremen kannten die Schrecken der Besessenheit . Diejenigen, die man für besessen befand, wurden Recht und Gesetz entsprechend getötet, und ihr Wasser wurde in den Sand geschüttet, damit es die Stammeszisterne nicht vergiftete. Die Toten sollten tot bleiben. Es war richtig, in seinen Kindern die Unsterblichkeit zu suchen, aber Kinder hatten kein Recht darauf, die exakte Form der Vergangenheit anzunehmen.

»Mein Problem ist, dass mein Vater so vieles unvollendet gelassen hat«, sagte Leto. »Vor allem die Ausrichtung unseres Lebens. Das Imperium kann nicht so weitermachen, Stil, ohne eine vernünftige Ausrichtung für das menschliche Leben. Ich spreche vom Leben, verstehst du? Leben, nicht Tod.«

»Dein Vater hat einmal Ähnliches zu mir gesagt, als ihn eine Vision plagte.«

Leto war versucht, die Angst, die neben ihm zu spüren war, mit irgendeiner Beiläufigkeit zu zerstreuen, vielleicht mit dem Vorschlag, zu frühstücken. Er stellte fest, dass er sehr hungrig war. Sie hatten am Vortag zu Mittag gegessen, und Leto hatte darauf bestanden, die Nacht über zu fasten. Doch nun nagte ein anderer Hunger an ihm.

Das Problem mit meinem Leben ist das Problem dieses Orts , dachte er. Es gibt keine vorgängige Schöpfung. Ich reiche zurück und zurück und zurück, bis die Entfernungen verblassen. Ich kann den Horizont nicht sehen. Ich kann den Habbanya-Grat nicht sehen. Ich kann den ursprünglichen Ort der Prüfung nicht finden.

Er sah Stilgar an. »Es gibt keinen Ersatz für die Hellsicht. Vielleicht sollte ich es doch mit dem Gewürz riskieren …«

»Und vernichtet werden, genau wie dein Vater?«

Leto nickte. »Ein Dilemma.«

»Dein Vater hat mir einmal anvertraut, dass man, wenn man die Zukunft zu gut kennt, auf sie festgelegt ist und keinerlei Freiheit mehr hat, sie zu verändern.«

»Dieses Paradoxon ist unser Problem. Die Hellsicht ist etwas ebenso Vertracktes wie Mächtiges. Die Zukunft wird zum Jetzt. Der Sehende im Land der Blinden zu sein, bringt seine eigenen Gefahren mit sich. Wenn man versucht, das, was man sieht, für die Blinden zu deuten, vergisst man dabei leicht, dass den Blinden ein Bewegungsmoment innewohnt. Sie sind wie eine monströse Maschine, die ihrem eigenen Weg folgt. Sie haben ihren eigenen Antrieb, ihre eigenen Fixierungen. Ich fürchte die Blinden, Stil, ich fürchte sie. Sie können so leicht alles in ihrer Bahn niederwalzen.«

Stilgar blickte auf die Wüste. Die gelbe Dämmerung hatte sich in einen stahlblauen Tag verwandelt. »Warum sind wir hierhergekommen?«

»Weil ich wollte, dass du den Ort siehst, an dem ich vielleicht sterbe.«

Stilgar zuckte innerlich zusammen. »Dann hattest du also eine Vision.«

»Vielleicht war es nur ein Traum.«

»Warum suchen wir einen so gefährlichen Ort auf?« Der Fremen starrte seinen Schutzbefohlenen finster an. »Wir kehren unverzüglich zurück.«

»Heute sterbe ich nicht, Stil.«

»Nein? Was war das für eine Vision?«

»Ich habe drei Wege gesehen.« Letos Stimme hatte den schläfrigen Klang eines Menschen, der sich in Erinnerungen verlor. »Eine dieser Zukünfte erfordert es, dass ich unsere Großmutter töte.«

Stilgar warf einen kurzen Blick zurück zum Sietch Tabr, als fürchtete er, Lady Jessica könnte sie über den Sand hinweg hören. »Warum?«

»Damit wir nicht das Gewürzmonopol verlieren.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht. Aber das ist der Gedanke, den ich im Traum denke, wenn ich mit dem Messer zustoße.«

»Oh.« Stilgar verstand sich auf den Einsatz von Messern. Er holte tief Luft. »Was ist der zweite Weg?«

»Ghani und ich heiraten, um die Blutlinie der Atreides abzuschirmen.«

»Aah!« Mit einem heftigen Schnauben brachte Stilgar seine Abscheu zum Ausdruck.

»In uralten Zeiten war das für Könige und Königinnen nichts Ungewöhnliches. Ghani und ich haben beschlossen, uns nicht miteinander fortzupflanzen.«

»Ich warne dich, bleib lieber bei dieser Entscheidung«, sagte Stilgar mit düsterer Stimme. Nach dem Gesetz der Fremen wurde Inzest mit dem Tod am Dreibein bestraft. Er räusperte sich. »Und der dritte Weg?«

»Ich werde dazu berufen, meinen Vater auf eine menschliche Größe zurechtzustutzen.«

»Muad’Dib war mein Freund.«

»Er war dein Gott. Ich muss ihn entgöttlichen.«

Stilgar wandte sich von der Wüste ab und blickte auf die Oase seines geliebten Sietch Tabr hinunter. Solche Gespräche verstörten ihn.

Leto spürte den verschwitzten Geruch von Stilgars Bewegung. Die Versuchung, die Worte, die hier gesprochen werden mussten, für sich zu behalten, war groß. Sie konnten den halben Tag so dahinreden und dabei vom Bestimmten zum Allgemeinen kommen, als zöge sie etwas von den tatsächlichen Entscheidungen fort, von den unmittelbaren Notwendigkeiten, denen sie sich gegenübersahen. Denn es bestand kein Zweifel daran, dass das Haus Corrino eine reale Bedrohung für ihr Leben darstellte – für seines und für Ghanis. Aber alles, was er nun tat, musste gegen die geheimen Notwendigkeiten abgewogen werden. Stilgar hatte bereits einmal dafür gestimmt, Farad’n ermorden zu lassen, und den Einsatz von Chaumurky empfohlen, ein Gift, das in einem Getränk verabreicht wurde. Es war bekannt, dass Farad’n eine Vorliebe für süße Liköre hatte. Doch das konnte nicht gestattet werden.

»Wenn ich hier sterbe, Stil, dann musst du dich vor Alia in Acht nehmen. Sie ist nicht mehr deine Freundin.«

»Was soll dieses Gerede vom Tod und von deiner Tante?« Nun war Stilgar wirklich wütend. Lady Jessica töten! Sich vor Alia in Acht nehmen! An diesem Ort sterben!

»Kleine Männer wechseln auf Alias Befehl hin das Gesicht. Ein Herrscher muss kein Prophet sein, Stil. Nicht einmal gottgleich. Ein Herrscher muss nur aufmerksam sein. Ich habe dich hierhergebracht, um dir zu verdeutlichen, was das Imperium braucht. Es braucht eine gute Regierung. Und die hängt nicht von Gesetzen oder Präzedenzfällen ab, sondern von den persönlichen Qualitäten der Herrschenden, um wen auch immer es sich dabei handelt.«

»Die Regentin erledigt ihre Aufgaben für das Imperium recht gut. Wenn du erst einmal erwachsen bist …«

»Ich bin erwachsen! Ich bin der Älteste hier. Du bist ein winselnder Säugling verglichen mit mir. Ich kann mich an Zeiten erinnern, die über fünfzig Jahrhunderte zurückliegen. Ha! Ich erinnere mich sogar daran, wie wir Fremen noch auf Thurgrod waren.«

»Warum spielst du mit solchen Fantasiegespinsten herum?«

Leto nickte. Ja, warum? Warum sollte er von seinen Erinnerungen an diese vergangenen Jahrhunderte erzählen? Sein Problem waren die Fremen von heute, die meisten davon nur halb gezähmte Wilde, die über glücklose Unschuld lachten. »Das Krismesser löst sich beim Tod seines Besitzers auf. Das von Muad’Dib hat sich aufgelöst. Warum leben die Fremen noch?«

Es war einer dieser plötzlichen Gedankensprünge, die Stilgar immer ratlos zurückließen. Letos Worte vermittelten durchaus einen Sinn, doch die Absicht, die sich hinter ihnen verbarg, entzog sich ihm.

Leto warf Stilgar über die Schulter einen Blick zu. »Man erwartet von mir, der Imperator zu sein, aber ich muss dienen. Mein Großvater, nach dem man mich benannt hat, hat seinem Wappen neue Worte hinzugefügt, als er nach Arrakis kam: ›Hier bin ich. Hier bleibe ich.‹«

»Er hatte keine Wahl.«

»Ganz genau, Stil. Und ich habe auch keine. Ich sollte von Geburt wegen Imperator sein, nach allem, was ich weiß, nach allem, was sich in mir versammelt hat. Ich weiß sogar, was das Imperium braucht – eine gute Regierung.«

»Das Wort Naib hat eine alte Bedeutung. Sie lautet: Diener des Sietch.«

»Ich erinnere mich an deine Ausbildung, Stil. Für eine vernünftige Regierung muss der Stamm die Möglichkeit haben, Männer zu wählen, deren Leben die für eine Regierung wünschenswerten Verhaltensweisen widerspiegeln.«

Aus den Tiefen seiner Fremenseele erwiderte Stilgar: »Du wirst die Robe des Imperators überstreifen, wenn es an der Zeit dafür ist. Erst musst du beweisen, dass du in der Lage bist, dich wie ein Herrscher zu verhalten.«

Leto lächelte. »Zweifelst du an meiner Aufrichtigkeit, Stil?«

»Natürlich nicht.«

»An meinem Geburtsrecht?«

»Du bist, wer du bist.«

»Und wenn ich tue, was man von mir erwartet, dann ist das das Maß meiner Aufrichtigkeit, nicht wahr?«

»So halten es die Fremen.«

»Dann kann ich mein Verhalten nicht von inneren Gefühlen lenken lassen?«

»Ich verstehe nicht, was …«

»Wenn ich mich immer gemäß den Regeln verhalte, egal, was es mich kostet, meine eigenen Wünsche zu unterdrücken, dann wird man mich daran messen.«

»Das ist die Essenz der Selbstkontrolle, Junge.«

»Junge!« Leto schüttelte den Kopf. »Ach, Stilgar, du gibst mir den Schlüssel zu einer rationalen Ethik des Regierens. Ich muss auf Konstanz achten, und jede meiner Handlungen muss in den Bräuchen der Vergangenheit verwurzelt sein.«

»So ist es angemessen.«

»Aber meine Vergangenheit reicht tiefer als deine.«

»Welchen Unterschied …«

»Für mich gibt es keine erste Person Singular, Stil. Ich bin eine Vielheit von Personen mit Erinnerungen an Bräuche, die weit älter sind, als du es dir vorstellen kannst. Das ist meine Bürde. Ich werde von der Vergangenheit gelenkt. Ich bin randvoll mit Wissen, das sich dem Neuen und der Veränderung widersetzt. Und doch hat Muad’Dib all dies verändert.« Leto deutete auf die Wüste und dann auf den Schildwall hinter ihnen.

Stilgar sah zum Schildwall. In den Zeiten nach Muad’Dib war ein Dorf unterhalb der Mauer entstanden, Häuser für die Planetologen, die bei der Ausbringung von pflanzlichem Leben in der Wüste halfen. Veränderung? Ja. Das Dorf hatte eine Gesinnung, eine Wahrhaftigkeit, die Stilgar beleidigte. Schweigend stand er da und achtete nicht auf die Staubpartikel, die in seinen Destillanzug eingedrungen waren und ihn juckten. Dieses Dorf war eine Missachtung dessen, was der Planet einst gewesen war, und plötzlich wünschte sich Stilgar, dass ein Windwirbel über die Dünen sprang und die Häuser zerstörte. Das Gefühl ließ ihn zitternd zurück.

Leto lächelte wieder. Dann sagte er: »Stil, ist dir aufgefallen, dass die neuen Destillanzüge schlampig gefertigt sind? Wir verlieren zu viel Wasser.«

Stilgar hielt sich gerade noch zurück. Er erwiderte nicht: Habe ich das nicht gesagt? Sondern: »Unser Volk wird zunehmend von den Pillen abhängig.«

Leto nickte. Die Pillen veränderten die Körpertemperatur und verringerten den Wasserverlust. Sie waren billiger und einfacher zu verwenden als Destillanzüge. Aber sie schufen neue Probleme. Unter anderem verlangsamten sie die Reaktionszeit und führten zu verschwommener Sicht.

»Sind wir deshalb hier draußen?«, fragte Stilgar. »Um über die Qualität von Destillanzügen zu sprechen?«

»Warum nicht? Da du dich dem, worüber ich reden muss, nicht stellen willst …«

»Warum sollte ich mich vor deiner Tante in Acht nehmen?« Die Wut verlieh Stilgars Stimme einen scharfen Klang.

»Weil sie mit dem alten Bedürfnis der Fremen spielt, sich Veränderungen zu widersetzen, und doch furchtbarere Veränderungen bringen würde, als du es dir vorstellen kannst.«

»Du machst eine so große Sache aus einer Kleinigkeit. Alia ist eine wahre Fremen.«

»Ah, dann hält sich ein wahrer Fremen also an die Bräuche der Vergangenheit – und meine Vergangenheit geht bis in uralte Zeiten zurück. Stil, wenn ich dieser Neigung nachgeben würde, müsste ich eine geschlossene Gesellschaft verlangen, die einzig und allein auf die heiligen Bräuche der Vergangenheit baut. Ich würde alle Wanderungsbewegungen kontrollieren, mit der Erklärung, dass sie neue Ideen bringen und neue Ideen eine Bedrohung für unsere Lebensweise darstellen. Jede planetare Polis würde ihrer eigenen Wege gehen, und schließlich würde das Imperium unter dem Gewicht seiner Unterschiede zerbrechen.«

Stilgar schluckte mit trockener Kehle. Das waren Worte, die von Muad’Dib hätten stammen können. Sie waren paradox, Furcht einflößend. Aber wenn man auch nur die geringste Veränderung zuließ … Er schüttelte den Kopf.

»Die Vergangenheit zeigt vielleicht, wie man sich zu verhalten hat, wenn man in der Vergangenheit lebt, Stil, aber die Umstände ändern sich.«

Stilgar konnte Leto darin nur beipflichten. Die Umstände änderten sich. Wie musste man sich dann verhalten? Er blickte an Leto vorbei, sah die Wüste und sah sie doch nicht. Muad’Dib war dort gewandelt. Während die Sonne höher stieg, wurde die Ebene zu einem Ort goldener und violetter Schatten und von Staubkämmen gekrönter Sandströme. Der Staubnebel, der normalerweise über dem Habbanya-Grat hing, war nun in weiter Ferne sichtbar, und die Wüste dazwischen zeigte sich als Aneinanderreihung kleiner werdender Dünen, die ineinander übergingen. Durch den dunstigen Hitzeschimmer sah Stilgar die Pflanzen, die sich am Rande der Wüste vortasteten. Durch Muad’Dib war in dieser Ödnis Leben gesprossen. Kupfer und Gold, rote Blumen, gelbe Blumen, Rosttöne, graugrüne Blätter, Dornen und scharfkantiges Dunkel unter den Büschen. Die aufsteigende Tageshitze ließ Luft und Schatten flimmern. Nach einer Weile sagte er: »Ich bin nur ein Fremenanführer. Du bist der Sohn eines Herzogs.«

Leto seufzte. »Ohne zu wissen, was du gesagt hast, hast du es doch gesagt.«

Stilgar verzog das Gesicht. Einmal, vor langer Zeit, hatte Muad’Dib ihn in ähnlicher Weise getadelt.

»Du erinnerst dich, nicht wahr, Stil? Wir standen am Habbanya-Grat, und der Sardaukar-Hauptmann – erinnerst du dich auch an ihn? Aramsham? Er hat seine Freunde getötet, um sich selbst zu retten. Und du hast an jenem Tag mehrere Male davor gewarnt, Sardaukar am Leben zu lassen, die unsere geheimen Pfade gesehen hatten. Am Ende hast du gesagt, dass sie mit Sicherheit von dem Gesehenen erzählen würden, dass man sie also töten musste. Und mein Vater erwiderte: ›Ohne zu wissen, was du gesagt hast, hast du es doch gesagt.‹ Das hat dich verletzt. Du hast ihm gesagt, dass du nur ein einfacher Fremenanführer bist. Herzöge müssen Wichtigeres wissen.«

Stilgar sah an Leto an. Wir standen am Habbanya-Grat! Wir! Dieses … dieses Kind, das an jenem Tag noch nicht einmal gezeugt worden war, wusste bis in die kleinste Einzelheit, was dort geschehen war, so genau, wie es nur jemand wissen konnte, der dabei gewesen ist. Ein weiterer Beweis dafür, dass man die Atreides-Kinder nicht nach gewöhnlichen Maßstäben beurteilen konnte.

»Und jetzt hör mir zu, Stil«, fuhr Leto fort. »Wenn ich sterbe oder in der Wüste verschwinde, dann fliehst du aus Sietch Tabr. Das befehle ich dir. Du wirst Ghani und …«

»Noch bist du nicht mein Herzog! Du bist ein Kind!«

»Ich bin ein Erwachsener im Leib eines Kindes.« Leto deutete auf eine schmale Spalte in den Felsen unter ihnen. »Wenn ich hier sterbe, wird es dort unten sein. Du wirst das Blut sehen. Dann wirst du es wissen. Nimm meine Schwester und …«

»Ich verdopple deine Wachen! Du wirst nicht noch einmal hierherkommen. Wir gehen auf der Stelle, und du …«

»Du kannst mich nicht halten, Stil. Denk noch einmal an jene Zeit am Habbanya-Grat. Erinnerst du dich? Eine Fabrikraupe war draußen auf dem Sand, und ein großer Bringer war unterwegs. Es gab keine Möglichkeit, die Raupe vor dem Wurm zu retten, und mein Vater war darüber verärgert. Aber Gurney dachte nur an die Männer, die er im Sand verloren hatte. Denk daran, was er gesagt hat: ›Dein Vater hätte sich mehr Sorgen um die Männer gemacht, die er nicht retten konnte.‹ Stil, ich gebe dir hiermit den Auftrag, Menschen zu retten. Sie sind wichtiger als Dinge. Und Ghani ist die Teuerste von allen, denn ohne mich ist sie die einzige Hoffnung für die Atreides.«

»Ich höre mir das nicht länger an.« Stilgar wandte sich ab und begann, die Felsen hinabzusteigen, um zur Oase zurückzukehren. Er hörte, wie Leto ihm folgte.

Nach einer Weile überholte Leto den Fremen, warf einen Blick zurück und sagte: »Stil, ist dir aufgefallen, wie schön die jungen Frauen dieses Jahr sind?«