Euch kommt weder Schuld noch Unschuld zu. All das liegt hinter euch. Schuld arbeitet sich an den Toten ab, und ich bin nicht der Eiserne Hammer. Ihr unzähligen Toten seid schlicht Menschen, die bestimmte Dinge getan haben, und die Erinnerung an diese Dinge erhellt meinen Weg.

– Leto II. zu seinen Gedächtnis-Leben, nach Harq al-Ada

»Sie verändern sich von alleine!« Farad’ns Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Er stand über Jessicas Bett, zwei Wachen dicht hinter ihm. Jessica stützte sich auf. Sie trug ein Nachtkleid aus weiß schimmernder Paraseide, und ihr kupferrotes Haar wurde von einem dazu passenden Band gehalten. Farad’n war ohne jede Ankündigung in ihr Schlafzimmer geplatzt. Er hatte den grauen Ganzkörperanzug an, und der Schweiß stand ihm von der Anstrengung seines Laufs durch die Schlosskorridore auf der Stirn.

»Wie spät ist es?«, fragte Jessica.

Farad’n wirkte verwirrt. »Wie spät?«

Eine der Wachen sagte: »Es ist die dritte Stunde nach Mitternacht, Mylady.« Der Mann warf Farad’n einen ängstlichen Blick zu. Der Prinz war durch die nachts nur schwach erhellten Korridore gehetzt und hatte dabei die beiden verschreckten Wachen aufgelesen.

»Aber sie verändern sich von alleine!«, wiederholte Farad’n und streckte erst die linke und dann die rechte Hand aus. »Ich habe gesehen, wie meine Hände zu kleinen Fäustchen zusammengeschrumpft sind, und ich habe mich daran erinnert. Das waren meine Hände als Säugling. Ich erinnere mich, ein Säugling gewesen zu sein, aber das war … eine klarere Erinnerung. Ich habe meine alten Erinnerungen neu sortiert.«

»Sehr gut«, sagte Jessica. Farad’ns Begeisterung war ansteckend. »Und was ist passiert, als deine Hände alt wurden?«

»Mein Geist … wurde träge. Und ich bekam Rückenschmerzen. Genau hier.« Farad’n berührte eine Stelle oberhalb seiner linken Niere.

»Du hast eine sehr wichtige Lektion gelernt. Weißt du, was für eine Lektion das war?«

Farad’n ließ die Hände sinken und sah Jessica an. »Mein Verstand kontrolliert meine Wirklichkeit.« Mit leuchteten Augen wiederholte er die Worte lauter: »Mein Verstand kontrolliert meine Wirklichkeit!«

»Das ist der Beginn des Prana-Bindu-Gleichgewichts. Allerdings nur der Beginn.«

»Was kommt als Nächstes?«

»Mylady«, unterbrach sie der Wachmann. »Es ist spät.«

Sind ihre Spähposten um diese Zeit nicht besetzt? , fragte sich Jessica und sagte: »Verschwindet. Wir haben zu tun.«

»Aber Mylady …« Der Wachmann sah verängstigt zwischen Farad’n und Jessica hin und her.

»Glaubst du etwa, dass ich ihn verführen will?«, fragte Jessica.

Der Wachmann nahm eine Habachtstellung ein.

Farad’n lachte, ein Ausbruch purer Heiterkeit. »Du hast sie gehört«, sagte er dann. »Verschwindet.«

Die beiden Wachen sahen sich kurz an, dann verließen sie den Raum.

Farad’n setzte sich auf Jessicas Bett. »Was kommt jetzt?« Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte dir glauben, trotzdem habe ich dir nicht geglaubt. Und dann … Es war, als würde mein Verstand zerfließen. Ich war müde. Mein Kopf hörte auf, gegen dich anzukämpfen. Da ist es passiert. Einfach so!« Er schnippte mit den Fingern.

»Nicht ich war es, gegen die dein Kopf angekämpft hat.«

»Natürlich nicht. Ich habe gegen mich selbst gekämpft, gegen all den Unsinn, den ich gelernt habe. Also, was kommt jetzt?«

Jessica lächelte. »Ich muss zugeben, dass ich nicht mit einem so schnellen Erfolg bei dir gerechnet habe. Es sind erst acht Tage und …«

»Ich war geduldig«, unterbrach sie Farad’n grinsend.

»Und du hast auch angefangen, Geduld zu lernen.«

»Angefangen?«

»Du bist gerade an den äußersten Rand deines Lernprozesses gekrabbelt. Jetzt bist du wahrhaft ein Säugling. Zuvor … warst du nur ein Potenzial, noch nicht einmal geboren.«

Farad’n zog die Mundwinkel herunter.

»Sei nicht missmutig. Du hast den ersten Schritt getan. Das ist wichtig. Wie viele Menschen können schon von sich behaupten, neu geboren zu sein?«

»Was kommt jetzt?«

»Du wirst üben, was du gelernt hast. Ich will, dass du es nach Belieben wiederholen kannst, mit Leichtigkeit. Später wirst du dann einen neuen Raum in deinem Bewusstsein füllen, der dir dadurch eröffnet wird. Und zwar mit der Fähigkeit, jede Wirklichkeit an deinen eigenen Anforderungen zu messen.«

»Und das ist alles, was ich jetzt machen soll? Üben, was ich …«

»Nein. Du kannst jetzt auch mit dem Muskeltraining beginnen. Sag mir, kannst du den kleinen Zeh am linken Fuß bewegen, ohne irgendeinen anderen Muskel in deinem Körper zu regen?«

»Meinen …« Ein abwesender Ausdruck trat auf Farad’ns Gesicht, als er versuchte, seinen Zeh zu bewegen. Dann starrte er auf seinen Fuß hinab. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er atmete tief aus. »Ich kann es nicht.«

»Doch, du kannst es. Du wirst lernen, wie es geht. Du wirst etwas über jeden Muskel in deinem Körper lernen. Du wirst diese Muskeln genauso kennenlernen wie deine Hände.«

Farad’n schluckte schwer angesichts dieser Vorstellung. »Was machst du mit mir? Wie sieht dein Plan für mich aus?«

»Ich habe vor, dich auf das Universum loszulassen. Du wirst zu dem werden, was du dir am meisten wünscht.«

Er dachte kurz über ihre Worte nach. »Egal, was ich mir wünsche?«

»Ja.«

»Das ist unmöglich!«

»Es sei denn, man lernt, seine Wünsche so zu kontrollieren wie seine Wirklichkeit«, sagte Jessica und dachte: So, das sollen seine Analysten untersuchen. Sie werden zu vorsichtiger Zustimmung raten, aber Farad’n wird der Erkenntnis dessen, was ich wirklich tue, einen Schritt näherkommen.

»Es ist eine Sache, jemandem zu versprechen, dass er sich seine Wünsche wird erfüllen können«, sagte Farad’n mit Argwohn in der Stimme. »Es ist etwas anderes, dieses Versprechen auch tatsächlich einzulösen.«

»Du hast es weiter gebracht, als ich dachte. Sehr gut. Ich verspreche dir: Wenn du dieses Lernprogramm abschließt, dann bist du dein eigener Herr. Was du auch tust, du wirst es tun, weil du es tun willst.« Soll eine Wahrsagerin doch versuchen, diese Worte auseinanderzunehmen .

Farad’n stand auf, und als er Jessica ansah, lag ein warmer Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ich glaube dir. Ich weiß beim besten Willen nicht warum, aber trotzdem glaube ich dir. Und über alles, was ich mir noch so denke, verliere ich kein Wort.«

Jessica sah ihm nach, als er ihr Schlafzimmer verließ. Sie schaltete die Leuchtgloben aus und ließ sich zurücksinken. Dieser Farad’n war ein kluger Mann. Er hatte ihr gerade mitgeteilt, dass er ihre Pläne zu durchschauen begann, sich ihnen aber aus freiem Willen anschloss.

Warten wir, bis er beginnt, mehr über seine eigenen Gefühle zu lernen .

Mit diesem Gedanken sammelte sich Jessica, um wieder einzuschlafen. Der morgige Tag würde zahllose scheinbar zufällige Begegnungen mit dem Palastpersonal bringen, bei denen man ihr scheinbar unverfängliche Fragen stellen würde.