Mit deiner Stärke hast du den Sand geteilt; du hast die Köpfe der Drachen in der Wüste zerschmettert. Ja, ich sehe dich als Tier, das aus den Dünen aufsteigt; du hast die zwei Hörner des Lamms, doch du sprichst mit der Stimme des Drachen.

– Die überarbeitete Orange-Katholische Bibel, Arran II:4

Es war die unabänderliche Prophezeiung, der Faden, der zu einem Strick geworden war, etwas, von dem Leto nun meinte, es schon sein ganzes Leben lang gekannt zu haben. Er blickte hinaus auf die Abendschatten der Tanzerouft. Einhundertsiebzig Kilometer weiter im Norden lag die Alte Kluft, die tiefe und gewundene Spalte, die durch den Schildwall lief und durch die die ersten Fremen in die Wüste hinausgezogen waren.

Leto hatte keine Zweifel mehr. Er wusste, warum er allein in der Wüste stand und doch von dem Gefühl erfüllt war, dass ihm all das hier gehörte, dass die Wüste tun musste, was er von ihr verlange. Er spürte den Faden, der ihn mit der gesamten Menschheit verband, und das tiefgreifende Bedürfnis nach einem Universum aus Erfahrungen, die einen logischen Sinn ergaben, einem Universum aus erkennbaren Mustern, die sich unaufhörlich verwandelten.

Ich kenne dieses Universum.

Der Wurm, der ihn hierhergebracht hatte, war auf das Stampfen seines Fußes hin zu ihm gekommen, hatte sich vor ihm aufgerichtet und wie ein gehorsames Tier gewartet. Leto war auf den Rücken des Wurms gesprungen und hatte mit seinen durch die Membran verstärkten Händen den vorderen Wulst eines der Ringsegmente aufgebogen, um den Wurm an der Oberfläche zu halten. Der Wurm war die ganze Nacht dahingerast und hatte sich dabei völlig verausgabt. Die Silizium-Schwefel-Fabrik in seinem Inneren war auf Hochtouren gelaufen, er hatte gewaltige Sauerstoffschwälle ausgeatmet, die Leto umwirbelt hatten. Zuweilen hatten ihn diese heißen Böen benommen gemacht und seinen Kopf mit seltsamen Wahrnehmungen gefüllt. Die reflexive und zirkuläre Subjektivität seiner Visionen hatte sich nun nach innen gerichtet, zu seinen Vorfahren, und zwang ihn, Teile seiner terranischen Vergangenheit erneut zu durchleben, um sie mit seinem sich verändernden Selbst abzugleichen.

Schon jetzt spürte er, wie weit er sich von etwas entfernt hatte, das man noch als menschlich hätte bezeichnen können. Getrieben vom Gewürz, das er gierig schluckte, sobald er nur die geringste Spur davon fand, bestand die Membran, die ihn bedeckte, jetzt nicht mehr aus Sandforellen. Flimmerhärchen waren in seine Haut eingedrungen und hatten sich mit ihm zu einem neuen Geschöpf vereint, das in den kommenden Zeitaltern eine ganz eigene Art der Metamorphose durchlaufen würde.

Du hast das vorhergesehen, Vater, und du hast dich ihm verweigert , dachte er. Es war eine zu schreckliche Vorstellung.

Leto wusste, was man über seinen Vater glaubte und warum.

Muad’Dib war an seiner Fähigkeit gestorben, die Zukunft vorherzusehen.

Aber Paul Atreides war bei lebendigem Leib vom Universum der Wirklichkeit in das Alam al-Mythal übergegangen, auf der Flucht vor dem, was sein Sohn gewagt hatte.

Jetzt gab es nur noch den Prediger.

Leto kauerte sich in den Sand und hielt den Blick nach Norden gerichtet. Der Wurm würde aus dieser Richtung kommen, und auf seinem Rücken würden zwei Personen reiten: ein junger Fremen und ein blinder Mann.

Ein Schwarm bleicher Fledermäuse zog über Leto hinweg und bog nach Südosten. Die Tiere bildeten ein zufälliges Muster am dunkler werdenden Himmel, und ein kluges Fremenauge hätte ihren Kurs zurückverfolgen können, um herauszufinden, wo sich in dieser Richtung ein Unterschlupf befand. Aber der Prediger suchte keinen Unterschlupf. Sein Ziel war Shuloch, wo es keine wilden Fledermäuse geben durfte, weil sie Fremde an diesen geheimen Ort hätten führen können.

Der Wurm erschien als dunkle Bewegung zwischen Wüste und nördlichem Himmel. Ein nachlassender Sturmwind ließ aus großer Höhe Matar , den Sandregen, herabrieseln, wodurch die Sicht für einige Minuten getrübt wurde. Dann war der Wurm wieder deutlicher zu sehen – und er war näher herangekommen.

Die Kältelinie am Fuß der Düne, vor der Leto kauerte, begann ihre nächtliche Feuchtigkeit zu produzieren. Er schmeckte das fragile Nass in der Nase und rückte die Membranblase vor seinem Mund zurecht. Er war nicht länger darauf angewiesen, Feuchtstellen und Schlürfbrunnen zu finden. Die Gene seiner Mutter hatten ihm den verlängerten Dickdarm der Fremen mitgegeben, der aus allem, was ihn durchquerte, Wasser zurückgewann. Und sein lebender Destillanzug fing jedes bisschen Feuchtigkeit auf und bewahrte es. Selbst während er hier saß, fuhr die Membran auf der Suche nach zu speichernder Energie ihre Flimmerhärchen aus.

Leto beobachtete den sich nähernden Wurm. Er wusste, dass der junge Führer des Predigers ihn inzwischen als winzigen Punkt neben einer Düne ausgemacht hatte. Der Wurmreiter würde in diesem fernen Objekt noch nichts Bestimmtes erkennen, aber das war ein Problem, mit dem die Fremen umzugehen gelernt hatten. Alles Unbekannte war gefährlich. Die Reaktionen des Wurmreiters würden vorhersehbar sein, auch ohne Visionen.

Und so änderte der Wurm, wie erwartet, leicht den Kurs und hielt nun direkt auf Leto zu. Große Würmer waren eine von den Fremen immer wieder eingesetzte Waffe. Sie hatten dabei geholfen, Shaddam bei Arrakeen zu besiegen. Dieser Wurm jedoch tat nicht, was sein Reiter von ihm wollte. Er kam zehn Meter von Leto entfernt zum Stehen, und nichts konnte ihn dazu veranlassen, auch nur ein weiteres Sandkorn zu überqueren.

Leto stand auf und spürte, wie sich die Flimmerhärchen auf seinem Rücken blitzartig in die Membran zurückzogen. Er machte seinen Mund frei und rief: »Achlan, wasachlan! « Willkommen, zweimal willkommen!

Auf dem Wurm erhob sich der Blinde hinter seinem Führer, eine Hand auf der Schulter des Jungen, und reckte die Nase, als würde er versuchen, das Geschehen zu erschnüffeln. Der Sonnenuntergang färbte seine Stirn orange. »Wer ist dort?«, fragte er und schüttelte die Schulter des Jungen. »Warum halten wir an?« Die Destillanzugsfilter verliehen seiner Stimme einen nasalen Klang.

Der Junge blickte ängstlich zu Leto hinab. »Es ist nur jemand, der allein in der Wüste steht. Ein Kind, wie es aussieht. Ich habe versucht, den Wurm über ihn hinwegzutreiben, aber der Wurm will nicht.«

»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, fragte der Blinde.

»Ich dachte, es wäre nur jemand, der allein in der Wüste unterwegs ist«, sagte der Junge. »Aber es ist ein Dämon.«

»Gesprochen wie ein wahrer Sohn Jacurutus«, sagte Leto. »Und du, edler Herr, bist der Prediger.«

»Der bin ich, ja.« Die Stimme des Predigers konnte seine Angst nicht verbergen. Nun begegnete er endlich seiner eigenen Vergangenheit.

»Dies ist kein Garten«, sagte Leto, »aber ihr könnt hier mit mir die Nacht verbringen.«

»Wer bist du?«, fragte der Prediger. »Wie hast du unseren Wurm zum Stehen gebracht?« Jetzt lag ein Unterton des Erkennens in seiner Stimme. Er rief die Erinnerungen an diese alternative Vision in sich wach. Er wusste, dass er hier sein Ende finden konnte.

»Es ist ein Dämon!«, sagte der junge Führer. »Wir müssen von hier fliehen, wenn unsere Seelen nicht …«

»Schweig!«, rief der Prediger.

»Ich bin Leto Atreides«, sagte Leto. »Euer Wurm hat angehalten, weil ich es ihm befohlen habe.«

Der Prediger stand reglos auf dem Wurm.

»Komm, Vater. Steig herab und verbringe die Nacht mit mir. Ich gebe dir süßen Sirup zu trinken. Ich sehe, dass ihr Fremkits mit Nahrung und Wassergläsern dabeihabt. Wir teilen unsere Reichtümer hier im Sand.«

»Leto ist noch ein Kind. Und es heißt, dass er durch eine Intrige der Corrinos ums Leben kam. Deiner Stimme ist nichts Kindliches eigen.«

»Du kennst mich, Vater. Ich bin klein für mein Alter, so wie du es warst, aber meine Erfahrungen reichen in die fernste Vergangenheit zurück, und meine Stimme hat vieles gelernt.«

»Was machst du hier in der inneren Wüste?«

»Bu ji «, sagte Leto. Nichts aus dem Nichts. Es war die Antwort eines Zensunni-Wanderers, der aus einer Position der Ruhe handelte, ohne Anstrengung und im Einklang mit seiner Umgebung.

Der Prediger rüttelte an der Schulter seines Führers. »Ist das ein Kind, wahrhaftig ein Kind?«

»Aiya«, erwiderte der Junge und hielt den Blick dabei ängstlich auf Leto gerichtet.

Ein tiefer Seufzer ließ den Prediger erzittern. »Nein.«

»Er ist ein Dämon in Kindergestalt«, sagte der Junge.

»Ihr werdet die Nacht hier verbringen«, sagte Leto.

»Wir tun, was er sagt.« Der Prediger ließ den jungen Fremen los, rutschte an einem Ringsegment des Wurms herab und machte einen Satz von dem Tier weg, sobald seine Füße den Sand berührten. Dann drehte er sich um und rief: »Schicke den Wurm zurück in den Sand. Er ist müde und wird uns keinen Ärger machen.«

»Aber der Wurm will sich nicht bewegen«, erwiderte der Junge.

»Er wird sich bewegen«, sagte Leto. »Aber wenn du versuchst, mit ihm zu fliehen, sorge ich dafür, dass er dich frisst.« Er trat in das Wahrnehmungsfeld des Wurms und deutete in die Richtung, aus der das Tier mit seinen beiden Reitern gekommen war. »Dort entlang.«

Der junge Fremen ruckelte an dem Haken, der ein Ringsegment offenhielt, und langsam begann der Wurm, über den Sand zu rutschen. Er gehorchte wieder den Anweisungen seines Reiters.

Der Prediger war dem Klang von Letos Stimme gefolgt und zwei Schritte von Leto entfernt stehen geblieben. Er bewegte sich mit einer Sicherheit, die Leto verriet, dass der bevorstehende Wettstreit nicht leicht werden würde.

An diesem Punkt gingen die Visionen auseinander.

»Leg deine Anzugmaske ab, Vater«, sagte Leto.

Der Prediger schob seine Kapuze zurück und entfernte das Mundstück.

Leto studierte das Gesicht seines Gegenübers, erkannte die Ähnlichkeiten, als wären sie mit leuchtenden Linien nachgezogen. Diese Linien bildeten einen Abgleich, einen Weg der Gene, der keine scharfen Grenzen hatte. Diese Linien waren unverkennbar. Sie waren aus den geschäftigen, wassergetränkten Tagen, von den wundersamen Meeren Caladans auf Leto übergegangen. Aber jetzt, während die Nacht darauf wartete, sich zwischen die Dünen zu betten, standen sie beide hier auf Arrakis an einem Scheideweg.

»Nun, Vater«, begann Leto, während er beobachtete, wie der junge Führer von der Stelle, an dem er den Wurm zurückgelassen hatte, auf sie zukam.

»Mu zein!«, sagte der Prediger und machte eine schneidende Bewegung mit der rechten Hand. Das ist nicht gut!

»Koolish zein«, erwiderte Leto mit sanfter Stimme. Etwas Besseres bekommen wir vielleicht nie. Und auf Chakobsa, der Kampfsprache der Atreides, fügte er hinzu: »Hier bin ich, hier bleibe ich. Das dürfen wir nie vergessen, Vater.«

Der Prediger ließ die Schultern hängen. Und dann, in einer Geste, die er lange nicht mehr vollführt hatte, legte er die Hände vor die leeren Augenhöhlen.

»Einmal habe ich dir das Licht meiner Augen gegeben und dir deine Erinnerungen genommen«, sagte Leto. »Ich kenne deine Entscheidungen, und ich war dort, wo du dich versteckt hast.«

»Ich weiß.« Der Prediger ließ die Hände wieder sinken. »Du wirst bleiben?«

»Du hast mich nach dem Mann benannt, der diese Worte auf sein Wappen geschrieben hat. J’y suis, j’y reste. «

Der Prediger seufzte tief. »Wie weit ist diese Sache, die du dir angetan hast, fortgeschritten?«

»Meine Haut ist nicht meine Haut, Vater.«

Der Prediger erzitterte. »Dann weiß ich, wie du mich gefunden hast.«

»Ja, ich habe meine Erinnerung an einen Ort geheftet, den mein Körper nie kennengelernt hat. Ich brauche einen Abend mit meinem Vater.«

»Ich bin nicht dein Vater. Ich bin nur ein armseliger Abklatsch, ein Relikt.« Der Prediger blickte zu dem sich ihnen nähernden jungen Fremen. »Ich wende mich für meine Zukunft schon lange nicht mehr an die Visionen.«

Während er sprach, legte sich die Dunkelheit über die Wüste. Über ihnen leuchteten die Sterne auf, und auch Leto wandte sich nun dem Fremen zu. »Wubakh ul kuhar «, rief er. Sei gegrüßt!

»Subakh un nar! «, kam als Antwort.

In einem heiseren Flüstern sagte der Prediger: »Dieser junge Assan Tariq ist gefährlich.«

»Alle Ausgestoßenen sind gefährlich«, erwiderte Leto. »Aber nicht für mich.«

»Wenn das deine Vision ist, dann will ich sie nicht teilen.«

»Womöglich hast du keine andere Wahl. Du bist Fil-haquiqa , die Wirklichkeit. Du bist Abu Dhur , der Vater der unbegrenzten Straßen der Zeit.«

»Ich bin nicht mehr als ein Köder in einer Falle.«

»Und Alia hat diesen Köder bereits geschluckt. Aber mir gefällt nicht, wie er schmeckt.«

»Du kannst das nicht tun!«

»Ich habe es bereits getan. Meine Haut ist nicht meine Haut.«

»Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«

»Es ist zu spät.« Leto neigte den Kopf und hörte, wie Assan Tariq die Düne zu ihnen hochstieg, dem Klang ihrer Stimmen folgend. »Sei gegrüßt, Assan Tariq aus Shuloch«, sagte er.

Der Junge hielt etwas unterhalb von Leto auf dem Hang inne, ein dunkler Schatten im Sternenlicht. Die Art, wie er die Schultern hielt und er den Kopf schräg legte, verriet Unentschlossenheit.

»Ja«, sagte Leto. »Ich bin derjenige, der aus Shuloch geflohen ist.«

»Als ich davon gehört habe …« Der Prediger schüttelte den Kopf und sagte wieder: »Du kannst das nicht tun!«

»Ich tue es. Welche Rolle spielt es, wenn du einmal mehr geblendet wirst?«

»Denkst du, dass ich mich davor fürchte? Siehst du nicht den hervorragenden Führer, den man mir gestellt hat?«

»Ich sehe ihn.« Wieder wandte sich Leto Tariq zu. »Hast du mich nicht gehört, Assan? Ich bin derjenige, der aus Shuloch entkommen ist.«

»Du bist ein Dämon«, erwiderte der Junge mit zittriger Stimme.

»Dein Dämon … Und du bist mein Dämon.« Leto spürte, wie die Spannung zwischen ihm und seinem Vater wuchs. Es war ein Schattenspiel, das sie umgab, eine Projektion unbewusster Formen. Leto nahm die Erinnerungen seines Vaters wahr, eine Art rückwärts gerichteter Prophezeiung, die die Visionen von der vertrauten Wirklichkeit dieses Augenblicks her ordnete.

Auch Tariq spürte es – dieses Gefecht der Visionen. Er rutschte mehrere Schritte die Düne hinab.

»Du kannst die Zukunft nicht kontrollieren«, flüsterte der Prediger, und seine Stimme klang dabei so angestrengt, als würde er ein schweres Gewicht heben.

Die Dissonanz zwischen Leto und seinem Vater war ein Element des Universums, mit dem Letos gesamte Existenz rang. Er oder sein Vater würden schon bald zum Handeln gezwungen sein, und mit ihrem Handeln würden sie eine Entscheidung treffen, eine Vision wählen. Und sein Vater hatte recht: Wenn man versuchte, das Universum seiner Kontrolle zu unterwerfen, schmiedete man dadurch nur die Waffen, mit denen einen das Universum schließlich besiegen würde. Eine Vision zu wählen und mit ihr umzugehen verlangte, dass man auf einem dünnen Faden balancierte, dass man auf dem Hochseil Gott spielte, mit der kosmischen Leere zu beiden Seiten. Keiner von ihnen konnte sich auf den Tod-als-Ablass-vom-Paradox zurückziehen, beide kannten sie die Visionen und die Regeln. Alle alten Visionen lagen im Sterben. Und wenn einer von ihnen einen Zug machte, reagierte der andere mit einem Gegenzug. Die einzige Wahrheit, auf die es für sie jetzt noch ankam, war das, was sie vom Hintergrundrauschen der Visionen abhob. Es gab keinen sicheren Rückzugsort, nur einen Übergang, eine Verschiebung von Beziehungen, die in den Grenzen abgesteckt waren, die sie jetzt zogen und die sich unausweichlich verändern würden. Sie beide konnten sich nur auf ihren verzweifelten, einsamen Mut verlassen, aber Leto verfügte über zwei Vorteile: Er hatte sich auf einen Weg festgelegt, von dem es kein Zurück gab. Und er hatte dessen schreckliche Folgen auf sich genommen. Sein Vater dagegen hoffte immer noch, dass es einen Weg zurück geben würde, und hatte keine endgültige Entscheidung getroffen.

»Das darfst du nicht! Das darfst du nicht!«, murmelte der Prediger.

Er erkennt meinen Vorteil , dachte Leto und sagte in einem beiläufigen Tonfall, hinter dem sich seine ganze Anspannung verbarg: »Ich hege keinen leidenschaftlichen Glauben an die Wahrheit und hänge keiner Religion an. Ich glaube nur an das, was ich selbst erschaffe.« Er spürte eine Bewegung zwischen sich und seinem Vater, etwas Körniges, etwas, das nur seinen eigenen leidenschaftlichen Glauben an sich selbst berührte. Aus diesem Glauben heraus wusste er, dass er die Eckpfeiler des Goldenen Pfads gesetzt hatte. Eines Tages würden diese Eckpfeiler anderen vermitteln, wie man ein Mensch sein konnte – ein seltsames Geschenk von einem Geschöpf, das längst kein Mensch mehr sein würde, wenn es so weit war. Doch solche Eckpfeiler wurden immer von jenen gesetzt, die um ihr Glück spielten. Leto spürte diese Spieler aller Zeitalter überall in seinem Inneren verstreut und machte sich bereit für den ultimativen Einsatz.

Vorsichtig schnupperte er die Luft, suchte nach dem Zeichen, von dem sowohl er als auch sein Vater wussten, dass es erscheinen würde. Nur eine Frage blieb: Würde sein Vater den zu Tode verängstigten jungen Fremen, der unten an der Düne stand, warnen?

Dann nahm Letos Nase das Ozon wahr, den verräterischen Geruch eines Schilds. Den Befehlen der Ausgestoßenen folgend versuchte Tariq, beide Atreides auf einmal zu töten, ohne zu ahnen, welche Schrecken das nach sich ziehen würde.

»Tu es nicht«, flüsterte der Prediger.

Aber Leto wusste, dass das Zeichen echt war. Er roch das Ozon, aber sah kein Schimmern in der Luft. Tariq verwendete einen Pseudoschild, eine Waffe, die man einzig und allein für Arrakis entwickelt hatte. Der Holtzmann-Effekt würde einen Wurm rufen und in die Raserei treiben. Nichts hielt einen solchen Wurm auf – kein Wasser und auch nicht die Gegenwart von Sandforellen – nichts. Der Junge hatte das Gerät in den Dünenhang gesteckt und rannte jetzt so schnell er konnte aus der Gefahrenzone.

Leto sprang vom Dünenkamm herab. Er hörte, wie sein Vater wütend protestierte, aber es war zu spät: Die Kraft von Letos verstärkten Muskeln schleuderte ihn wie ein Geschoss durch die Luft, und eine ausgestreckte Hand traf Tariq am Hals, während die andere herumwirbelte, um den Jungen an der Hüfte zu fassen. Ein Knacken ertönte, als der Hals des Fremen brach. Leto rollte sich ab, sprang zurück und fuhr mit seinen Händen wie mit einem genau austarierten Werkzeug dort in den Sand, wo der Pseudoschild steckte. Seine Finger fanden das Gerät, und blitzschnell hatte er es aus dem Sand geholt und warf es in hohem Bogen weit nach Süden.

Ein lautes, fauchendes, peitschendes Getöse kam von dort, wo der Pseudoschild gelandet war. Kurz darauf ebbte es ab, und die Stille kehrte zurück.

Leto blickte die Düne hoch, auf der sein Vater stand. Das Gesicht des Predigers hatte einen immer noch trotzigen Ausdruck, aber er wusste, dass er besiegt war. Das dort oben war Paul Muad’Dib, blind, wütend, der Verzweiflung nahe. Er war vor der Vision geflohen, die Leto für sich angenommen hatte. Ganz sicher drehten sich die Gedanken in Pauls Kopf gerade um den langen Koan der Zensunni: »Indem er akkurat die Zukunft vorhersagte, führte Muad’Dib ein Element der Entwicklung und des Wachstums in jene Hellsicht ein, durch die er das menschliche Sein sah. Dadurch hat er sich selbst in Ungewissheit gestürzt. Er strebte die Absolutheit einer Vorhersage an, aber er hat die Unordnung verstärkt und die Hellsicht verzerrt.«

Leto sprang neben seinen Vater auf den Dünenkamm und sagte: »Nun bin ich dein Führer.«

»Niemals!«

»Würdest du lieber nach Shuloch zurückkehren? Gesetzt den Fall, man würde dich dort willkommen heißen, wenn du ohne Tariq zurückkehrst – wo ist Shuloch hin? Sehen deine Augen Shuloch?«

Paul richtete die augenlosen Höhlen auf Leto. »Weißt du wirklich, was für ein Universum du erschaffen hast?«

Leto nahm die eigenartige Betonung in Pauls Worten wahr. Die Vision, die hier, wie sie beide wussten, auf schreckliche Weise in Gang gesetzt worden war, hatte einen schöpferischen Akt zu einem bestimmten Zeitpunkt verlangt. Für diesen einen Moment teilte das gesamte bewusste Universum eine lineare Sicht der Zeit. Man trat in diese Zeit ein, als würde man auf ein fahrendes Fahrzeug steigen, und man konnte sie nur auf die gleiche Weise wieder verlassen.

Gegen diese Sicht hielt Leto die aus vielen Strängen bestehenden Zügel, die von den Visionen erhellte Sicht auf die Zeit als etwas Multilineares, vielfach in sich Zurückgebogenes. Er war der Sehende im Universum der Blinden. Nur er konnte den Glauben an Ordnung zerstreuen, da sein Vater nicht mehr die Zügel in der Hand hielt. Aus Letos Perspektive hatte ein Sohn die Vergangenheit verändert. Und ein Gedanke, den man sich selbst in der fernsten Zukunft noch nicht erträumt hatte, konnte sein Licht auf die Gegenwart werfen und Letos Hand lenken.

Nur seine Hand.

Paul wusste das, weil er nicht mehr erkennen konnte, was Leto mit den Zügeln tun würde, weil er nur die unmenschlichen Folgen dessen sah, was Leto auf sich genommen hatte. Und er dachte: Das ist die Veränderung, um die ich gebetet habe. Warum fürchte ich sie? Weil sie der Goldene Pfad ist!

»Ich bin hier, um der Evolution einen Sinn zu geben«, sagte Leto. »Und damit auch unserem Leben einen Sinn zu geben.«

»Willst du diese Tausende von Jahren leben und dich dabei so verändern, wie du weißt, dass du dich verändern wirst?«

Leto war sich darüber im Klaren, dass sein Vater nicht von körperlichen Veränderungen sprach. Darüber wussten sie beide Bescheid: Leto würde sich immer weiter anpassen, die Haut, die nicht seine Haut war, würde sich immer weiter entwickeln, bis sie mit ihm verschmelzen und es zu einem gemeinsamen Verwandlungsprozess kommen würde. Und wenn schließlich die Metamorphose eintrat – falls sie eintrat –, würde ein denkendes Wesen von Ehrfurcht gebietenden Ausmaßen in das Universum treten. Und das Universum würde dieses Wesen anbeten.

Nein, Paul sprach von den inneren Veränderungen, von den Gedanken und Entscheidungen, die sich den Menschen kommender Jahrhunderte aufzwingen würden.

»Die, die dich für tot halten«, sagte Leto. »Du weißt, was sie über deine letzten Worte sagen.«

»Natürlich.«

»Jetzt tue ich, was alles Leben im Dienste des Lebens tun muss . Das hast du nie gesagt, aber ein Priester, der glaubte, dass du nie zurückkehren würdest, um ihn der Lüge zu bezichtigen, hat dir diese Worte in den Mund gelegt.«

Paul holte tief Luft. »Ich würde ihn nicht der Lüge bezichtigen. Es sind gute letzte Worte.«

»Willst du hierbleiben? Oder in die Hütte im Shuloch-Becken zurückkehren?«

»Es ist nun dein Universum.«

Die vom Klang der Niederlage getragenen Worte seines Vaters berührten Leto tief. Paul hatte versucht, die letzten Ausläufer seiner Vision zu lenken, eine Entscheidung, die er schon vor Jahren in Sietch Tabr getroffen hatte. Dafür hatte er die Rolle als Werkzeug der Rache für die Ausgestoßenen von Jacurutu angenommen. Sie hatten ihn kontaminiert, aber es war ihm lieber gewesen als das, was er von jenem Universum gesehen hatte, für das sich Leto entschieden hatte.

Leto war so traurig, dass er für mehrere Minuten kein Wort herausbrachte. Dann, als er seine Stimme wieder im Griff hatte, sagte er: »Du hast also Alia geködert, sie in Versuchung geführt und verwirrt, sodass sie erst nichts und dann das Falsche getan hat. Und jetzt weiß sie, wer du bist.«

»Sie weiß es. Ja, sie weiß es.« Pauls Stimme klang jetzt alt und erfüllt von Widerwillen. Noch war ihm etwas Trotz geblieben. »Wenn ich kann, nehme ich dir die Vision weg.«

»Tausende von friedlichen Jahren. Das gebe ich ihnen.«

»Schlaf! Stagnation!«

»Natürlich. Und jene Formen von Gewalt, die ich zulasse. Das wird eine Lektion, die die Menschheit niemals vergisst.«

»Ich spucke auf deine Lektion! Glaubst du etwa, dass ich nicht etwas Ähnliches vorhergesehen habe wie das, wofür du dich entschieden hast?«

»Ja, du hast es vorhergesehen.«

»Und ist deine Vision vielleicht besser als meine?«

»Kein bisschen. Vielleicht sogar schlimmer.«

»Was kann ich dann anderes tun, als mich dir zu widersetzen?«

»Mich töten vielleicht?«

»So naiv bin ich nicht. Ich weiß, was du in Gang gesetzt hast. Ich weiß von den zerstörten Qanats und den Unruhen.«

»Und Assan Tariq wird Shuloch nie wiedersehen. Du musst entweder mit mir zurückkehren oder überhaupt nicht, weil es nun meine Vision ist.«

»Ich entscheide mich dafür, nicht zurückzukehren.«

Wie alt seine Stimme klingt , dachte Leto, und bei diesem Gedanken zog sich sein Inneres vor Schmerz zusammen. »In meinem Dishsasha habe ich den Falkenring der Atreides verborgen. Willst du, dass ich ihn dir zurückgebe?«

»Wenn ich doch nur gestorben wäre«, flüsterte Paul. »Ich wollte wirklich sterben, als ich in jener Nacht in die Wüste hinausging, aber ich wusste, dass ich diese Welt nicht verlassen konnte. Ich musste zurückkehren und …«

»… die Legende wiederherstellen. Ich weiß. Und die Schakale von Jacurutu warteten in jener Nacht auf dich, wie du es gewusst hast. Sie wollten deine Visionen. Auch das wusstest du.«

»Ich habe mich geweigert. Ich habe ihnen nie auch nur eine einzige Vision gegeben.«

»Aber sie haben dich kontaminiert. Sie haben dir Gewürzessenz verabreicht und dich mit Frauen und Träumen fügsam gemacht. Und du hattest Visionen.«

»Ja, manchmal.«

»Nimmst du nun den Falkenring zurück?«

Unvermittelt setzte sich Paul in den Sand, ein dunkler Fleck im Sternenlicht. »Nein.«

Er weiß also, dass es sinnlos ist, diesen Weg zu beschreiten , dachte Leto. Ihr Kampf der Visionen hatte sich verändert. Er hatte auf einer fein verästelten Ebene der Entscheidungsmöglichkeiten begonnen, aber jetzt verwarfen sie nur noch grobschlächtig Alternativen. Paul wusste, dass er nicht gewinnen konnte, doch er hoffte nach wie vor, Letos Vision außer Kraft setzen zu können.

Nach einer Weile sagte Paul: »Ja, die Jacurutus haben mich kontaminiert. Aber du kontaminierst dich selbst.«

Leto nickte. »Das ist wahr. Ich bin dein Sohn.«

»Und bist du ein guter Fremen?«

»Ja.«

»Wirst du es dann einem Blinden gestatten, endlich in die Wüste zu gehen? Wirst du mich zu meinen eigenen Bedingungen Frieden finden lassen?« Paul schlug neben sich auf den Sand.

»Nein, das gestatte ich nicht. Aber du hast das Recht, dich in dein Messer zu stürzen, wenn du darauf bestehst.«

»Und dann hättest du meinen Leichnam.«

»Das ist wahr.«

»Nein!«

Er kennt also auch diesen Pfad , dachte Leto. Wenn Muad’Dibs Leichnam durch seinen Sohn beigesetzt wurde, konnte man das als Zementierung von Letos Vision sehen. »Du hast es ihnen nie erzählt, nicht wahr, Vater?«

»Ich habe es ihnen nie erzählt.«

»Aber ich habe es ihnen erzählt. Ich habe es Muriz erzählt. Kralizec, der Kampf mit dem Taifun.«

Paul ließ die Schultern sinken. »Das kannst du nicht«, flüsterte er. »Das kannst du nicht.«

»Ich bin nun ein Geschöpf dieser Wüste, Vater. Würdest du so mit einem Coriolissturm sprechen?«

»Du glaubst, ich wäre feige, weil ich mich geweigert habe, diesen Pfad zu beschreiten. Ach, ich verstehe dich gut, Sohn. Omen und die Kunst des Haruspex sind seit jeher ihre eigene Folter. Aber ich habe mich nie in den möglichen Zukünften verloren, weil diese Zukunft unaussprechlich ist.«

»Ja, dein Dschihad wird im Vergleich dazu wie ein Sommerpicknick auf Caladan aussehen. Ich bringe dich jetzt zu Gurney Halleck, Vater.«

»Gurney! Er dient der Schwesternschaft.«

Jetzt begriff Leto, wie weit die Vision seines Vaters reichte. »Nein, Vater. Gurney dient überhaupt niemandem mehr. Ich weiß, wo man ihn findet, und ich kann dich dort hinbringen. Es ist Zeit, dass die neue Legende erschaffen wird.«

»Ich kann dich also nicht von deinem Weg abbringen. Dann lass mich dich berühren, denn du bist mein Sohn.«

Leto streckte die rechte Hand aus, um Pauls tastende Finger zu berühren, spürte ihre Kraft, drückte gegen sie, widerstand jeder Bewegung von Pauls Arm. »Nicht einmal ein vergiftetes Messer kann mir jetzt noch etwas anhaben, Vater. Meine Chemie ist bereits eine andere.«

Paul löste den Griff und ließ die Hand sinken. Tränen rannen aus den blinden Augen. »Wenn ich mich für deinen Weg entschieden hätte, wäre ich der Bikouros des Shaitan. Und was wird aus dir werden?«

»Für eine Weile wird man auch mich den Missionar Shaitans nennen. Dann werden sie anfangen, sich Fragen zu stellen, und schließlich werden sie es verstehen. Du hast deine Vision nicht genug durchdacht, Vater. Deine Hände haben Gutes getan und Böses.«

»Aber das Böse ist erst im Nachhinein kenntlich geworden.«

»Wie es bei so vielen großen Übeln ist. Du bist nur in einen Teil meiner Vision übergetreten. Hat deine Kraft nicht ausgereicht?«

»Du weißt, dass ich dort nicht bleiben konnte. Ich konnte nie etwas Böses tun, wenn es schon vor der Tat als Böses erkennbar war. Ich stamme nicht aus Jacurutu.« Mühsam stand Paul auf. »Hältst du mich für jemanden, der nachts für sich alleine lacht?«

»Es ist schade, dass du nie ein echter Fremen warst, Vater. Wir Fremen wissen, wie man das Arifa in Auftrag gibt. Unsere Richter können zwischen den Übeln wählen. So ist das seit jeher für uns.«

»Ein Fremen, das bist du also? Sklave des Schicksals, das du zu erschaffen geholfen hast?« Paul trat auf Leto zu, streckte mit einer seltsam scheuen Bewegung die Hand aus, berührte Letos Arm, tastete ihn hinauf, zum Ohr, dann zur Wange und schließlich zum Mund. »Ah, das ist noch dein eigenes Fleisch. Wo wird es dich hinführen?« Er senkte den Arm wieder.

»An einen Ort, an dem die Menschen ihre Zukunft von einem Moment zum anderen erschaffen können.«

»Das sagst du. Eine Abscheulichkeit würde womöglich das Gleiche sagen.«

»Ich bin keine Abscheulichkeit, auch wenn ich eine hätte werden können. Ich habe bei Alia gesehen, wie das geschieht. Ein Dämon lebt in ihrem Inneren, Vater. Ghani und ich kennen diesen Dämon. Es ist der Baron, dein Großvater.«

Paul vergrub sein Gesicht in den Händen. Für einen Moment bebten seine Schultern, dann senkte er die Arme. Sein Mund war zu einer harten Linie zusammengepresst. »Auf unserem Haus liegt ein Fluch. Ich habe darum gebetet, dass du den Ring einfach in den Sand werfen würdest, dass du dich von mir lossagen und davonrennen würdest, um ein anderes Leben zu leben. Es hat nur auf dich gewartet.«

»Um welchen Preis?«

Paul schwieg für eine Weile, dann sagte er: »Der Endpunkt passt den zu ihm führenden Weg an. Ein einziges Mal bin ich im Kampf für meine Prinzipien gescheitert. Nur ein einziges Mal. Ich habe das Mahdinat akzeptiert. Das habe ich für Chani getan, aber es hat einen schlechten Anführer aus mir gemacht.«

Leto stellte fest, dass er darauf nichts erwidern konnte. Er trug die Erinnerung an diese Entscheidung in sich.

»Ich kann dich ebenso wenig anlügen wie mich selbst«, fuhr Paul fort. »Das weiß ich. Jeder Mann sollte einen solchen Prüfstein haben. Ich frage dich nur eines: Ist der Kampf gegen den Taifun wirklich nötig?«

»Entweder das – oder die Menschheit wird ausgelöscht.«

Paul hörte die Wahrheit in Letos Worten und begriff, dass die Vision seines Sohnes weiter reichte, als er gedacht hatte. »Das habe ich inmitten der Möglichkeiten nicht gesehen.«

»Ich glaube, die Schwesternschaft ahnt es. Eine andere Erklärung für die Entscheidung meiner Großmutter kann ich nicht akzeptieren.«

Der kalte Nachtwind umwehte sie und ließ Pauls Robe um seine Beine flattern. Er zitterte. Als Leto das sah, sagte er: »Du hast ein Fremkit, Vater. Ich blase das Zelt auf, dann können wir die Nacht bequem verbringen.«

Aber Paul konnte nur den Kopf schütteln. Er wusste, dass ihm nichts Trost spenden würde, nicht in dieser Nacht oder in irgendeiner anderen. Muad’Dib, der Held, musste zerstört werden. Das hatte er selbst gesagt. Nur der Prediger durfte weiterleben.