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Maude und Edith stiegen die Wendeltreppe zum Kunstraum hinauf.
»Sie heckt irgendetwas aus«, stellte Maude besorgt fest.
»Wer?«
»Na, wer wohl? Mildred natürlich! Ich bin mir sicher, dass da was im Busch ist. Sie versteckt etwas im Katzenkörbchen und behauptet steif und fest, da wäre nichts.«
»Vielleicht bildest du dir das ja nur ein«, versuchte Edith sie zu beruhigen.
»Einbilden? Was?«, rief Mildred dazwischen, die ihre Freundinnen auf der Treppe eingeholt hatte.
»Ähm … ich bilde mir doch tatsächlich ein, gesehen zu haben, dass Esther freundlich zu einer Erstklässlerin war«, sagte Maude lachend.
»Das ist gut möglich«, meinte Mildred. »Ich habe Esther auf dem Weg zur Schule getroffen, und sie war erstaunlich nett zu mir.«
»Vielleicht hat sie in den Ferien ja einen Kurs in Umgangsformen gemacht«, grinste Edith. »Sie macht in den Ferien ja nichts anderes als Kurse besuchen.«
Die drei Mädchen kicherten, als sie in den Kunstraum marschierten, Mildreds Lieblingsraum im ganzen Schulgebäude. An einer langen Reihe Haken hingen Dutzende von Overalls. Die Mädchen nahmen sich je einen und zwängten sich hinein, bevor sie sich an ihre Plätze begaben. Der Saal war ziemlich groß, mit Steinmauern und schmalen Fensterschlitzen, wie jeder Raum in der Schule; an allen vier Wänden hingen Bilderschienen aus Holz mit gerahmten Gemälden sowie Zeichnungen und Bilder der Schülerinnen. An einer Seite befand sich ein Doppelspülbecken mit langen Abtropfbrettern. Eine freigeräumte Ecke am hinteren Ende war der Bildhauerei vorbehalten. Der Rest des Raums war mit Tischen und Stühlen vollgestellt. Das Lehrerpult stand auf einem hölzernen Podest, auf das zwei Stufen hinaufführten. Hinter dem Pult thronte Frau Schimmel, die neue Kunstlehrerin.
Für eine Lehrerin an Frau Grausteins Akademie sah Frau Schimmel ziemlich unauffällig aus. Sie trug das halblange, mausgraue Haar in der Mitte gescheitelt und hatte es im Nacken mit einem schwarzen Samtband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das graue Twinset und die schwarze Perlenkette harmonierten fraglos mit dem schwarzen Rock. Ihre Stimme klang sanft und freundlich, eine willkommene Abwechslung zu dem strengen, keinen Widerspruch duldenden Ton von Frau Harschmann und auf jeden Fall um Klassen angenehmer als die grässliche Stimme von Frau Granit, der seltsamen Lehrerin, die im vorigen Schuljahr für so viel Aufregung gesorgt hatte.
Mildred war ein bisschen enttäuscht, dass Frau Schimmel so gar nichts von einer Künstlerin an sich hatte, aber davon abgesehen wirkte sie recht nett.
»Guten Morgen, Mädchen«, begrüßte sie die dritte Klasse mit einem schüchternen Lächeln.
»Guten Morgen, Frau Schimmel«, antworteten die Mädchen, die sich von ihren Stühlen erhoben hatten, im Chor.
»Bitte setzt euch wieder.« Frau Schimmel seufzte. »Ich bin ein wenig bestürzt, dass es hier an dieser Akademie keine richtige Töpferausstattung gibt. Töpfern ist mein Lieblingsfach, und ich hatte mich schon sehr darauf gefreut, euch diese Kunst ein wenig näherzubringen. Wenn mich nicht alles täuscht, war der Kunstunterricht hier bis dato eher rudimentär, aber Frau Graustein hat versprochen, dass demnächst ein zweiter Raum eingerichtet werden soll, mit Töpferscheiben für alle und sogar einem Brennofen. Wir müssen in diesem Halbjahr nur zeigen, dass wir auch das entsprechende Talent haben. Also lasst uns einfach anfangen. Dann werden wir schon sehen, ob ihr euch zu kleinen Kunsthandwerkern mausert, ähm, ich wollte natürlich Kunsthandwerkerinnen sagen. Was meint ihr, Mädchen?«
An Frau Grausteins Akademie jubelte man nicht einfach laut drauflos. Stattdessen lächelten die Mädchen der dritten Klasse Frau Schimmel an und nickten zustimmend.
»Schön, schön«, sagte Frau Schimmel enthusiastisch und zerrte einen großen Sack mit feuchtem Ton hinter dem Pult hervor. »Kommt bitte alle nach vorn und holt euch einen Klumpen Ton, gut zwei Handvoll. Wenn ihr dann wieder an eurem Tisch seid, bohrt bitte eure Finger tief in den Klumpen und versucht, ihn auszuhöhlen. Habt keine Angst vor dem Ton, Mädchen! Ihr müsst spüren, wie herrlich glitschig er sich anfühlt, er darf ruhig unter eure Fingernägel geraten. Formt ihn! Knetet ihn! Haucht ihm Leben ein! Werdet eins mit ihm!«
Die Mädchen wechselten amüsierte Blicke angesichts der blumigen Ausdrucksweise ihrer Lehrerin. Sie hatten sich in einer langen Reihe aufgestellt, um sich weisungsgemäß einen Klumpen Ton zu holen. Unterdessen stellte Frau Schimmel auf jeden Tisch ein Schälchen Wasser, damit die Mädchen den Ton schön feucht halten konnten und er nicht austrocknete. Auf jedem Tisch lagen ordentlich aufgereiht ein Holzbrett, ein Satz Werkzeuge zum Formen des Tons und ein kleines Nudelholz.
Frau Schimmel führte die Mädchen in die Wulsttechnik ein und wies sie an, lange, dünne Tonwürste zu rollen und diese aufeinanderzusetzen. Zum Schluss müssten sie dann nur noch die Fugen verstreichen und fertig sei der Topf.
Mildred konnte es gar nicht fassen, wie verheißungsvoll das neue Schuljahr begann; zunächst einmal war da die hervorragende Hausarbeit, mit der sie am Nachmittag Frau Harschmann beeindrucken würde. Dann war Esther richtig nett zu ihr gewesen und hatte keine blöden Witze über Tapsi oder sie gerissen, nicht einmal, als Mildred ihre Tasche hatte fallen lassen. Sie hatte ihr sogar geholfen, alles wieder einzusammeln! Und jetzt hatten sie auch noch eine neue Lehrerin für ein Fach, das Mildred nicht nur Spaß machte, sondern in dem sie sogar richtig gut war. Wenn das so weiterging, würde sie bis zum Abend eine Rekordzahl an Goldsternchen gesammelt haben und am Ende der Woche eine der heißesten Anwärterinnen auf ein Ehrenabzeichen sein. Begeistert bohrte Mildred ihre Finger in den Ton und fühlte, wie sie eins mit ihm wurde.