SIEBEN
Der Piney Woods Lake lag wie in einer tiefen blauen Schale inmitten eines dichten Kiefernwaldes. Julia stellte ihren alten schwarzen Ford-Truck, der früher ihrem Vater gehört hatte, auf einem der letzten freien Parkplätze über dem Holzsteg ab. Sie war lange nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal vermutlich mit ihrem Vater, vor Beverly. Sie hatte ganz vergessen, wie schön es am See war. Als sie und Emily ausstiegen, wurden sie von einer Mischung sommerlicher Gerüche und Geräusche empfangen: feuchter Sand, Kokosöl, Bootsmotoren, lachende Kinder, Musik.
»Hier steppt der Bär!«, rief Emily begeistert aus. »Toll!«
»Wenn ich mich recht entsinne, hat’s deiner Mutter am See auch gut gefallen. Meines Wissens haben die Mädels von Sassafras im Sommer in der kleinen Bucht Hof gehalten«, erzählte Julia, während sie ihre Strandtasche über die Schulter schwang und Emily voran über den vor Hitze flirrenden Parkplatz eilte.
Vom Holzsteg gingen sie, der vielen Menschen wegen hintereinander, zum Strand. Emily blieb kurz stehen, um aus ihren Schuhen zu schlüpfen, und schloss schnell wieder auf.
Zwischen Holzsteg und Bucht hielten sie inne. Auf dieser Seite des Sees standen große Häuser mit Glaswänden, die einen herrlichen Blick auf das glitzernde blaue Wasser boten. Während Julia zwei Handtücher aus der Tasche nahm und auf dem Sand ausbreitete, beschattete Emily die Augen und sah sich um. »Bist du mit Sawyer hier verabredet?«
»Nein. Warum?«, fragte Julia und schlüpfte aus den weißen Shorts, unter denen ihr rotes Bikiniunterteil zum Vorschein kam. Die luftige langärmelige Bluse behielt sie an.
»Weil er gerade kommt.«
Julia drehte sich um. Sawyer, der überall herausstach, fiel in dieser Umgebung mit Sonne und Sand noch am wenigsten auf, denn er glänzte golden wie ein richtiger Sonnenkönig.
»Ich mag ihn«, bemerkte Emily. »Mir war sofort klar, wie er reden würde. Keine Ahnung, warum.«
»Bei manchen Männern weiß man gleich, dass sie aus den Südstaaten kommen. Sie müssen gar nicht den Mund aufmachen«, stellte Julia fest. »Sie wecken positive Erinnerungen – an Picknicks oder Wunderkerzen in der Nacht. Südstaatenmänner halten einem die Tür auf, sie nehmen einen auch dann noch in den Arm, wenn man sie anbrüllt, und sie vergessen nie ihren Stolz, komme, was da wolle. Aber man darf ihnen nicht alles glauben. Mit ihrer speziellen Gabe schaffen sie es, einen immer wieder um den Finger zu wickeln.«
»Was für eine Gabe?«, fragte Emily interessiert.
»Hoffentlich findest du das nie raus«, antwortete Julia.
»Hast du einschlägige Erfahrungen?«
»Ja«, antwortete Julia leise, als Sawyer sie erreichte.
»Hallo, die Damen.«
»Hallo, Sawyer«, sagte Emily und setzte sich.
Julia nahm auf dem Handtuch neben ihr Platz und stopfte ihre Shorts in die Strandtasche. »Was machst du denn hier?«
»Keine Ahnung, Julia. Bären jagen?«
Sie blinzelte zu ihm hoch. »Ist das eine Umschreibung für irgendwas?«
Als er sich auf das Handtuch zu ihren Füßen setzte, ohne ihre Frage zu beantworten, sah sie, dass sie sich in seiner Sonnenbrille spiegelte. Was hatte er vor? Warum war er ihr gefolgt? Eigentlich hätten die achtzehn Jahre Schweigen während ihrer Abwesenheit und die anderthalb Jahre abweisendes Verhalten, seit sie wieder da war, reichen müssen, um ihn auf Abstand zu halten.
Aber er war hier.
Weil sie Stella gestanden hatte, dass sie die Kuchen seinetwegen buk.
Dumm gelaufen.
»Meine Schwester verbringt das Wochenende hier«, erklärte er. »Sie und ihre Tochter haben sich im Seehaus der Familie einquartiert. Ich will sie besuchen.«
»Du bist also nicht hier, weil ich dir gesagt habe, dass ich mit Emily herkommen würde?«, fragte sie skeptisch.
»Das wäre ein bisschen zu leicht, oder?«
»Dir fällt doch alles leicht, Sawyer.«
»Nicht alles.« Da bemerkte er jemanden hinter ihr. »Meine Nichte. Ingrid!«, rief er.
Als Julia und Emily sich umwandten, sahen sie ein hübsches rothaariges Mädchen im Teenageralter. Julia glaubte sich zu erinnern, dass Sawyers ältere Schwester rote Haare hatte.
»Das ist Julia Winterson«, stellte er Julia seiner Nichte vor.
Ingrid begrüßte sie mit einem Lächeln. »Ich erkenne die pinkfarbene Strähne in Ihren Haaren. Manchmal sehe ich Sie im Ort, wenn meine Mom und ich zu Besuch da sind. Gefällt mir gut.«
»Danke«, sagte Julia. »Das ist Emily. Sie ist noch nicht lange hier.«
»Ein paar junge Leute grillen drüben in der Bucht. Sie haben mich eingeladen. Ich muss Mom fragen, ob ich darf. Kommst du mit, Emily?«, erkundigte sich Ingrid.
»Gibt’s einen bestimmten Anlass?«
»Wie meinst du das?«
»Ist das ein Klub oder so was?«
»Eine Party«, antwortete Ingrid und wandte sich zum Gehen. »Bin gleich wieder da.«
Emily wirkte verwirrt.
»Mach’s nicht komplizierter, als es ist«, riet Julia Emily und tätschelte ihre Hand. »Sag einfach: ›Ich komme gern!‹«
»Einfach so«, pflichtete Sawyer ihr bei. »Julia, gehst du am Montagabend mit mir aus?«
»Gern!«, erklärte sie mit gespieltem Enthusiasmus. »Siehst du? Ganz leicht. Es ist bloß ein Grillfest. Gab’s an deiner alten Schule keine Feste?«
»Ich hab Mom bei der Organisation von Veranstaltungen geholfen, gewöhnlich für einen guten Zweck.«
»Auf welcher Schule warst du denn?«
»Auf der Roxley. Meine Mutter hat sie mitbegründet. Die Schule pflegt den Gedanken des gesellschaftlichen Engagements und des globalen Bewusstseins. Ehrenamtliche Tätigkeiten sind Teil des Ausbildungsplans.«
Vielleicht hatte Dulcie doch noch etwas aus ihrem Leben gemacht, dachte Julia. Emily hatte ihre Projekte ja schon einmal erwähnt. Auch wenn es Julia schwerfiel, das zu glauben: Dulcie schien sich nach ihrer Jugend in Mullaby verändert zu haben.
»Für die Grillparty hier gibt’s jedenfalls keinen besonderen Grund. Sie findet nur so zum Spaß statt.«
Emily sah Julia skeptisch an.
Julia musste lachen. »Keine Sorge. Ich bin da, wenn du nach Hause möchtest. Mach dir keinen Stress.«
Kurze Zeit später kehrte Ingrid zurück und erkundigte sich: »Bist du so weit, Emily?«
Emily stand auf, rang sich ein Lächeln ab und begleitete Ingrid.
»Kaum zu glauben, dass Dulcie eine so anständige Tochter zustande gebracht hat«, bemerkte Sawyer.
»Sie ist wirklich ein nettes Mädchen, ja.«
»Und du kannst gut mit ihr umgehen. Aber das wundert mich nicht.«
Julia zuckte mit den Achseln. »Sie braucht jemanden zum Reden, bis sie sich hier eingewöhnt hat. Ich weiß noch gut, wie es in ihrem Alter war. Gott sei Dank sind die Zeiten vorbei.«
Sawyer musterte sie schweigend.
Hätte er doch nur die Sonnenbrille abgenommen!, dachte sie, als sie darin sah, wie angespannt sie wirkte. Doch vermutlich war es ganz natürlich, in seiner Gegenwart befangen zu sein. Im Teenageralter sind Gleichaltrige stets der Gradmesser der Peinlichkeit. Und zu den größten Ungerechtigkeiten des Lebens zählt es, dass man, wenn man als Erwachsener jemandem aus der Schulzeit begegnet, sofort wieder zu der Person wird, die man damals war. Bei Sawyer war sie die alte Julia – die komplexbeladene Tochter eines Mannes ohne Highschool-Abschluss, der seinen Lebensunterhalt mit einem Grilllokal verdiente. Und das, obwohl Sawyer ihr dieses Gefühl nie bewusst vermittelte.
»Warum ziehst du die Bluse nicht aus?«, fragte er schließlich.
»Das fragst du wahrscheinlich alle Frauen.« Weil er nicht auf ihren Scherz reagierte, fügte sie hinzu: »Du weißt, warum.« Als sie den Arm nach ihrer Strandtasche ausstreckte, um eine Flasche Wasser herauszuholen, hielt er ihn fest und schob den Ärmel hoch.
Julia kostete es große Mühe, ihm den Arm nicht zu entwinden. Aber er kannte die Narben. Wie die meisten hier. Sie konnte sie nicht immerzu verstecken.
Er ließ den Daumen über die Narben gleiten. Manche waren sehr dünn, andere breit und erhoben. Diese zärtliche Geste versetzte ihr einen kleinen Stich.
»Wem hast du dich in ihrem Alter anvertraut, Julia?«
Dir. »Niemandem. Deswegen kann ich Emily verstehen.« Sie entzog ihren Arm seinem Griff. »Ich will sie nicht der Sonne aussetzen. Wenn ich braun bin, sind sie noch deutlicher zu sehen.«
»Hattest du nie das Gefühl, mit deinem Dad oder deiner Stiefmutter reden zu können?«
»Dad wusste nicht, was er mit mir anfangen sollte. Und Beverly hat sich um Dad gekümmert, nicht um mich. Sie hat ihn überredet, mich ins Internat zu schicken. Dafür werde ich ihr immer dankbar sein. Von hier wegzukommen hat mir vermutlich das Leben gerettet.«
»Und du kannst es gar nicht erwarten, wieder wegzukommen«, stellte er fest.
»Noch sechs Monate.«
Er streckte sich vor ihr aus und stützte den Kopf in eine Hand. »Wann soll ich dich abholen?«
»Abholen?«, wiederholte sie und nahm einen Schluck Wasser.
»Zu unserer Verabredung am Montag. Du hast meine Einladung angenommen. Vor Zeugen.«
Sie schnaubte verächtlich. »So ein Quatsch.«
»Es ist mein Ernst.«
»Nein, ist es nicht. Versuch, jemand anders um den Finger zu wickeln. Dein Charme verfängt bei mir nicht.«
»Du kennst meine volle Charmeoffensive noch nicht.«
»Du machst mir keine Angst.«
»O doch. Deswegen höre ich auf. Ich möchte mit dir reden, Julia. Aber nicht jetzt.« Die blonden Haare an seinen Armen und Beinen schimmerten wie Zuckerwatte.
»Das ist nicht deine Entscheidung.« Sie erwartete, dass er aufstehen und gehen würde, doch das tat er nicht. Frustriert zog sie ein Buch aus ihrer Tasche und rutschte so weit von ihm weg wie möglich, obwohl ein jämmerlicher Teil von ihr die Nähe zu ihm tatsächlich genoss.
Der Teil, der auf ewig sechzehn bleiben würde, erstarrt in der Vergangenheit.
Je näher sie den Feiernden kamen, desto nervöser wurde Emily. Wahrscheinlich hätte sie keine Sekunde gezögert, zu den jungen Leuten zu gehen, wenn sie nicht zuvor den alten Damen begegnet wäre. Doch nun machte sie sich Gedanken darüber, was man von ihr hielt. Sie sagte sich immer wieder vor, dass es keinerlei Grund gab, warum sie nicht hierherpassen sollte.
Die Gruppe hatte sich ein wenig abseits versammelt, in einer Art Höhle, die die Bäume am hinteren Ende der kleinen Bucht formten. Musik drang herüber. Einige Teenager hatten Plastikbecher mit Getränken in der Hand, ein paar Jungen spielten Ball. Auch Erwachsene waren da, von denen einer den Grill bediente, ein kräftiger Mann mit schwarzen Haaren und dröhnender Stimme.
Während Ingrid in die Gruppe eintauchte, zog Emily sich ans hintere Ende der Höhle zurück und holte ein paarmal tief Luft. Kein Grund zur Panik.
Von Julia wusste sie, dass dies der Ort war, an dem sich die Mädchen von Sassafras im Sommer getroffen hatten. Und nun sah sie, dass dies schon lange ein beliebter Treffpunkt für junge Leute sein musste, weil in die Baumstämme Namen und Initialen eingeschnitzt waren. Ihr Blick fiel auf ein großes Herz mit den Buchstaben D S + L C. Stand das D S für Dulcie Shelby? Der Gedanke, dass ein Junge ihre Mutter einmal genug geliebt hatte, um ihre Initialen in eine Rinde zu ritzen, gefiel Emily. Als Erwachsene war ihre Mutter nicht viel mit Männern ausgegangen, hauptsächlich mit Arbeitskollegen, und das waren alles kurze Affären gewesen. Sie wolle nichts Ernstes, hatte sie Emily gestanden. Du musst deine Bedürfnisse und Erwartungen immer klar formulieren, hatte sie ihr geraten. Dann tust du niemandem weh. Soweit Emily wusste, war die einzige tiefer gehende Beziehung, die ihre Mutter je gehabt hatte, die mit Emilys Vater gewesen. Sie hatten sich auf hoher See kennengelernt, als sie Delphine vor Fischern schützen wollten, und zehn Tage zusammen auf einem Boot verbracht. Das Resultat war Emily gewesen. Zwei Jahre später war ihr Vater bei einem Sea-Shepherd-Unglück ums Leben gekommen, in einer Aktion gegen illegalen Walfang. Ihre Eltern hatten nie geheiratet, weswegen Emily sich nicht an ihn erinnerte und er wie das meiste im Leben ihrer Mutter nebulös blieb.
Als Emily, den Rücken zu den Feiernden, den Baum betrachtete, hatte sie plötzlich das merkwürdige Gefühl, als würden sich warme Bänder von hinten um sie schlingen. Anfangs erschreckte sie das, doch dann nahm sie sich zusammen, weil sie sich nicht vor den jungen Leuten blamieren wollte. Und nach einer Weile stellte sie fest, dass es sich gar nicht so schlecht anfühlte, fast ein wenig tröstlich.
Sie drehte sich um.
Win Coffey.
Er trug eine lange Badehose, die feucht an seinen Oberschenkeln klebte. Wasser tropfte von seinen nassen Haaren in seine Augen, und er roch nach Seewasser.
Sie räusperte sich. »Ohne Anzug hätte ich dich beinahe nicht erkannt«, sagte sie.
Er verzog amüsiert einen Mundwinkel. »Das ist auch eine Art Anzug.«
»Ohne Fliege.«
»Mit schwimmt sich’s schlecht. Ich hab’s probiert.«
Ihr Blick wanderte von seinen Lippen zu seinem Kinn, dann zu den Rinnsalen auf seiner nackten Brust. Verlegen hob sie den Blick wieder. Woher hatte er gewusst, dass sie hier war? Wie hatte er sie vom Wasser aus entdecken können? Sie sah, dass einige der Teenager sie beobachteten und über sie tuschelten. Win schien das nicht zu kümmern. Er gehörte dazu. Was vermutlich hieß, dass sein Interesse für sie ihr nutzte.
»Gehen hier alle auf dieselbe Schule?«, fragte sie.
»Manche verbringen nur den Sommer am See und fahren im Herbst wieder weg«, erklärte er, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Andere wohnen im Ort und gehen auch hier zur Schule.«
»Auf die Mullaby High?«
»Ja.«
»Ich bin ab Herbst in der Abschlussklasse.«
»Ich weiß. Ich auch.« Er strich sich die dunklen, feuchten Haare mit beiden Händen zurück. »Nicht dass ich mich nicht freuen würde, dich wiederzusehen, aber was machst du hier?«
»Du meinst bei diesem Fest?«
»Ja.«
»Ich versuche, mich einzufügen.«
»Das klappt nicht. Mach dir da mal keine Illusionen.«
Da gesellte sich ein dunkelhaariges Mädchen in orangefarbenem Badeanzug zu Win.
»Du bist Emily Benedict, stimmt’s?«, fragte das Mädchen mit der gleichen Mischung aus Aversion und Neugierde, die Win bei ihrem ersten Treffen an den Tag gelegt hatte.
»Ja«, antwortete Win, bevor Emily etwas sagen konnte. »Emily, das ist meine Schwester Kylie.«
»Du bist nicht eingeladen«, stellte Kylie unumwunden fest. »Du verdirbst mir die Party.«
»Ingrid hat mich mitgenommen«, verteidigte sich Emily.
»Verschwinde.«
»Kylie, sei nicht so unhöflich«, tadelte Win seine Schwester.
»Ich bin nicht unhöflich, es ist mein Ernst. Sie soll verschwinden.« Kylie deutete über ihre Schulter. Als Win sich umdrehte, sah er, dass der kräftige Mann den Grill verlassen hatte und auf sie zukam.
Win fluchte leise. »Lass uns gehen.« Er nahm Emily am Arm und dirigierte sie um die Feiernden herum am Wald entlang und zum Hauptstrand. Sobald sie außer Sichtweite der anderen waren, blieb Win stehen.
Emily rieb sich den Arm. Die Stelle, wo er sie festgehalten hatte, fühlte sich warm an. »Tut mir leid«, sagte sie, verblüfft darüber, wie schnell alles gegangen war. »Ich hatte keine Ahnung, dass das eine Privatfete ist.«
Sie sahen einander inmitten der lärmenden Menschen an. »Ist es nicht.«
Sie brauchte einen Moment, um das, was er gesagt hatte, zu verdauen. Es war gar keine private Feier. Was bedeutete, dass nur sie nicht willkommen war. »Ach.«
»Hat dein Großvater schon mit dir gesprochen?«, fragte Win urplötzlich.
»Worüber?«
»Über die Sache mit deiner Mutter und meinem Onkel. Darum ging’s hier.« Er deutete mit dem Kinn in Richtung der Feiernden.
Verwirrt darüber, was der eisige Empfang bei dem Fest mit ihrer Mutter und seinem Onkel zu tun hatte, sagte sie: »Ich hatte gehofft, dass wir uns wiedersehen, damit ich dich danach fragen kann. Du hast mir versprochen, es mir bei unserem nächsten Treffen zu erklären.«
»Ja, das habe ich wohl.« Win zögerte. »Mein Onkel hat als Teenager Selbstmord begangen.«
Darauf war sie nicht gefasst gewesen. Am Ende fiel ihr dazu nur ein lahmes »Das tut mir leid« ein.
»Wegen deiner Mutter.«
Sie erinnerte sich an die Initialen an dem Baum. D S + L C.
Dulcie Shelby und Logan Coffey.
»Sie waren ineinander verliebt«, erklärte Win. »Oder besser gesagt: Er hat sie geliebt. Seine Familie wollte nicht, dass er mit ihr zusammen ist, aber er hat sich gegen sie gestellt, gegen Jahre der Tradition. Deine Mutter hat ihm das Herz gebrochen, als wäre das, was er für sie aufgab, nichts wert.«
Emily versuchte verzweifelt, dem, was er erzählte, Sinn abzugewinnen. »Heißt das, dass du meiner Mutter die Schuld für seinen Tod gibst?«
»Das tun alle, Emily.«
»Alle?« Sie ertappte sich dabei, wie sie lauter wurde.
Win zupfte den Bund seiner Badehose zurecht und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. »Tut mir leid. Ich hätte dir das ein bisschen diplomatischer beibringen sollen. Es ist doch schwieriger, als ich dachte.«
»Was? Mich davon zu überzeugen, dass meine Mutter für den Selbstmord deines Onkels verantwortlich war? Ich sag dir jetzt mal was: Meine Mutter war ein wunderbarer Mensch. Sie hätte nie wissentlich jemandem geschadet. Nie.«
Win wandte sich um. »Mein Dad sucht immer noch nach mir. Komm mit.« Er nahm ihre Hand und führte sie vom Wasser weg zu den Bäumen.
Ihre nackten Füße wirbelten Sand auf, als sie ihm hinterherhastete. »Wo willst du hin?«
»An einen Ort, wo uns niemand sieht«, antwortete er in dem Moment, als sie den kühlen, mit Kiefernnadeln bedeckten Waldboden betraten. Der Geruch von Baumharz, der ihr in die Nase stieg, erinnerte sie an Weihnachtsschmuck und Christbaumkugeln. Das hier war eine völlig andere Welt und Jahreszeit als am See.
»Ich hab keine Schuhe an«, sagte sie.
Er wandte sich ihr zu. »Du scheinst oft ohne Schuhe im Wald herumzulaufen.«
Sie fand das nicht lustig. »Warum tust du das?«
»Ob du’s glaubst oder nicht: Ich versuche, dir zu helfen.«
»Wobei?« Sie hob frustriert die Hände.
»Dabei, dich hier einzugewöhnen.«
Sie verzog die Mundwinkel. Wenn Eingewöhnung bedeutete, dass sie glauben musste, was er von ihrer Mutter behauptete, würde sie sich niemals eingewöhnen.
Bevor sie sich zurück zum Strand aufmachen konnte, sagte er: »Okay, hier ist die Geschichte. Deine Mutter war allgemein als verwöhntes, grausames Kind bekannt. Mein Onkel hingegen war blauäugig und schüchtern. Sie hat seine Gefühle für sie ausgenutzt, um dem Ort ein lange gehütetes Familiengeheimnis der Coffeys zu enthüllen. Anschließend hat sie ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Am Boden zerstört darüber, dass er sie verloren und seine Familie verletzt hatte, hat er sich umgebracht. Sie hat Mullaby ohne ein Wort des Bedauerns verlassen. Vielleicht begreifst du jetzt, warum die Leute hier sich dir gegenüber … auf eine gewisse Weise verhalten.«
»Auf was für eine Weise?«
Er hob die dunklen Augenbrauen. »Ist dir das noch nicht aufgefallen?«
Emily zögerte.
»Also doch.«
Sie schüttelte wütend den Kopf. »Du hast meine Mutter anders als ich nicht gekannt. Sie hätte niemals jemanden im Stich gelassen.«
Win tat es leid, dass er sie verletzt hatte, das war deutlich zu sehen. Allerdings schien er das Gespräch über dieses Thema nicht zu bedauern. Hatte er das mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit gemeint?
»Warum sollte ich dir das alles glauben?«, fragte sie.
Er zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich solltest du das nicht. Wahrscheinlich solltest du dich überhaupt nicht mit mir abgeben. Es wundert mich, dass dein Großvater dir nicht geraten hat, dich von mir fernzuhalten. Aber das tut er bestimmt noch.«
Da ließ der Wind grüne und braune Kiefernnadeln auf sie herabregnen. Emily musterte Win und fragte sich: Wer war dieser seltsame Junge? Was wollte er von ihr?
»Was für ein Geheimnis hat dein Onkel enthüllt?«, erkundigte sie sich.
Er zögerte ziemlich lange. Am Ende verzogen sich seine Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. »Das glaubst du mir doch nicht.«
Er wollte ihr also wieder nichts über sich verraten. Das ärgerte sie.
Emily wandte sich ab und ging zum See zurück. Zurück zum Sommer.
Zu der Stelle, wo Julia im Schneidersitz auf ihrem Handtuch saß und ein Buch las, Sawyer wie eine große Katze zu ihren Füßen ausgestreckt.
Julia hob den Blick, als Emilys Schatten auf sie fiel. »Emily? Was ist los?«, fragte sie und legte ihr Buch beiseite.
»Nichts. Wenn’s dir nichts ausmacht, würde ich gern nach Hause fahren.« Sie wollte unbedingt mit ihrem Großvater sprechen, der einzigen echten Verbindung zu ihrer Mutter. Er würde ihr bestätigen, dass das, was Win sagte, nicht stimmte.
Sawyer setzte sich auf und nahm die Sonnenbrille ab. »Was ist denn passiert?«
»Keine Sorge, alles in Ordnung.« Emily rang sich ein Lächeln ab.
»Meine Schwester war unhöflich zu ihr. Ich muss mich entschuldigen«, erklang Wins Stimme hinter Emily. Sie drehte sich um. Er sah sie mit besorgter Miene an.
Sawyer erhob sich. Er war genauso groß wie Win, aber viel kräftiger. »Womit hat sie Emily aus der Fassung gebracht?«
Bevor Win antworten konnte, fragte Julia: »Es ist euer Fest?«
»Die Geburtstagsfeier meiner Schwester.«
»Oje«, stöhnte Julia, nahm ihre Tasche, stopfte hastig Handtücher, Buch und Wasserflasche hinein und stand auf. »Das wusste ich nicht. Komm, Emily. Lass uns nach Hause fahren.«
»Ich kann sie heimbringen«, erbot sich Win. »Ich komme sowieso bei ihrem Haus vorbei und muss ja vor Sonnenuntergang daheim sein.« Er streckte die Hand aus, und Emily ergriff sie, ohne nachzudenken. Als ihr bewusst wurde, was sie tat, versuchte sie, sie zurückzuziehen, doch er hielt sie fest. Seine Hand war warm und trocken.
»Ich bringe sie nach Hause«, beharrte Julia.
»Es würde mir wirklich keine Umstände machen.«
Sawyer trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich halte das nicht für eine gute Idee, Win.«
Win sah Emily kurz an, bevor er entgegnete: »Darüber scheinen sich alle einig zu sein.« Er ließ ihre Hand los.
Emily hatte sofort das Bedürfnis, seine Berührung wieder zu spüren. Es war verrückt.
Julia legte den Arm um sie. »Komm.«
»Soll ich euch begleiten?«, rief Sawyer ihnen nach.
»Nein.« Julia drehte sich zu ihm um. »Danke.«
Julia und Emily gingen schweigend zum Parkplatz und stiegen in den Truck, dessen Sitze von der Sonne heiß waren. Julia steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
»Win hat mir erzählt, dass sein Onkel wegen meiner Mutter Selbstmord begangen hat«, platzte es aus Emily heraus.
Julia ließ wortlos den Motor an.
»Das stimmt doch nicht, oder?«
»Egal, ob es stimmt oder nicht: Er hätte es dir nicht erzählen sollen«, antwortete Julia und berührte ihren Arm.
»Er behauptet, sie sei grausam gewesen.« Emily schob ihre Hand weg.
Julia zuckte zusammen. »Das muss dir dein Großvater erklären, nicht ich. Und bestimmt nicht Win.« Julia blickte sie voller Mitgefühl an. »Wir müssen uns bewusst für das entscheiden, was uns ausmacht. Ich habe lange gebraucht, das zu begreifen. Irgendwann wird es dir auch noch einleuchten. Okay?«
Emily nickte zögernd.
»Gut.« Julia legte den Rückwärtsgang ein. »Ich bring dich nach Hause, damit du mit deinem Großvater reden kannst.«