ACHT

Schön, dass du wieder da bist«, begrüßte Opa Vance sie, der sich aus seinem Zimmer herausduckte, als Emily das Haus betrat. Es wunderte sie, dass er sich blicken ließ.

»Ich hab mir gedacht, du brauchst einen Wagen, damit du zum See rausfahren kannst, wann immer du möchtest. Dann müsstest du dich nicht hier verkriechen. Ich hab zufällig einen.«

»Opa Vance …«

»Ich benutze ihn nicht, weil ich mit meinen langen Beinen nicht fahren kann. Aber deine Großmutter hatte ein Auto. Komm, ich zeig’s dir.«

Was sollte das nun wieder?, fragte Emily sich.

Er führte sie durch die Küche, wo er sich zur Seite drehen musste, weil seine Schultern breiter waren als der Durchgang zur Veranda. Sie folgte ihm zu einer alten Garage, die aussah, als wäre das Tor ewig nicht mehr aufgemacht worden. Die Auffahrt von der Straße war überwuchert, so dass die Garage im Garten stand wie eine Insel ohne Brücke zum Festland.

Als Vance das Garagentor öffnete, wirbelten Wollmäuse in der Sonne. Vance tastete nach dem Lichtschalter. Die Neonleuchte brummte, flackerte und knackte, bis der Wagen endlich richtig zu sehen war.

»Ein Oldsmobile Cutlass von 1978«, erklärte Vance. »Unter dem Staub ist der Wagen braun. Wenn es dir nichts ausmacht, mit so einem alten Ding herumzukutschieren, lasse ich es für dich auf Vordermann bringen.«

Emily starrte das Auto an. »Ist Mom damit gefahren?«

»Nein. Mit sechzehn wollte sie ein Kabrio, also hab ich ihr eins gekauft.« Er schwieg kurz. »Wenn du etwas anderes möchtest, lässt sich das arrangieren.«

»Nein«, sagte sie sofort. »Der Wagen ist schön. Er sieht aus, als hätte er ordentlich Pferdestärken.«

»Ordentlich Pferdestärken? Das hätte Lily gefallen.«

»Wer ist Lily?«, fragte Emily.

»Lily war meine Frau«, antwortete er. »Hat deine Mutter denn nie von ihr erzählt?«

»Sie hat überhaupt nie was erzählt.« Sag’s ihm. »Opa Vance, heute am See war diese Party, ein Fest von den Coffeys. Man hat mich zum Gehen aufgefordert.«

Könnte man Entrüstung als Person sehen, hätte sie die Gestalt eines zwei Meter fünfzig großen Mannes, der sich zu seiner vollen Größe aufrichtet. »Man hat dich zum Gehen aufgefordert?«

»Nicht mit diesen Worten«, erklärte sie verlegen. »Aber es war klar, dass die Coffeys mich nicht mögen. Abgesehen von Win. Glaube ich. Bei ihm kenne ich mich offen gestanden nicht aus.«

»Das war das Einzige, worum ich dich gebeten hatte, Emily!«, rief er aus. »Dich von ihnen fernzuhalten.«

»Du hast gesagt, ich soll mich von den Mullaby-Lichtern fernhalten, nicht von den Coffeys. Mir war nicht bewusst, dass ich etwas falsch mache.«

Vance holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Stimmt. Du hast damit nichts zu tun.« Er betrachtete den Wagen eine ganze Weile, bevor er das Licht ausschaltete. »Ich hatte gehofft, dass die alten Wunden nach all den Jahren verheilt wären.«

»Hat das mit meiner Mom zu tun?«, fragte sie vorsichtig. »Win hat mir heute unglaubliche Dinge erzählt. Er meint, sie sei grausam gewesen. Doch das kann nicht sein. Mom war ein wunderbarer Mensch. Oder nicht? Ich weiß, dass du nicht über sie reden willst. Aber bitte sag mir wenigstens das.«

»Als kleines Mädchen war Dulcie ziemlich wild«, erzählte er und zog das Garagentor herunter. »Und schrecklich stur und temperamentvoll. Mit ihrer Energie konnte sie die Menschen richtig fertigmachen. Aber sie war auch intelligent und neugierig. Das hatte sie von Lily. Dulcie war zwölf, als Lily starb.« Er wandte den Blick ab und rieb sich verlegen die Augen. »Ich wusste nicht, wie ich allein mit ihr zurechtkommen sollte, und habe ihr gegeben, was ich konnte. Anfangs hat sie die Grenzen ausgelotet und die unmöglichsten Dinge verlangt, um herauszufinden, wie weit sie gehen kann. Ich habe ihr nie einen Wunsch abgeschlagen, und so hat sie immer das Beste bekommen. Als sie älter wurde, hat sie sich gern über Leute lustig gemacht, die weniger hatten als sie. Sie konnte tatsächlich ziemlich grausam sein. Oft war Julia ihr Opfer.«

»Mom war grausam zu Julia?«, fragte Emily entsetzt.

Er nickte. »Und zu anderen«, fügte er zögernd hinzu.

Emily wehrte sich innerlich gegen diese Eröffnung. Das konnte nicht stimmen. Ihre Mutter war ein guter, selbstloser Mensch gewesen und hatte die Welt retten wollen.

»Sie war der Mittelpunkt ihres kleinen Kreises, in dem ihr Wort galt. Wer vor ihren Augen Gnade fand, wurde von den anderen akzeptiert. Und diejenigen, die sie schnitt, wurden auch von den anderen geschnitten«, erzählte er. »Als sie den schüchternen Logan Coffey unter ihre Fittiche genommen und allen eingeschärft hat, ihn zu akzeptieren, haben sie das getan.«

»Win sagt, er hätte Selbstmord begangen.«

»Ja.«

Emily wusste nicht, ob sie die Frage, die ihr auf den Nägeln brannte, tatsächlich stellen sollte. »Hatte meine Mom etwas damit zu tun?« Emily wartete mit angehaltenem Atem auf seine Antwort.

»Ja.«

»Inwiefern?«, fragte sie leise.

Vance hob kurz den Blick zum Himmel, bevor er sagte: »Was hat Win dir erzählt?«

»Dass Logan meine Mom geliebt hat und seine Familie gegen sie war. Angeblich hat er ihr zuliebe mit der Tradition gebrochen, aber meine Mom war nur darauf aus, ihm ein Familiengeheimnis der Coffeys zu entlocken.«

Vance seufzte. »Heute sind die Coffeys viel offener als früher. Damals blieben sie für sich. Dulcie war Status wichtig. Daran war ich schuld, weil sie von mir alles bekommen hat, was sie wollte. Letztlich hing das mit ihrem Kummer über den Verlust ihrer Mutter zusammen. Wenn sie immer mehr kriegte, dachte sie, wäre sie glücklich. Und als die Coffeys sie nicht in ihren Kreis aufnehmen wollten und wegen ihrer Beziehung zu Logan skeptisch waren, ist sie ausgerastet. Nach dem Tod von Lily hat sich ihr Jähzorn oft bemerkbar gemacht. Die Coffeys haben eine Eigenheit: Sie gehen niemals nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus. Logan hat sich wegen Dulcie nicht an diese Regel gehalten. Eines Abends hat sie halb Mullaby mit dem Versprechen zu singen zum Musikpavillon im Park gelockt. Sie hatte eine wunderschöne Stimme. Aber am Ende hat sie Logan auf die Bühne geholt.«

»Was soll das für einen Sinn ergeben?«, fragte Emily. »Er hat Selbstmord begangen, weil sie ihn dazu brachte, in der Nacht aus dem Haus zu gehen? Das ist das große Geheimnis? So ein Quatsch.«

»Den Coffeys ist Tradition sehr wichtig«, erklärte Vance. »Und Logan war ein sensibler junger Mann mit vielen Problemen. Sein Selbstmord hätte die Coffeys fast von hier vertrieben. Wenn sie gegangen wären und ihr Geld mitgenommen hätten, wäre Mullaby ruiniert gewesen. Nach allem, was Dulcie den Coffeys und dem Ort angetan hatte, wollte niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben. Sie hat sich etwas Unverzeihliches geleistet, etwas, das nicht einmal mehr ich für sie geradebiegen konnte. Darüber habe ich zwanzig Jahre lang nicht gesprochen«, gestand Vance. »Und ich wollte es dir auch nicht verraten, weil es besser gewesen wäre, wenn du es nicht erfahren hättest. Die Coffeys sind da offenbar anderer Meinung. Tut mir leid.«

Emily wandte sich wortlos ab und ging zurück ins Haus.

In ihrem Zimmer wurde ihr klar, dass es ein Fehler gewesen war, nach Mullaby zu kommen. Sie hätte ahnen müssen, dass ihre Mutter gute Gründe gehabt hatte, Emily nichts von diesem Ort zu erzählen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das hatte sie gleich gespürt. In Mullaby brachte man sich um, weil jemand gegen die Tradition verstoßen hatte. Weil jemand in der Nacht aus dem Haus gegangen war. Und die Dulcie Shelby, an die sich alle erinnerten, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Mutter.

Da hörte sie ein leises Flattern, als befände sich etwas bei ihr im Zimmer.

Als sie den Blick hob, hätte sie fast ihren Augen nicht getraut.

Nun waren keine Fliederblüten mehr auf der Tapete, sondern winzige Schmetterlinge in allen nur erdenklichen Farben.

Sie hätte schwören mögen, dass ein paar von ihnen flatterten. Es handelte sich um kein Muster; sie waren überall. »Statische Hektik« war wohl die beste Bezeichnung dafür, denn sie schienen unbedingt wegzuwollen. Aus diesem Zimmer und dem Ort hinaus.

Emily trat an die Wand beim Bett und legte die Hand auf die Tapete.

Und spürte sie.

Sie senkte die Hand, entfernte sich rückwärts aus dem Raum und rannte die Treppe hinunter.

Vance kam gerade von draußen in die Küche.

»Die Tapete in meinem Zimmer«, keuchte Emily. »Wann hast du die neu gemacht?«

Er lächelte. »Das erste Mal ist es immer am eindrucksvollsten. Keine Sorge, du gewöhnst dich daran.«

»Die Tapete sieht alt aus. Wie ist das möglich? Wie hast du es geschafft, das Zimmer so schnell zu tapezieren? Und wie bringst du die Tapete dazu, sich zu … bewegen?«

»Damit habe ich nichts zu tun. Das passiert einfach.« Er machte eine Geste, die an einen Zauberer erinnerte. »Es hat bei meiner Schwester angefangen. Keiner weiß, warum. Es ist das einzige Zimmer im Haus, in dem das geschieht. Du kannst gern ein anderes haben.«

Sie schüttelte den Kopf. Das war zu viel verrücktes Zeug für einen Tag.

»Ich bin kein Kind mehr, Opa Vance. Tapeten verändern sich nicht einfach so.«

»Wie sieht sie denn jetzt aus?«, erkundigte er sich.

Als hätte er das nicht gewusst! »Es sind Schmetterlinge drauf. Flatternde Schmetterlinge.«

»Stell dir das Zimmer einfach als universelle Wahrheit vor«, riet Opa Vance ihr. »Unsere Sicht auf die Welt ändert sich ständig. Alles hängt von der eigenen Stimmung ab.«

Sie holte tief Luft. »Schön, dass du es mir als etwas Magisches verkaufen möchtest, und bestimmt war das viel Arbeit, aber das Muster gefällt mir nicht. Darf ich es übermalen?«

»Das wird dir nicht gelingen«, erklärte er mit einem Achselzucken. »Deine Mutter hat’s probiert. Farbe hält auf dieser Tapete nicht. Und ablösen lässt sie sich auch nicht.«

Sie schwieg. Gott, was für ein Ort! Zuerst die Sache mit ihrer Mutter und nun diese … Tapete. »Was bedeutet, dass das Stimmungszimmer an mir hängen bleibt.«

»Es sei denn, du möchtest ein anderes.«

Emily lehnte sich erschöpft an den roten Kühlschrank. Opa Vance musterte sie stumm. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er ein wenig schief stand, als hätte er Schmerzen in der linken Hüfte. »Ich hoffe immer noch, dass sich diese ganze Farce am Ende in Luft auflöst.«

»Das Gefühl kenne ich gut«, sagte er leise.

Sie sah ihn an. »Wird das irgendwann besser?«

»Irgendwann.«

Das war nicht die Antwort, die sie sich gewünscht hatte, doch sie würde damit leben müssen.

Was blieb ihr anderes übrig? Sie hatte keinen anderen Ort, an den sie sich flüchten konnte.

Über siebzig Jahre zuvor, im Februar bei Vollmond – die Leute nannten ihn den Schneemond –, der Piney Woods Lake war zugefroren, und die im Eis gefangenen Wasserpflanzen sahen aus wie Fossilien, wenn die Kinder mit Schlittschuhen darüberfuhren, hatte das Haus neben dem der Coffeys an der Main Street Feuer gefangen.

Als die Feuerwehr eintraf, züngelten bereits Flammen aus den Fenstern. Das Löschfahrzeug musste von den sechs stärksten Männern im Ort hingeschoben werden, weil es in der Kälte nicht ansprang. Die Bewohner des Ortes versammelten sich, in Decken gehüllt, Atemwolken vor dem Mund, in dem Park auf der anderen Straßenseite, um beim Löschen zuzusehen. Vance war vier Jahre alt, und seine Größe bereitete niemandem Kopfzerbrechen. Damals war sein Vater sogar noch stolz auf seinen strammen Jungen. In jener Nacht trug Vance eine rote Mütze mit Bommel, mit dem seine ältere Schwester, die sich mit ihm eine Decke teilte, spielte.

Die Schaulustigen starrten wie hypnotisiert in die goldgelben und blau-orangefarbenen Flammen, die sie an den Sommer erinnerten. Manche waren so fasziniert, sehnten sich so sehr nach wärmerem Wetter und einem Ende schmerzender Glieder, zugefrorener Nachtstühle und trockener, sich schuppender Haut, dass sie sich gefährlich nahe an das brennende Haus heranwagten und von rußgeschwärzten Feuerwehrmännern zurückgehalten werden mussten.

Zuerst wurde einer aufmerksam, dann noch einer, und bald schon beobachtete die ganze Menge nicht mehr das Feuer, sondern das Haus daneben – das Haus der Coffeys. Die Bediensteten schütteten aus den dem Brand zugewandten Fenstern alle Flüssigkeiten, derer sie habhaft werden konnten, in die Flammen nebenan, um das Feuer von den Coffeys fernzuhalten. Wasser aus Blumenvasen, Saft von eingelegten Pfirsichen, eine Schneekugel aus einem der Kinderzimmer, eine halb volle Tasse Tee vom Frühstück.

Schließlich dämmerte es den Schaulustigen, dass die Coffeys nicht herauskommen würden und ihre treuen Bediensteten tapfer versuchten, sie zu retten.

Am Ende war das Feuer gelöscht, ohne dass es auf das Haus der Coffeys übergegriffen hatte. Nur ein paar in der Kälte ohnehin erfrorene Azaleenbüsche waren den Flammen zum Opfer gefallen. Am nächsten Morgen begann sich die Geschichte herumzusprechen, dass die Coffeys sich während des Brands in ihrem Keller verkrochen hatten, weil sie lieber gestorben wären, als nachts aus dem Haus zu gehen.

Die Leute hatten immer schon von der Abneigung der Coffeys gegen die Dunkelheit gewusst, aber nicht, wie ernst es ihnen damit war. Zum ersten Mal fragten sich die Einwohner von Mullaby: Was, wenn sie nachts überhaupt nicht aus dem Haus kamen?

Was, wenn es daran lag, dass sie das nicht konnten?

Dulcie hatte diese Geschichte als kleines Mädchen so sehr geliebt, dass Vance sie ihr vor dem Schlafengehen manchmal zweimal erzählen musste. Und sie hatte immer ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt und Distanz zu ihrem Vater gehalten. Vielleicht lag es daran, dass er in ihrer Babyzeit so vorsichtig mit ihr umgegangen war, weil sie ihm so winzig erschien. Er hatte Angst gehabt, auf sie zu treten oder sie fallen zu lassen, wenn er sie mit seinen riesigen Händen hochnahm. Und als er endlich etwas gefunden hatte, was ihm Dulcie näherbrachte, nämlich die Geschichte der Coffeys, war er begeistert gewesen. Er hatte nicht geahnt, dass er damit den Grundstein zu dem Verhängnis legte. Als Teenager war sie dann von den Coffeys besessen gewesen.

Und das wollte er bei Emily verhindern.

Als Emily an jenem Abend im Bett lag, setzte er sich mit einem Stuhl auf die hintere Veranda und wartete, eine Taschenlampe in der einen, ein Kleeblatt, das ihm Glück bringen sollte, in der anderen Hand. Der Bocksmond stand am Himmel – die Zeit der Jungen, Liebestollen.

Die Lichter von Mullaby gab es schon ewig, über sie kursierten unzählige Geschichten. Nach dem Feuer kam das Gerücht auf, dass sie die Geister von verstorbenen Angehörigen der Coffey-Familie seien, die im Tod nachts die Freiheit genossen, die sie im Leben nie gehabt hatten. Dieses Gerücht hielt sich, so dass die Bewohner von Mullaby die Lichter nach wie vor allen Fremden, die danach fragten, so erklärten.

Als das Licht in jener Nacht aus dem Wald auftauchte, stand Vance auf und schaltete die Taschenlampe ein.

»Geh dahin zurück, wo du herkommst«, rief er leise. »Ich weiß, was meine Tochter dir angetan hat. Aber Emily kriegst du nicht.«