NEUN

Am späten Montagnachmittag ging Julia ziemlich benommen mit einem Packen Briefe von der Post nach Hause.

An der Shelby Road zog sie noch einmal die Postkarte heraus.

War das zu fassen?

Die Karte stammte von Nancy, einer ihrer besten Freundinnen in Baltimore. Weil Julia sich in Mullaby kein Telefon leistete, schrieb Nancy ihr einmal im Monat, was sich in ihrem dortigen Freundeskreis tat – eine bunte Truppe junger Berufstätiger, die Cocktails schlürften und viel redeten, ohne Wesentliches zu sagen. Julia vermutete, dass sie alle in ihrer Highschool-Zeit beliebt gewesen waren, und es gefiel ihr, dass sie sie für eine der ihren hielten. Die Postkarte heute brachte Julia aus der Fassung. Darin schrieb Nancy – von der sie nicht einmal wusste, dass sie einen festen Partner hatte –, sie habe geheiratet. Außerdem sei ihr gemeinsamer Freund Devon nach Maine gezogen, und Thomas wolle eine neue Stelle in Chicago antreten. Nancy versprach Julia, ihr alle Einzelheiten mitzuteilen, sobald sie von ihren Flitterwochen in Griechenland zurück sei.

Von ihren Flitterwochen.

In Griechenland.

Julia hatte nicht erwartet, dass in ihrer Abwesenheit alles gleich bleiben würde, aber auch nicht, dass sich die Dinge so drastisch verändern würden. Und innerhalb so kurzer Zeit. Sie hatte gehofft, zu mehr Gewohntem zurückkehren zu können. Wenn sie nun wieder nach Baltimore ging, waren kaum noch welche ihrer Freunde dort. Aber genau die Aussicht darauf hatte ihr in Mullaby Kraft gegeben.

Sie versuchte, sich zu sammeln. Sie hatte ja noch ihren Traum von der Blue-Eyed Girl Bakery. Die Bäckerei war der Grund, warum sie das alles tat, warum sie sich für zwei Jahre in diese Hölle begeben hatte. Natürlich war sie sich immer des Risikos bewusst gewesen, dass sie sich ihren Freunden entfremden würde. Freundschaften ohne Altlasten waren fragil und Launen unterworfen, das wusste sie; denn es gab keine gemeinsame Vorgeschichte, die einen im Guten wie im Schlechten zusammenschweißte.

Julia musste sich damit abfinden.

Sie war schon über viel schlimmere Verluste hinweggekommen.

Da hörte sie ein Platschen und sah vor Vance’ Haus Emily mit einem Eimer Seifenlauge und einem Schwamm, vor ihr ein großer alter Wagen, der sich standhaft weigerte, sauber zu werden.

Julia schob die Karte in einen der Kataloge, die sie von der Post geholt hatte, und gesellte sich zu Emily. Sie hatte sie seit Samstag nicht mehr gesehen und fragte sich, ob das Gespräch zwischen ihr und ihrem Großvater inzwischen stattgefunden hatte.

»Hübscher Wagen.«

Emily hob den Blick. Ihre blonden Haare waren wie immer widerspenstig, zur Hälfte in einem Pferdeschwanz gebändigt, die andere Hälfte um ihr Gesicht hängend.

»Der gehört Opa Vance. Er überlässt ihn mir. Sein Mechaniker holt ihn morgen früh zur Inspektion ab, aber ich hab ihn erst mal zum Waschen aus der Garage rausgeschoben.«

»Ich wusste gar nicht, dass Vance den nach wie vor hat«, sagte Julia, trat an den Wagen und beugte sich herunter, um durch eines der schmutzigen Fenster zu schauen. »Der gehörte seiner Frau, stimmt’s?«

»Ja.«

»Hast du mit deinem Großvater geredet?«

»Ja.« Emily schob sich mit dem Arm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so werden würde, aber meine Mom wusste es. Bestimmt ist sie deswegen nie mehr nach Mullaby gefahren und hat mir nichts darüber erzählt. Allmählich beginne ich zu glauben, dass sie mich nicht hier haben wollte.«

Julia sah zuerst Emily an, dann den Wagen und schließlich wieder Emily. Ein solches Auto hätte Julia in Emilys Alter auch gern gehabt. »Willst du wieder von hier weg?«

Emily, die staunte, dass Julia ihre Gedanken erraten hatte, zuckte mit den Achseln. »Ich wüsste nicht, wohin.«

»Dieses Wochenende ist das Mullaby Barbecue Festival, ein ziemlich großes Grillfest. Gehst du mit mir hin?«

Emily wich ihrem Blick aus. »Du musst das nicht machen, Julia.«

»Was?«

»Dich so um mich bemühen. Meine Mom war grausam zu dir. Du brauchst nicht nett zu mir zu sein.«

Oje. »Vance hat es dir also erzählt?«

»Er hat gesagt, meine Mom hätte dich verspottet. Was hat sie gemacht?« Emily sah ihr in die Augen.

»Zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf. Das hat nichts mit dir zu tun.«

»Bitte erzähl’s mir.«

»Ich war damals ziemlich schwierig, Em«, sagte Julia. »Aber wenn du es unbedingt wissen möchtest: Ich hab in der Schule nicht nur pinkfarbene Haare, schwarze Klamotten und schwarzen Lippenstift, sondern jeden Tag ein schwarzes Lederhalsband mit Nieten getragen. Deine Mutter hat mir deswegen Hundeleckerli mitgebracht und sie mir im Gang zugeworfen. Einmal hatte sie sogar Flohpulver dabei. Und wenn ihr sonst nichts mehr einfiel, hat sie mich angebellt.« Bei der Erinnerung daran schwieg sie eine Weile. »Ich habe ihr genug Stoff geliefert, sich über mich lustig zu machen. Du kennst die Fotos. Wahrscheinlich hatte ich mir die Hänseleien selber zuzuschreiben.«

»Das ist keine Entschuldigung. Niemand hat das Recht, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen.« Emily schüttelte den Kopf. »Das hat meine Mom mir beigebracht. Kannst du dir das vorstellen?«

»Das kann ich«, antwortete Julia.

»Du hast mir erzählt, dass sie beliebt gewesen ist.«

»Ja.«

»Aber niemand mochte sie wirklich?«

Julia stutzte. »Doch, Logan Coffey.«

Emily ließ den Schwamm, den sie in der Hand hielt, in den Eimer zu ihren Füßen fallen. »Tut mir leid, dass sie so eklig zu dir war.«

»Du musst dich nicht verantwortlich fühlen für das, was deine Mutter getan hat, Em. Du bist nicht wie deine Mutter, sondern eher so, wie sie später geworden ist. Es würde sich lohnen zu bleiben, um allen genau das zu beweisen.«

Da hörten sie eine Autotür zuschlagen. Als sie sich umdrehten, sahen sie Sawyer aus einem weißen Lexus Hybrid steigen, die Sonnenbrille abnehmen und in den offenen Kragen seines Hemds schieben, bevor er auf sie zukam.

»Holt er dich ab?«, fragte Emily.

Julia sah sie verständnislos an.

»Er hat dich doch am See gefragt, ob du am Montagabend mit ihm ausgehst.«

Julia warf stöhnend den Kopf in den Nacken. »O Scheiße.«

Emily lachte. »Das hast du vergessen? Eine Verabredung mit ihm

»Ja, irgendwie schon.« Julia schmunzelte, froh darüber, dass wenigstens Emily das lustig fand.

»Hallo, meine Damen«, begrüßte Sawyer sie.

»Hallo, Sawyer. Julia hat eure Verabredung nicht vergessen«, erklärte Emily. »Sie ist nur … spät dran. Es ist meine Schuld. Ich hab ihr meinen Wagen gezeigt. Stimmt’s, Julia?«

Julia brauchte eine Weile, bis ihr aufging, dass Emily glaubte, ihr zu helfen. »Stimmt«, pflichtete Julia ihr bei. »Lass es mich wissen, ob du mich am Samstag zum Grillfest begleitest, ja?«

»Ja, mache ich.«

Julia hakte sich bei Sawyer unter und schob ihn nach nebenan. »Sie meint, wir sind verabredet«, flüsterte sie ihm zu. »Und sie wollte mir helfen, das Gesicht zu wahren, weil sie glaubt, ich hätte es vergessen. Spiel bitte mit, ja?«

»Okay«, sagte er, als sie die Stufen zu Stellas Haus hinaufgingen. »Aber ich bin da, weil wir verabredet sind. Offensichtlich hast du es tatsächlich vergessen.«

Als sie das Haus betraten, legte Julia ihre Post auf das Tischchen im Eingangsbereich. »Ich bin nicht mit dir verabredet«, widersprach sie.

»Du hast in Gegenwart von Emily Ja gesagt. Und sie hat dir gerade geholfen. Willst du ihr kein Vorbild sein?«

»Das ist gemein. Warte hier, bis sie im Haus ist.«

Er trat ans Fenster des Wohnzimmers und schob den Vorhang zur Seite. »Das könnte dauern. Der Wagen ist ziemlich schmutzig.«

Julia lächelte. »Sie scheint sich sehr darüber zu freuen.«

»Wie ging’s ihr, als du sie am Samstag nach Hause gebracht hast? Sie scheint sich wieder gefangen zu haben.«

»Sie kommt zurecht. Ihr Großvater hat ihr endlich erzählt, wie ihre Mutter damals war. Ich glaube, jetzt kann sie besser mit der Ablehnung der Coffeys umgehen.«

»Sie ist wirklich ganz anders als Dulcie.« Er ließ den Vorhang los, ging zu Stellas Sofa mit dem gestreiften Seidenbezug, auf das sich niemand setzen durfte, nahm darauf Platz, schlug die Beine übereinander und legte die Arme auf die Rückenlehne. Julia ertappte sich dabei, wie sie ihn anstarrte. Gott, was für ein attraktiver Mann! »Darf ich dich auf was hinweisen? Je länger ich bei dir bleibe, desto wahrscheinlicher denkt sie, dass wir hier was Unanständiges treiben«, bemerkte er.

»Zum Beispiel? Stellas Möbel stehlen?«

»Bist du aber begriffsstutzig.«

»Und du willst mich manipulieren.«

Er zuckte mit den Achseln. »Wenn’s sein muss.«

»Vorsicht, Sawyer, du verhältst dich gerade sehr ähnlich wie damals mit sechzehn. Und ich hatte gedacht, du hättest was dazugelernt.«

»Endlich.«

»Was endlich?«

»Endlich sind wir an dem Punkt, über den ich mit dir reden möchte.«

Sie war in die Falle getappt. »Nein«, sagte sie. »Stella kann jeden Moment heimkommen.«

»Sie kommt frühestens in einer Stunde.« Er fixierte sie mit dem Blick. »Du behauptest, du hättest mir verziehen. Stimmt das?«

»Auf dieses Gespräch lasse ich mich nicht ein.« Sie schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Weil das mir gehört, Sawyer!«, herrschte sie ihn an. »Es sind meine Erinnerung und mein Bedauern. Ich werde sie nicht mit dir teilen. Damals wolltest du sie nicht. Und jetzt kriegst du sie nicht.«

Sawyer erhob sich. Julia, die glaubte, er würde sich ihr nähern, wich zurück. Doch er ging zu dem Kamin in Stellas Wohnzimmer, schob die Hände in die Taschen und starrte in die kalte Asche. »Holly und ich konnten keine Kinder haben.«

Julia war verdutzt über diesen unvermittelten Themenwechsel. Sawyer und Holly hatten gleich nach dem College geheiratet. Das hatte Julia wehgetan, sie aber nicht erstaunt, denn Sawyer und Holly waren seit der Schulzeit ein Paar gewesen. Zu ihrer Überraschung hatte Julia bei ihrer Rückkehr nach Mullaby erfahren, dass ihre Ehe weniger als fünf Jahre gehalten hatte. Alle, auch Julia, waren davon ausgegangen, dass sie bis an ihr Lebensende zusammenbleiben würden. Julia wusste am besten, worauf Sawyer für Holly verzichtet hatte.

»Ironie des Schicksals: Es lag an mir«, fuhr Sawyer fort. »Ich habe mir im letzten Collegejahr Windpocken eingefangen und auf ungewöhnliche Weise darauf reagiert. Es vergeht keine Woche, in der ich nicht an die Sache mit uns denke, Julia. Meine Angst und Dummheit haben dir eine schwierige Zeit deines Lebens noch schwerer gemacht und meine einzige Chance ruiniert, ein Kind zu zeugen. Das wollte ich dir sagen. Als du nach Mullaby zurückgekommen bist, war mir gleich klar, dass ich in deinen Augen nach wie vor der dumme Junge von damals bin. Vielleicht tröstet dich mein Geständnis.«

»Trösten?«, fragte sie ungläubig.

Er zuckte mit den Achseln. »Weil du nun weißt, dass ich für meine Dummheit bezahlt habe.«

Zum ersten Mal wurde Julia bewusst, dass Sawyer seinerzeit vermutlich genauso verwirrt über alles gewesen war wie sie. Er hatte es nur geschickter verborgen.

»Wie kommst du auf die Idee, dass mich das trösten könnte?«

»Tut es das denn nicht?«

»Natürlich nicht.«

Ohne den Blick vom Kamin zu wenden, sagte er: »Soweit ich weiß, können Frauen auch nach einer Abtreibung noch Kinder bekommen. Stimmt das?«

Sie zögerte. »Ich denke schon.«

»Das freut mich«, erklärte er mit leiser Stimme.

Dieses Thema war so lange ihres gewesen. Sie hatte nicht gedacht, dass es ihm wichtig war oder dass er es verdiente, von der Hoffnung zu erfahren, die sie so lange gehegt hatte. »Du Schwein. Jetzt nimmst du mir auch noch meine Wut auf dich. Warum konntest du nicht einfach den Mund halten?«

Er verzog spöttisch das Gesicht. »Weil es mich total antörnt, schönen Frauen zu gestehen, dass ich unfruchtbar bin.«

In dem Moment ging die Haustür auf. Stella. Wenn sie von ihrem Blumenladen heimkam, roch sie immer nach Nelken. Der Duft strömte ihr voran ins Zimmer wie ein Tier, das sich freute, wieder zu Hause zu sein.

»Ich hab dir doch gesagt, dass sie bald kommt«, fauchte Julia Sawyer an.

»Störe ich?«, fragte Stella schmunzelnd. »Ich kann auch später wiederkommen. Oder gar nicht. Ich bleibe gern die ganze Nacht weg.«

»Du störst nicht. Gute Nacht.« Julia wandte sich ab und lief die Treppe zu ihrem Bereich hinauf.

»Gute Nacht?«, rief Stella ihr nach. »Es ist doch erst fünf.«

In ihrem Schlafzimmer sank Julia aufs Bett und starrte die gelben Rechtecke an, die die Sonne an die Decke warf.

Ihr Aufenthalt in Mullaby, dachte sie, brachte ihr Leben gründlich durcheinander.

Die ersten sechs Wochen in der Collier Reformatory waren hart gewesen, weil es dort ziemlich taffe Mädchen gab. Julia verbrachte einen großen Teil der Zeit weinend im Schlafsaal und versuchte immer wieder, Sawyer telefonisch zu erreichen. Das Dienstmädchen teilte ihr jedes Mal mit, er sei nicht zu Hause. Julia weigerte sich, ihren Vater anzurufen oder mit ihm zu sprechen, wenn er sich bei ihr meldete, aus Enttäuschung über das, was er ihr angetan hatte. Ihr Therapeut drängte sie nicht. Anfangs empfand sie ihre Sitzungen als seltsam, doch dann begann sie, sich darauf zu freuen.

Ihr Therapeut war die zweite Person, der sie sich anvertraute, als sie feststellte, dass sie schwanger war.

Julia freute sich wie eine Schneekönigin, weil das für sie bedeutete, dass sie nach Hause zurückkehren und mit Sawyer zusammen sein konnte. Sie würden heiraten, zusammenleben und gemeinsam ihr Kind aufziehen. Er würde sie glücklich und zu einem besseren Menschen machen, das wusste sie. Denn er nahm sie wahr, als Einziger.

Sie rief immer wieder bei ihm an, bis sie das Dienstmädchen mürbe gemacht hatte. Als Sawyer schließlich ans Telefon ging, war Julia über seinen Tonfall verblüfft.

»Julia, hör auf, hier anzurufen«, herrschte er sie an.

»Du … Du fehlst mir. Wo treibst du dich immer rum?«

Schweigen.

»Hier ist es schrecklich«, fuhr sie fort. »Sie wollen mir Medikamente geben.«

Sawyer räusperte sich. »Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee, Julia.«

»Doch.« Sie lächelte bei dem Gedanken daran, wie schön alles werden würde. »Es könnte dem Baby schaden.«

Wieder Schweigen, dann: »Was für ein Baby?«

»Ich bin schwanger, Sawyer. Ich werd’s meinem Therapeuten sagen und dann meinem Dad. Wahrscheinlich bin ich bald wieder zu Hause.«

»Moment«, fiel er ihr ins Wort. »Was ist los?«

»Ich weiß, das kommt überraschend. Für mich auch. Aber begreifst du denn nicht? Das ist wirklich das Schönste, was passieren konnte. Ich komme nach Hause, und wir können miteinander glücklich sein.«

»Ist es von mir?«

Es schnürte ihr die Brust zusammen. »Natürlich. Das mit dir war mein erstes Mal. Du warst mein erster Mann.«

Er schwieg so lange, dass sie fürchtete, er habe aufgelegt.

»Julia, ich will kein Kind«, erklärte er schließlich.

»Zu spät«, erwiderte sie und versuchte zu lachen.

»Tatsächlich?«

»Wie meinst du das?«

»Ich bin sechzehn!«, platzte es aus ihm heraus. »Ich kann noch nicht Vater werden! Außerdem bin ich mit Holly zusammen. Was Schlimmeres kann ich mir im Moment nicht vorstellen! Ich habe Pläne für die Zukunft!«

Wieder dieses Stechen in der Brust; das Atmen fiel ihr schwer. »Du bist immer noch mit Holly zusammen?« Nach dem, was auf dem Football-Feld passiert war, hatte sie geglaubt … wie er sie angesehen und berührt hatte …

»Ich bin seit Ewigkeiten mit ihr zusammen, das weißt du. Wir wollen nach dem College heiraten.«

»Aber die Nacht …«

Er fiel ihr ins Wort. »Du warst niedergeschlagen.«

»Es geht also nicht nur um das Baby?«, flüsterte sie. »Du willst mich nicht?«

»Tut mir leid. Wirklich. Ich dachte, das ist dir klar.«

Du dachtest, das sei mir klar? Ihr kamen die Tränen. Sie hatte geglaubt, dass er ihr Retter in der Not sein würde.

»Ich kümmer mich drum«, sagte sie. Egal, ob Sawyer das Kind wollte – sie würde auch allein zurechtkommen.

Sawyer verstand sie falsch. »Gut. Es ist die richtige Entscheidung, Julia. Toll wird das natürlich nicht, aber immerhin geht’s schnell. Lass es wegmachen. Ich schick dir Geld.« Er klang erleichtert.

Sie spürte Hass in sich aufsteigen.

Sie sollte abtreiben lassen? Er wollte das Kind nicht und gönnte es auch ihr nicht. Wie hatte sie nur glauben können, so jemanden zu lieben? »Nein, das schaff ich allein.«

»Lass dir helfen.«

»Du hast mir schon genug geholfen«, entgegnete sie und legte auf.

Es ihrem Vater zu sagen war schrecklich. Als ihr Therapeut sie dazu brachte, ihn anzurufen, wollte ihr Vater, dass sie sofort nach Hause kam, weil er meinte, sie sei an der Collier schwanger geworden. Sie gestand ihm, dass es noch in Mullaby passiert war, nannte ihm jedoch nicht den Namen des Vaters. Am Ende einigten sie sich darauf, dass sie an der Collier blieb. Schließlich war sie nicht die einzige Schwangere dort.

Im dritten Monat entwickelte sie einen Heißhunger auf Kuchen. Es gab Zeiten, in denen sie meinte, deswegen den Verstand zu verlieren. Ihr Therapeut erklärte ihr, dass solche Gelüste in der Schwangerschaft ganz normal seien, doch Julia wusste es besser. Dieses Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs, besaß offenbar Sawyers sechsten Sinn für Süßes. Wenn Julia während des Tages nicht genug Süßes bekam, schlich sie sich abends aus dem Schlafsaal in die Cafeteria, wo sie ihren ersten Kuchen buk. Nach einer Weile beherrschte sie das Backen ziemlich gut, weil es das Einzige war, was das Kind in ihrem Bauch beruhigte. Auch auf die Schule hatte es eine ungewöhnliche Wirkung. Während ihrer nächtlichen Backaktionen wehte der Duft von Kuchen durch die Gänge, und selbst die Mädchen, die sonst düstere Träume hatten, träumten nun von ihrer geliebten Oma oder Geburtstagsfeiern längst vergangener Tage.

Im fünften Monat der Schwangerschaft begann Julias Therapeut, mit ihr über Adoptionsmöglichkeiten zu sprechen, doch sie weigerte sich beharrlich, sich darüber Gedanken zu machen. In jeder Sitzung fragte ihr Therapeut: Wie willst du allein für das Kind sorgen? Julia bekam es mit der Angst zu tun. Die einzige Lösung war ihr Vater, aber als sie ihn darauf ansprach, sagte er Nein. Beverly wolle kein Baby im Haus.

Im Frühjahr bekam sie im Französischunterricht heftige Wehen. Es ging alles so schnell, dass sie im Notarztwagen, noch auf dem Weg ins Krankenhaus, entbunden wurde. Sie spürte die Frustration und Ungeduld des Kindes, auf die Welt zu kommen. Julia konnte sie nicht stoppen. Ihre Tochter hatte ihren eigenen Kopf. Nach der Geburt beklagte sich die Kleine lauthals darüber, wie beschwerlich die Reise gewesen war, wie alte Damen in Tweedmänteln sich über lange Zugfahrten in die Stadt beklagen. Darüber musste Julia lachen, die das quengelnde Baby im Notarztwagen im Arm hielt. Sie fand die Kleine, die Sawyers blonde Haare und blaue Augen hatte, wunderschön.

Als Julias Vater sie am nächsten Tag im Krankenhaus in Maryland besuchte, bat sie ihn das letzte Mal, sie und das Baby bei sich aufzunehmen.

Doch er sagte, seine Kappe verlegen in den Händen drehend, wieder Nein. Danach versuchte sie nicht mehr, eine echte Beziehung zu ihrem Vater aufzubauen. Danach war nichts mehr wie früher.

Ihre Tochter wegzugeben war die schwerste Entscheidung ihres Lebens. Julia wusste, dass sie jetzt, da das Kind geboren war, nicht allein dafür sorgen konnte. Sie schaffte es ja kaum, für sich selbst zu sorgen. Julia hasste Beverly dafür, dass sie keinen Säugling im Haus wollte, und ihren Vater seiner Schwäche wegen. Aber am meisten hasste sie Sawyer. Wenn er sie nur geliebt und ihr geholfen hätte! Dann hätte sie das Kind behalten können. Er nahm ihr den einzigen Menschen auf der Welt, der sie je ganz brauchen und den sie ihr Leben lang lieben würde.

Man teilte ihr mit, dass ein Paar aus Washington, D. C., die Kleine adoptiert habe. Julia erhielt zwei Fotos, das offizielle Krankenhausfoto und eines von Julia im Krankenbett mit ihrer Tochter auf dem Arm – warm und weich und rosig. Julia steckte die Bilder sofort weg, weil es ihr zu wehtat, sie zu betrachten, und entdeckte sie Jahre später in einem alten Schulbuch, als sie nach dem College ihre Sachen packte.

Es dauerte eine Weile, bis sie ihr seelisches Gleichgewicht wiedererlangte. Kurz nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus fing sie erneut an, sich selbst zu verletzen. Ihr Schultherapeut bemühte sich sehr, sie in einem von Collier gesponserten Sommerprogramm unterzubringen, weil Julia noch nicht nach Hause wollte. Ihr Vater erklärte sich bereit, sie auch das letzte Highschool-Jahr an der Collier zu lassen.

Im folgenden Jahr bewarb sie sich um einen Platz am College und wurde genommen. Obwohl sie seit ihrer Schwangerschaft nicht mehr gebacken hatte, waren die Monate der Übung genug gewesen, um ihr einen Job in der Bäckerei eines Lebensmittelladens zu sichern, so dass sie ihrem Vater bei der Finanzierung der Collegegebühren helfen konnte. Inzwischen war Julia dank fortgesetzter Therapiesitzungen in der Lage, ohne Wut an Sawyer zu denken. Und ihr fiel ein, dass er erzählt hatte, wie er dem Duft der Kuchen von seiner Mutter nach Hause gefolgt war. Das wurde für sie zum Symbol. Vielleicht würden ihre Kuchen ihre Tochter – die wie ihr Vater ein Gespür für Süßes hatte – eines Tages zu Julia locken. Dann würde sie ihr erklären, warum sie sie weggegeben hatte.

Fast zwanzig Jahre später sandte Julia noch immer ihren Ruf nach ihr aus. Das Wissen, dass sie irgendwo da draußen war, half Julia, die Tage zu bewältigen. Sie konnte sich kein Leben ohne dieses Wissen vorstellen.

Sawyer hingegen führte ein Leben ohne ein solches Wissen.

Ihr wurde klar, dass sie es ihm gestehen musste.

Bisher hatte sie geglaubt, sich in Mullaby elend zu fühlen.

Doch die folgenden sechs Monate würden die Hölle werden.

Julia hörte leises Klopfen. Als sie die Augen aufmachte, überraschte es sie zu sehen, dass der Abendstern bereits am dunklen Himmel prangte. Sie stand auf und ging zur Tür.

»Julia?«, rief Stella. »Julia, alles in Ordnung? Du bist so ruhig. Sawyer ist weg, falls du darauf gewartet hast.« Schweigen. »Okay. Ich bin unten, wenn du mich brauchst. Wenn du reden möchtest.«

Sie hörte, wie Stella sich entfernte.

Julia legte den Kopf kurz an den Türpfosten, bevor sie auf den Flur hinaustrat und in ihre Küche ging.

Ein Kolibrikuchen, beschloss sie, als sie das Licht in der Küche einschaltete. Er bestand aus Bananen, Ananas, Pekannüssen und hatte eine Frischkäseglasur.

Julia würde einen federleichten Kuchen backen, leicht genug, um wegzuschweben.

Sie öffnete das Fenster.

Um zu ihrer Tochter zu schweben.