ZEHN

Der Wagen hatte einen Achtspurrekorder und ein riesiges Lenkrad wie auf einem Boot, und im Innern roch es nach Hustenbonbons.

Emily liebte diesen Wagen.

Als der Mechaniker das Auto am folgenden Tag zurückbrachte, setzte sie sich gleich hinters Steuer. Und stellte fest, dass sie kein Ziel hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger wollte sie Mullaby verlassen. Obwohl sie das nie laut ausgesprochen hätte, fühlte sie sich durch die menschlichen Schwächen ihrer Mutter merkwürdig getröstet. In Boston war Dulcie ihr ein Vorbild gewesen, dem sie nicht das Wasser reichen konnte. Manchmal hatte sie ihrer Mutter das übel genommen und deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt. Doch nun stellte sich heraus, dass nicht einmal Dulcie selbst ihren hohen Ansprüchen hatte genügen können. Jedenfalls nicht in Mullaby.

Emily blieb im Wagen sitzen, bis es ihr zu warm wurde, und stieg dann aus. Julia konnte sie nicht besuchen, denn die war unterwegs. Und sie wollte nicht ins Haus, weil Opa Vance ein Nickerchen hielt. Außerdem machte die neue Schmetterlingstapete in ihrem Zimmer, die sich manchmal zu bewegen schien, sie nervös. Emily begriff einfach nicht, wie das möglich war. Sie schlenderte zur hinteren Seite des Hauses. Der Garten war so überwuchert, dass man von dort aus kaum die Laube erkennen konnte. Es wunderte sie, dass sie sich in der Nacht, in der sie den Lichtern von Mullaby gefolgt war, nichts Schlimmeres zugezogen hatte als eine Schnittwunde an der Ferse.

Da sie nichts Besseres zu tun hatte, sammelte sie Zweige und heruntergefallene Äste vom Boden auf. Anschließend suchte sie in der Garage erfolglos nach einem Rasenmäher. Dafür entdeckte sie eine Gartenschere, mit der sie die Buchsbaumsträucher bei der Laube stutzte, wobei sie einen großen Frosch aus dem Schatten aufscheuchte.

Während sie Pfosten und Gitter der Laube freilegte, wich der fette Frosch nicht von ihrer Seite.

Einer der abgeschnittenen Zweige landete auf dem Tier. Als Emily sich lachend bückte, um es davon zu befreien, fiel ihr Blick auf ein großes Herz mit den Initialen D S + L C.

Eingeritzt in einen der hinteren Pfosten der Laube, ziemlich weit unten, wie an dem Baum am See.

Sie ließ die Finger über die Konturen des Herzens gleiten. Logan Coffey hatte sich in diesem Garten aufgehalten. Als Emilys Blick zum Wald hinüberwanderte, sah sie, dass sich an einem der Bäume am Rand ein weiteres Herz befand.

D S + L C.

Sie legte die Gartenschere vor der Laube ab und ging hinüber. Der Frosch folgte ihr ein paar Meter und verharrte dann. Tiefer im Wald entdeckte sie ein weiteres Herz. Und noch eines. Eine Spur, die sie lockte. An jedem dritten oder vierten Baum befand sich ein Herz mit Initialen. Manche waren ziemlich versteckt, weswegen sie gute fünfzehn Minuten brauchte, um der Spur durch den Wald zu einer Lichtung zu folgen.

Dies war der Ort, zu dem das Licht sie in der Nacht geführt hatte.

Der Park an der Main Street.

Sie blickte zum Musikpavillon hinüber, an dem am unteren Teil, neben den Stufen an der Seite, ebenfalls ein Herz mit Initialen prangte.

Emily trat an den Pavillon, kniete nieder und berührte die eingeritzten Buchstaben.

Warum führten die Herzen hierher? Weil ihre Mutter Logan Coffey in jener Nacht zum Pavillon gelockt hatte?

Emily richtete sich auf. Der Park war voller Leute, die ihre Mittagspause dort verbrachten, die Sonne genossen oder mit ihren Hunden Frisbee spielten.

Da entdeckte sie Win Coffey.

Er stand mit einigen Erwachsenen in der Mitte des Parks, einer von ihnen war der kräftige Mann von dem Fest am See. Erst jetzt fiel ihr die Ähnlichkeit zwischen den beiden auf – die dunklen Haare, der Leinenanzug und die Fliege. Die Erwachsenen deuteten in Richtung Straße, wo das große Festplakat aufgestellt wurde, doch Win wandte sich Emily zu.

Sie duckte sich instinktiv hinter den Pavillon. Und bereute es sofort. Was war nur mit ihr los? In einem kleinen Ort wie diesem ließ es sich nicht vermeiden, dass man sich begegnete. Aber sie wollte nicht, dass er glaubte, sie laufe ihm nach.

Emily wartete einige Minuten, bevor sie die Schultern straffte und sich anschickte, hinter dem Pavillon hervorzukommen. Es war eine öffentliche Grünanlage. Sie besaß das gleiche Recht, sich hier aufzuhalten, wie er.

Als sie vor den Musikpavillon trat, erwartete Win sie bereits, an einen Pfosten gelehnt, die Hände in den Hosentaschen.

»Versteckst du dich vor mir?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie hastig. »Ich wusste nicht, dass du da bist, und bin zufällig hier gelandet, weil ich dieser Spur vom Haus meines Großvaters gefolgt bin.« Sie deutete auf das Herz mit den Initialen.

Er warf einen Blick darauf. »Die sind überall in der Stadt. Nach dem Tod meines Onkels hat mein Großvater versucht, sie zu beseitigen, bis ihm klar wurde, dass es zu viele sind.«

»Dulcie Shelby und Logan Coffey. Stehen die Initialen dafür?«

Er nickte.

»Auch wenn alle anderer Meinung sind: Sie war nicht so. Jedenfalls nicht, nachdem sie Mullaby verlassen hatte.«

»Ich weiß«, sagte er. Als sie fragend die Augenbrauen hob, zuckte er mit den Achseln. »Nach unserer ersten Begegnung habe ich sie gegoogelt, von der Schule gelesen, die sie in Boston mitbegründet hat, und dein Foto auf der Website der Schule entdeckt.«

Sie verzog den Mund, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen. Hoffentlich, dachte sie, war das nicht das scheußliche Foto von der Weihnachtsspendenaktion, das leider in sämtlichen Schulpublikationen auftauchte. Als Emily sich dagegen wehren wollte, hatte ihre Mutter gesagt: Sei nicht so eitel. Das Aussehen ist unwichtig. Am Ende zählt nur, was man zustande bringt. Emily hatte immer gedacht, ihre Mutter habe keine Ahnung vom Teenagerleben. »Du weißt viel mehr über mich als ich über dich«, beklagte sich Emily. »Das ist unfair.«

Als Wins Blick zu ihren Lippen wanderte, bekam sie Schmetterlinge im Bauch. Wollte er sie küssen? Ein Teil von ihr wünschte sich genau das. »Heißt das, dass du mehr wissen möchtest?«, fragte er.

»Ja«, antwortete sie ehrlich und schluckte. »Besonders, warum dein Onkel Selbstmord begangen hat, nachdem er in der Nacht das Haus verlassen hatte. Vielleicht war meine Mutter nicht sonderlich nett, aber das ist doch kein Grund, sich umzubringen, oder?«

Er zog sie beiseite und musterte sie von oben bis unten. »Seit unserem letzten Gespräch scheinst du einiges erfahren zu haben.«

»Mein Großvater sagt, er hätte mir nicht alles erzählt, weil er es für besser hielt, wenn ich nicht Bescheid wüsste. Er ist nicht gerade begeistert darüber, dass du es dir in den Kopf gesetzt hast, mich über die Vergangenheit meiner Mutter aufzuklären.«

»Und wie stehst du dazu?«

»Ich liebe meine Mom nach wie vor.«

»Das wollte ich dir auch nicht ausreden. Ich habe nur versucht, dir zu helfen.«

Hatte er sich nicht eher selbst helfen wollen? »Warum war es so ungewöhnlich, sich nachts auf die Straße zu wagen?«, fragte sie. »Du gehst doch auch in der Nacht raus, oder?«

»Nein.«

»Nein?«, wiederholte sie erstaunt. »Warum nicht?«

»Du würdest mir meine Erklärung nicht glauben.«

»Das hast du schon mal gesagt. Woher willst du das wissen?«

Er bedachte sie mit einem Blick, der ihre Nerven vibrieren ließ. Es war, als würde jemand sie von hinten erschrecken: ein kurzes Zucken, ein schnelles Schnappen nach Luft. »Sei vorsichtig, was du dir wünschst«, riet er ihr.

»Win, was tust du dahinten?«, fragte der wie Win gekleidete Mann von der Vorderseite des Pavillons. Er war kräftig, aber nicht dick, als würde sein Ego viel Platz brauchen. Der Mann, der nach Zigarren und Wäschestärke roch, sah Win an, dessen Muskeln sich verkrampften. Da bemerkte der Mann Emily. »Ah«, sagte er, als ergäbe plötzlich alles einen Sinn. »Du musst Emily Benedict sein.«

»Ja.«

Er bedachte sie mit einem breiten Politikerlächeln, bei dem ziemlich viele Zähne zum Vorschein kamen, ohne dass es seine Augen erreichte. »Ich bin Morgan Coffey, der Bürgermeister von Mullaby und Wins Vater. Kann es sein, dass ich dich letzten Samstag bei dem Fest meiner Tochter gesehen habe? Soweit ich weiß, warst du nicht eingeladen.«

»Mir war nicht klar, dass ich eine Einladung gebraucht hätte. Tut mir leid.«

»Tja dann.« Als er ihr die Hand gab, zerquetschte er sie fast. »Willkommen in Mullaby.«

»Danke.« Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen.

Doch er hielt sie fest und hob ihren Arm leicht an, um einen Blick auf das silberne Glücksarmband daran zu werfen. »Wo hast du das her?«, erkundigte er sich.

Endlich gelang es ihr, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie legte die Hand auf das Armband. »Es hat meiner Mutter gehört.«

»Das hat mein Vater meiner Mutter zur Hochzeit geschenkt«, bemerkte Morgan Coffey.

Emily schüttelte den Kopf. Bestimmt täuschte er sich. »Vielleicht sehen sie sich nur ähnlich.«

»Auf dem Mondanhänger befindet sich eine Inschrift: Dein von der Dunkelheit bis ins Licht.«

Emily kannte die Worte, obwohl sie fast nicht mehr zu entziffern waren. Tränen traten ihr in die Augen. »Tut mir leid«, sagte sie, nahm das Armband mit zitternden Fingern ab und hielt es ihm hin. »Sie muss es gestohlen haben.« Inzwischen traute sie ihrer Mutter das zu.

Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. »Sie hat es nicht gestohlen. Win, lass uns gehen.« Morgan Coffey entfernte sich ohne ein weiteres Wort.

Und ohne das Armband zu nehmen.

Win sah ihm kurz nach, bevor er zu Emily sagte: »Das ist besser gelaufen als befürchtet.«

Sie blinzelte die Tränen weg. »Dann frag ich mal lieber nicht, wie du es dir vorgestellt hast.«

Er trat lächelnd zu ihr, nahm ihr das Armband aus der Hand und legte es ihr wieder an.

Emily meinte, seine warme Berührung am ganzen Körper zu spüren. Wieder empfand sie dieses tröstliche Gefühl. Sie holte tief Luft, und ihre Tränen versiegten. Wie stellte er es nur an, in ihr ein so großes Misstrauen und gleichzeitig eine solche Zuneigung zu wecken?

Ihre Blicke trafen sich. »Sehe ich dich beim großen Grillfest dieses Wochenende?«

Emily hatte Julia noch keine Antwort gegeben. Jetzt wusste sie, was sie ihr sagen würde. »Ja.«

»Wollen wir Freunde sein?«, fragte er, und das klang wie ein gefährlicher Vorschlag. Er gab ihr das Gefühl, mutig zu sein. Sie hatte sich noch nie zuvor mutig gefunden, noch nie den Eindruck gehabt, selbst eine Entscheidung treffen zu können.

Sie nickte. »Freunde.«

Als Sawyer den Wagen nach der Arbeit in seine Auffahrt lenkte, sah er Julia, eine weiße Kuchenschachtel auf dem Schoß, auf den Stufen seines Hauses sitzen. Das erklärte ihren schwarzen Pick-up, den er ein paar Straßen entfernt gesehen hatte. Warum hatte sie ihn so weit von seinem Haus weg geparkt? Wollte sie ihren Besuch bei ihm verheimlichen?

Sawyer schaltete den Motor aus und stieg mit seiner Aktentasche aus dem Lexus. Er war den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, Mietobjekte zu besichtigen, weil die Hausverwaltung seiner Familie in die Nachbarbezirke zu expandieren begann. Anfangs war sein Vater dagegen gewesen. Viele Jahre waren die Coffeys, denen die meisten Häuser in Mullaby gehörten, ihre einzigen Kunden gewesen. Sawyer hatte seinen Vater lange beknien müssen, bis sie zusätzlich Objekte zur Verwaltung übernahmen. Mittlerweile gingen die Geschäfte so gut, dass sie mit dem Gedanken spielten, eine Außenstelle einzurichten.

Als er sich Julia näherte, stand sie auf. Sie trug Jeans sowie eine dunkelblaue Bauernbluse mit offenem Kragen und war wunderschön mit ihren großen braunen Augen und den hellbraunen Haaren, die im Licht der Nachmittagssonne glänzten. Sawyer, der die pinkfarbene Strähne nicht sehen konnte, verspürte den unwiderstehlichen Drang, nach ihr zu suchen. Julia hatte ihn immer schon fasziniert, wie neugierige Menschen oft von Dingen angezogen werden, die sie nicht verstehen. Doch er hatte es sich ein für alle Mal mit ihr verdorben, schon mit sechzehn.

Bis zu jener Nacht auf dem Football-Feld hatte er sich nur Tagträumen von ihr hingegeben. Er war bei allen beliebt gewesen, sie die Punkerin der Schule. Weil er glaubte, keine Chance bei ihr zu haben, hatte er Distanz gehalten und sie aus der Ferne beobachtet. Jene Nacht war dann jedoch genau wie in seinen Träumen gewesen. Aber leider fehlt Teenagern der Weitblick. Als Julia am folgenden Tag ins Internat aufgebrochen war, hatte er es mit der Angst zu tun bekommen. Er und Holly hatten die Zustimmung seiner und ihrer Eltern und der gesamten Schule. Besonders nach der Geschichte mit Dulcie und Logan war ganz Mullaby gegen Julia gewesen und hatte ihre Freunde mit Argwohn betrachtet. Deswegen hatte er an dem festgehalten, was ihm sicher erschien. Und Julia war ihm nun mal nicht sicher erschienen. In ihrer merkwürdigen Unberechenbarkeit war sie so ganz anders gewesen als er. Anders als alles, was er kannte. Er hatte ziemlich übel auf ihre Mitteilung reagiert, dass sie schwanger sei. Die Erinnerung an dieses Gespräch lief in seinem Kopf ab wie ein Film. Dies war für ihn die einzige Methode, sich davon zu distanzieren. Das war nicht er gewesen, sondern sein Geist, ein schrecklicher Junge, der ein Mädchen zur Abtreibung gedrängt hatte, um nicht die Verantwortung übernehmen zu müssen.

Am Ende hatte das Schicksal sich doch gerächt. Er hatte geglaubt, sich weiterentwickelt zu haben, mit Holly und mit dem Familiengeschäft. Aber dann war Julia zurückgekehrt, und ihm war zum ersten Mal klar geworden, dass er sich keinen Schritt weiterbewegt hatte.

Er hatte einfach nur darauf gewartet, dass sie zurückkommen und ihm vergeben würde.

»Du weißt, wo ich wohne?«, begrüßte er sie, als er die Stufen zu ihr emporstieg.

»Jemand hat mir erzählt, dass dir das große Haus in der Gatliff Street gehört, und ich dachte zuerst, du wohnst dort. Aber von Stella weiß ich, dass du nach der Scheidung von Holly hierhergezogen bist.«

»Das Haus in der Gatliff Street gehört nach wie vor Holly und mir.« Er betrat die Veranda. »Als sie nach Raleigh gegangen ist, haben wir uns darauf geeinigt, es zu vermieten und uns die Mieteinnahmen zu teilen.«

»Warum bist du nicht einfach dringeblieben?«

»Es war zu groß. Meine Familie hat es uns zur Hochzeit geschenkt. Sechs Zimmer. Es war ein Wink mit dem Zaunpfahl: Sie wollten Enkel.«

»Ach«, sagte Julia verlegen.

»Muss dir nicht peinlich sein. Ist es mir auch nicht. Ich hab mich damit abgefunden.«

Ihr Blick verriet ihm, dass sie ihm das nicht abkaufte. Um das Thema zu wechseln, hielt sie ihm die Kuchenschachtel hin. »Ich hab dir heute Nacht einen Kolibrikuchen gebacken«, erklärte sie.

Er stellte verblüfft die Aktentasche ab und nahm die Schachtel. »Du hast einen Kuchen für mich gebacken?«

»Mach dir keine falschen Hoffnungen. Ich muss dir ein paar Sachen erklären. Später.«

Später. Merkwürdig. Und vielversprechend. Später bedeutete, dass es Zeit bis dahin gab. Zeit, die er mit ihr verbringen konnte. »Und mit dem Kuchen willst du mich auf deine Eröffnungen vorbereiten?«

»Den Kuchen habe ich dir gebacken, weil ich weiß, dass du ihn magst.«

Er deutete auf die Tür. »Komm mit rein«, lud er sie ein, erfreut, sie bei sich zu haben.

Doch sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Auf der Fahrt zu dir ist mir das Benzin ausgegangen.«

»Ach, deshalb steht dein Wagen so weit weg.«

Sie nickte. »Ich hab auf dich gewartet, damit ich dir den Kuchen geben kann. Jetzt muss ich zur Tankstelle.«

»Ich bring dich hin.«

»Ich komme schon zurecht.« Sie wollte nicht in seiner Schuld stehen. »Ich backe tatsächlich deinetwegen Kuchen. Jedenfalls war’s am Anfang so. Das wollte ich dir sagen.«

Ihr Geständnis überraschte ihn.

Sie schob die Hände in die Hosentaschen. »Weil du damals gesagt hast, du hättest immer gewusst, wann deine Mutter Kuchen gebacken hat. Das hat mir gefallen. Ich habe im Internat mit dem Backen begonnen. In einer schwierigen Zeit hast du mir etwas Schönes gegeben. Etwas, woran ich mich festhalten konnte. Sobald ich wieder in Baltimore bin, möchte ich eine eigene Bäckerei aufmachen. Dieses Ziel habe ich dir zu verdanken.«

Ihre Großzügigkeit gab ihm das Gefühl, sehr klein zu sein. »Ich hab dir nur Kummer gemacht. Wie kannst du dich bei mir bedanken?«

»Ich habe gelernt, mich an den guten Seiten des Lebens zu orientieren.«

Es dauerte eine Weile, bis er sagte: »Das ist aber nicht das, was du mir erklären wolltest?«

»Nein.«

Sawyer klappte die Kuchenschachtel auf. Er liebte Kolibrikuchen. Am liebsten hätte er mit bloßen Händen hineingegriffen. Als er klein war, hatte seine Mutter versucht, ihre Kuchen vor ihm zu verstecken, doch er hatte sie stets gefunden. Damals hatte er noch nicht die Kraft besessen, der Verlockung zu widerstehen. Den sechsten Sinn für Süßes hatte er von seinem Großvater geerbt. Deswegen fühlte er sich ihm näher als irgendjemandem sonst in seiner Familie. Sein Großvater war es auch gewesen, der ihm beigebracht hatte, dieses Verlangen zu zügeln, nachdem er sich wieder einmal den Magen verdorben hatte. Und er hatte Sawyer begreiflich gemacht, dass nicht alle seinen Instinkt besaßen und er nicht jedem davon erzählen konnte. Inzwischen ignorierte Sawyer für gewöhnlich sein Gespür für Süßes, es sei denn, er war abgelenkt oder müde; denn dann sah er unwillkürlich das silberne Glitzern, das sich aus Fenstern herauskräuselte, oder das Funkeln aus der Lunchbox eines Kindes. Nur an Donnerstagabenden, wenn Julia buk, schaltete er seinen sechsten Sinn bewusst ein. Auch wenn sie sich nicht in seiner Nähe befand, sah er sie backen. Sie besaß eine Gabe. Und er hatte sie darauf gebracht. Was für eine Freude!

»Du bist der einzige Mensch, dem ich je von meinem Gespür für Süßes erzählt habe«, gestand er ihr. Nicht einmal seine Exfrau wusste Bescheid.

»Tja, jetzt ist es kein Geheimnis mehr.«

Er schloss die Schachtel, bevor die Versuchung zu groß wurde, und schüttelte den Kopf. »Gib dir keine Mühe, mich zu verunsichern. Du kannst so hart und sarkastisch sein, wie du willst, aber wir wissen beide, dass du eine Schwäche für mich hast. Das hast du gerade selber zugegeben.«

»Wenn du das irgendjemandem verrätst, streite ich es ab.«

»Komm«, sagte er. »Ich begleite dich zu deinem Truck. Kann sein, dass ich sogar noch einen vollen Ersatzkanister Benzin in der Garage habe.«

»Nein, ich …«

Doch er ging bereits die Stufen hinunter, legte Kuchen und Aktentasche auf den Rücksitz seines Wagens und stellte den Benzinkanister in den Kofferraum. Als er ihr die Tür auf der Beifahrerseite aufhielt, stieg sie seufzend ein.

Sawyer beobachtete schmunzelnd, wie sie an seinem Navigationssystem herumspielte und es versehentlich auf Frank’s Toilet World am Highway programmierte.

Wenige Minuten später erreichten sie ihren Truck, wo sie ausstiegen und er das Benzin aus dem Kanister in ihren Tank füllte. Sie bedankte sich bei ihm. Bevor sie einsteigen konnte, fragte er, einem plötzlichen Impuls folgend: »Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee.«

»Komm schon. Du hast noch sechs Monate hier. Gönn dir ein bisschen Spaß.«

Sie schnaubte verächtlich. »Möchtest du ernsthaft was mit mir anfangen?«

»Aber nein«, antwortete er, gespielt schockiert. »Ich habe nur was von Abendessen gesagt. Deine Fantasie geht mit dir durch.«

Sie lächelte, und das machte ihn glücklich. Ohne nachzudenken, strich er ihr die Haare zurück, so dass er die pinkfarbene Strähne sehen konnte. Er hatte sich oft gefragt, warum sie die nach wie vor trug. Bestimmt hatte es mit ihren pink gefärbten Haaren in der Teenagerzeit zu tun. War das ihre Art, sich zu erinnern? Oder die Ermahnung, nie mehr in diese Zeit zurückzuverfallen?

Ihr Blick wanderte zu seinen Lippen.

Sie meinte, er wolle sie küssen.

Und sie floh nicht.

Das Blut pochte in seinen Ohren. Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund.

Die Berührung und der Kuss waren genau wie damals. Die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach. Sie hatte ihn tatsächlich an sich herangelassen. Ganz ohne Gegenwehr. Auf dem Football-Feld hatte sie sich ihm genauso bereitwillig hingegeben wie jetzt. Er erinnerte sich, dass er damals gedacht hatte: Sie liebt mich.

Er löste seine Lippen verblüfft von den ihren.

»Ich muss los«, sagte sie hastig, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Danke fürs Benzin.« Sie öffnete die Tür zu ihrem Truck und sprang hinein.

Er blieb noch lange, nachdem sie weg war, am Gehsteigrand stehen.

Was war das?, fragte er sich.

Was, zum Teufel, ist da gerade passiert?