ELF

Früher war die Gegend um Mullaby Farmland gewesen. Da die Aufzucht von Rindern in jenen harten Zeiten in North Carolina nichts brachte, verlegte man sich auf die von Schweinen. Wie die Bauern vieler kleiner Orte in der Region waren auch die von Mullaby stolz auf ihre Spezialität des langsamen, gründlichen Garens von Schweinefleisch in einer Grube, die schon bald zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Identität wurde. Anfangs war es noch ein sonntäglicher Brauch, dann entwickelte sich daraus ein Symbol der Gemeinschaft und schließlich eine für das alte North Carolina typische Kunstform, die aus harter Arbeit entstanden war.

Doch im Lauf der Jahre verschwanden die kleinen Farmen und der vormals profitable Schweinehandel auf Routen, die sich bis nach Tennessee erstreckten. Plötzlich schossen Wohnviertel und Einkaufszentren aus dem Boden, und die neu angelegte Interstate führte Menschen fort, die sich noch erinnerten, und lockte Leute an, die nichts mehr von der Vergangenheit wussten. Am Ende waren die Ursprünge und die Gründe vergessen. Übrig war nur noch ein kollektives Unbewusstes, eine Tradition ohne Erinnerung, ein Traum, den in Mullaby alle jedes Jahr am selben Tag träumten.

In den frühen Morgenstunden des Tages, an dem das Mullaby Barbecue Festival stattfand, senkte sich Dunst über den Ort, drang durch die Fenster und in die Träume der Menschen. Beim Aufwachen wirst du dich an nichts mehr erinnern, flüsterte er, aber wisse es jetzt und sei stolz.

Dies ist deine Geschichte.

Stella war schon Stunden weg, als Julia endlich das Haus verließ. Stella nutzte das Fest als ihre Chance zur Ausschweifung. Sie fing früh an und kam erst am nächsten Tag zurück. Fast machte Julia sich ihretwegen Sorgen, denn sie kannte niemanden sonst, der sich so sehr bemühte, mit dem glücklich zu sein, was er hatte.

Die Stella von heute unterschied sich deutlich von der aus der Highschool-Zeit. Damals war Stella ähnlich wie Dulcie Shelby auf Äußerlichkeiten bedacht und eng mit dieser befreundet gewesen. Stella hatte einen glänzenden schwarzen BMW gefahren, der gut zu ihren glänzenden schwarzen Haaren passte. Außerdem hatte Stellas Mutter, eine Innenarchitektin, die in Raleigh lebte, während Stella bei ihrem Vater in Mullaby wohnte, Stellas Zimmer so gestaltet, dass es aussah wie ein Kino, inklusive Kinoleinwand und Popcorn-Maschine. Es war sogar in einem Designmagazin abgebildet gewesen. Bei ihrer Rückkehr hatte Julia überrascht festgestellt, dass Stella nach wie vor in Mullaby lebte. Julia hatte erwartet, dass die reichen Mädchen aus der Schule später ein außergewöhnliches Leben führen würden, denn die Welt stand ihnen offen. Wie konnte man sich da mit weniger zufriedengeben?

Wie sich herausstellte, hatte Stella sich in den falschen Mann verliebt. Eine uralte Geschichte. Ihr Exmann hatte sie betrogen und das Geld aus ihrem Treuhandvermögen durchgebracht. Diese Erfahrung hatte Stella in eine eigenwillige, selbstkritische Frau verwandelt, die in einem Blumengeschäft arbeitete, in einem Haus wohnte, das sie sich eigentlich nicht leisten konnte, und Wein aus dem Tetrapak trank. Manchmal fragte Julia sich, ob Stella sich nach der Vergangenheit sehnte, ob sie alle ihre Erfahrungen geopfert hätte, um wieder das beneidete Mädchen von damals zu sein.

Julia hatte sie das nie gefragt. Ihre Vergangenheit war ein heikles Thema, weswegen Julia Stella nichts von Sawyer und dem Kuss erzählte. Vermutlich bedeutete das, dass sie einander nicht so nahestanden, wie Stella glaubte. Obwohl Julia das bedauerte, wollte sie in Mullaby keine zu engen Beziehungen aufbauen. Ihr richtiges Leben spielte sich in Baltimore ab.

Es war Mittag, als Julia an Vance’ Tür klopfte, um Emily zum Mullaby Barbecue Festival abzuholen, und hörte, wie Emily die Treppe herunterkam.

Vance folgte ihr auf dem Fuß.

»Willst du uns wirklich nicht begleiten?«, fragte Emily ihren Großvater.

»Nein«, antwortete Vance. »Viel Spaß euch beiden.«

Julia und Vance sahen Emily nach, wie sie voller Vorfreude die Stufen der Veranda hinuntersprang. »Ich bringe sie vor Einbruch der Dunkelheit zurück«, versprach Julia Vance. »Und für dich besorgen wir ein paar Leckereien vom Fest.«

»Danke, Julia. Sie scheint ganz aufgeregt zu sein«, stellte Vance fest, als Emily zwischen den Bäumen verschwand.

»Ja«, pflichtete Julia ihm nachdenklich bei.

»Wegen dem Grillfest. In dieser Hinsicht kommt sie nach mir.« Er zögerte. »Allzu viel gibt’s bei mir ja nicht, was nachahmenswert wäre …«

Julia legte die Hand auf seinen Arm. »Sie ist dir tatsächlich ähnlich, Vance. Und das ist gut.«

Als Julia Emily auf dem Gehsteig einholte, fragte diese: »Warum kommt er nicht mit? Er liebt Grillfeste.«

»Vance versucht, sich von Menschenansammlungen fernzuhalten«, erklärte Julia.

»Wahrscheinlich habe ich mich inzwischen so an ihn gewöhnt, dass ich das manchmal vergesse.«

»Dann hast du dich schon ziemlich gut hier eingelebt. Wie kommt ihr zwei miteinander aus?«

Emily zuckte mit den Achseln. »Ganz okay, glaube ich. Es wird von Tag zu Tag besser.«

»Prima.«

Als sie die Main Street erreichten, bemerkte Julia Emilys erstaunten Blick. Weil Mullaby ein so kleiner Ort war, erwartete man, dass auch das Fest bescheiden sein würde. Doch das Mullaby Barbecue Festival war das größte Grillfest im Südosten der Staaten und zog Menschen aus dem ganzen Land an. Die Straßen waren für Autos gesperrt, und weiße Zelte erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Am anderen Ende erkannte man den oberen Teil eines Riesenrads, und in der Luft lag der Geruch von Grillfleisch.

Auf der von Menschen wimmelnden Straße passierten sie zahlreiche Grillzelte, die das Zentrum des Fests bildeten. Darin wurden Sandwiches wie am Fließband gefertigt. Mit oder ohne Sauce? Krautsalat? Maisküchlein? Praktisch jeder Zweite hielt ein halb in Folie eingewickeltes Sandwich in der Hand. In manchen Zelten wurden Schweineschwarte und Maiskolben, Hühnchenteile, eingelegtes Gemüse, Funnel Cakes und Süßigkeiten verkauft. In anderen gab es Kunsthandwerk.

»Das Fest ist ganz schön groß«, staunte Emily, die gar nicht mehr fertig wurde mit dem Schauen. »Wie findet man sich in dem Chaos?«

»Suchst du denn jemanden?«, fragte Julia.

»Nein, nicht wirklich.«

Julia führte sie zur Hauptbühne. Auf dem Veranstaltungsareal standen mehrere Bühnen, auf denen Bands hauptsächlich Folkmusik und Bluegrass spielten; die Hauptbühne befand sich in der Mitte der Main Street, so dass alle an ihr vorbeigehen mussten.

Davor hatte sich eine Gruppe von Leuten, die meisten davon Coffeys, versammelt, die Männer mit Hüten und die Frauen in frisch gestärkten Kleidern mit Gürtel. Win trug eine Kreissäge, die bei jedem anderen seines Alters lächerlich gewirkt hätte. Emilys Blick wanderte sofort zu ihm. Und auch er bemerkte sie auf der Stelle.

»Warum zieht Win … warum ziehen die Coffeys sich so an?«, fragte Emily. »Ich meine, so festlich.«

»Weil es ihr Fest ist. Ihre Familie hat es vor sechzig Jahren ins Leben gerufen. Es war ihre Idee. Bald werden sie auf dieser Bühne Grillgerichte und Pasteten beurteilen.«

Wins Vater folgte dem Blick seines Sohns und rief ihn in dem Moment zu sich, als Julia Emily wegschob.

In den folgenden Stunden amüsierten Julia und Emily sich prächtig. Sie aßen viel zu viel und kauften sich T-Shirts mit dem Aufdruck SCHWEINEWILD BEIM MULLABY BARBECUE FESTIVAL. Für Julia war das ein Luxus, denn sie gestand sich wegen des Darlehens für das Lokal sehr wenig Taschengeld zu, aber der Spaß war es ihr wert.

Julia war Jahre nicht mehr auf dem Fest gewesen. Ihr Lokal hatte hier irgendwo ein Zelt, doch darum kümmerten sich ihre Geschäftsführer. Ihr Vater hatte das Grillfest geliebt. Und einige Jahre war Julia seine begeisterte Begleiterin gewesen. Für sie allein schien es seinen Reiz verloren zu haben, aber sie betrachtete es gern mit Emilys Augen. Zum ersten Mal seit Langem wurde ihr bewusst, dass ihr tatsächlich etwas an Mullaby lag.

Sie erreichten die Fahrgeschäfte am anderen Ende der Straße müde, verschwitzt und glücklich und wollten nur noch ein paar Runden fahren, Snow Cones für sich selbst und ein paar Leckereien für Vance besorgen, bevor sie nach Hause gingen.

Da bahnte sich Sawyer in Khakihose und Polohemd einen Weg zu ihnen. Julia hätte Emily schnell weggeschoben, wenn diese ihn nicht schon gesehen und begeistert ausgerufen hätte: »Da ist Sawyer!«

Julia war ihm seit dem vergangenen Dienstag aus dem Weg gegangen, denn ohne die Feindseligkeit, die sie ihm gegenüber jahrelang an den Tag gelegt hatte, wusste sie nicht mehr, wie sie ihm begegnen sollte.

Er bedachte Julia mit einem so anzüglichen Blick, dass es ihr fast peinlich war. Was er sagte, klang jedoch harmlos: »Ich hoffe, dir geht’s gut. Mein Navi will mich schon die ganze Woche zu Frank’s Toilet World am Highway leiten.«

Emily musste lachen, und Julia entschuldigte sich: »Tut mir leid.«

»Ich hab das Gefühl, dass du mich gern in die falsche Richtung schickst.« Bevor sie etwas erwidern konnte, wandte er sich Emily zu. »Na, gefällt dir das Fest?«

»Es war ein toller Tag«, antwortete Emily.

»Wir werden nicht mehr lange bleiben«, teilte Julia ihm mit. »Nur noch ein paar Runden fahren, dann geht’s nach Hause.«

Er fasste das als Einladung auf. Sawyer tat sich schwer mit Zurückweisung, weil sie ihm so selten widerfuhr. »Gut, ich komme mit.«

»Wir wollen dich nicht aufhalten«, entgegnete Julia. »Du bist sicher in Begleitung.«

»Nein, ich bin allein. Vorher hab ich mich mit Stella getroffen, aber dann ist mir ihre Gefolgschaft zu groß geworden. Stella ist wie ein Magnet.«

Das brachte Emily wieder zum Lachen, doch Julia fragte neugieriger, als ihr lieb war: »Du wolltest dich nicht von Stella anziehen lassen?«

»Ich bin abgelenkt worden«, erklärte er und schaute sie vielsagend an.

Emily räusperte sich. »Ihr zwei wollt sicher was zusammen unternehmen. Und ich würde gern eine Weile allein rumschlendern.«

Julia löste den Blick von Sawyer. »Ich halte das für keine gute Idee, Em«, entgegnete sie und legte ihr doch tatsächlich eine Hand auf die Schulter, um sie zurückzuhalten.

»Warum nicht?«, fragte Emily.

»Ja, Julia«, pflichtete Sawyer ihr bei, »warum nicht?«

»Weil ich deinem Großvater versprochen habe, auf dich aufzupassen.«

»Ich komm schon zurecht.«

»Aber …«

»Julia«, sagte Emily mit Nachdruck, »ich bin siebzehn, keine vier.«

Julia war klar, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte. »Wir treffen uns in einer Stunde am Musikpavillon.«

Emily verabschiedete sich mit einem Wangenkuss von Julia. Eine unerwartete Geste, wie von einer Tochter. »Danke.«

»In einer Stunde«, rief Julia ihr nach, als sie sie in der Menge verschwinden sah, und wandte sich wieder Sawyer zu, der fragend die Augenbrauen hob.

»Sie sucht schon die ganze Zeit nach einer Ausrede, von mir wegzukommen. Win Coffey lässt sie nicht aus den Augen. Und sie beobachtet ihn auch.«

»Es musste ja so kommen«, bemerkte Sawyer. »Das ist der Reiz des Verbotenen.«

»Ich will nicht, dass ihr jemand wehtut. Sie hat schon genug durchgemacht.«

»Du magst sie, was? Noch ist nichts passiert. Win ist ein guter Junge. Wenn er sie wirklich verletzen sollte, kriegt er’s mit mir zu tun. Aber lass uns jetzt lieber über letzten Dienstag reden«, sagte er und trat näher zu ihr.

»Ich habe eine bessere Idee. Gehen wir ins Spiegelkabinett.«

»Das hältst du für eine bessere Idee?«, fragte er erstaunt.

»Alle lieben das Spiegelkabinett.« Das klang sogar in ihren Ohren lächerlich. Aber über den vergangenen Dienstag konnte sie noch nicht sprechen. Zuerst musste sie ihm die Sache mit ihrer Tochter erklären. Und das würde alles ändern.

Sawyer besorgte die Tickets. Beim Eintreten brachte der gewölbte Boden sie aus dem Gleichgewicht, und sie stolperte rückwärts in seine Arme. Er zog sie durch den Eingangsbereich ins eigentliche Spiegelkabinett, wo sie allein waren.

Julia tastete sich vorwärts. Wo befand sich der tatsächliche Weg, und was war nur eine Spiegelung? Welche war die echte Julia? Plötzlich verschwand Sawyer.

»Wo bist du?«, rief sie.

»Ich weiß es nicht so genau«, rief er zurück.

Sie versuchte, dem Klang seiner Stimme zu folgen, stieß gegen einen Spiegel und ging um diesen herum zu dem Flur, den er ihrer Ansicht nach gewählt hatte. Bei dem stroboskopischen Licht kam sie sich vor wie bekifft in einer Eishöhle, und die hektische Musik klang wie das Pochen eines Herzens.

»Soll ich mich für den Kuss entschuldigen?«, fragte Sawyer, auf den sie einen kurzen Blick erhaschte, bevor er wieder verschwand. »Das könnte ich schon machen, doch ich würde es nicht ernst meinen. Mir tut vieles leid, aber das nicht.«

Da! Da war er wieder! »Bleib stehen«, bettelte sie. »Ich will gar nicht, dass du dich entschuldigst. Es ist nur … Ich werde bald von hier weggehen. Davon lasse ich mich nicht abbringen. Wenn dich das nicht stört …«

Aus dem Nebenraum drang Gelächter. »Was dann?«, fragte Sawyer. »Darf ich dich dann wieder küssen?«

»So war’s nicht gemeint. Du weißt so vieles nicht.« Als sie sich in einer Sackgasse wiederfand, die aussah wie die Spiegel in der Umkleidekabine eines Kaufhauses, wich sie zurück.

»Allmählich beginne ich zu begreifen«, bemerkte Sawyer. »Ich hab dich draufgebracht, stimmt’s? ›Gönn dir ein bisschen Spaß. Du hast ja nur noch sechs Monate hier.‹ Oder hattest du das von Anfang an vor? Zu warten bis zum Schluss und dann der große Spaß?«

Julia blieb stehen. Wie hatte er sie so missverstehen können? Sie wollte doch gerade etwas ins Lot bringen. »Glaubst du, dass ich dazu fähig wäre?«

»Du warst immerhin fähig, achtzehn Jahre lang wegzubleiben, ohne einen Blick zurück. Bedauerst du das überhaupt?« Seine Stimme entfernte sich.

Sie machte, wild entschlossen, ihn zu finden, einen Schritt vorwärts. »Nicht ich habe nicht zurückgeblickt. Und woher willst du überhaupt wissen, dass ich es nicht getan habe? Hast du mich gesehen? Nein. Du hast keine Ahnung, Sawyer Alexander, also lass das Thema lieber.«

»Stimmt. Du hast deine Sorgen nie mit mir geteilt. Und jetzt erklärst du mir, dass du sie nur vorübergehend mit mir teilen möchtest. Du kannst mich bloß an dich heranlassen, wenn klar ist, dass du mich zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder verlässt. Keine feste Bindung. Keine Auseinandersetzung mit unserer komplizierten Vergangenheit.«

»Wo bist du?«, rief sie frustriert.

»Ich sag dir jetzt mal was: Auf ein Vorübergehend lasse ich mich nicht ein. Du bist noch nicht mal annähernd dort, wo ich dich haben will.«

»Und wo wäre das?«

»Bleib in Mullaby, Julia, und find’s raus.« Sie hörte das Knarren einer Tür, dann, wie sie sich schloss.

»Sawyer? Sawyer!« Sie brauchte ein paar Minuten, um den Weg nach draußen zu finden, wo ihr der Geruch von Zuckerwatte in die Nase stieg. Von Sawyer keine Spur.

Sie hatte versucht, ihm zu sagen, dass es angesichts der Dinge, die sie ihm gestehen musste, keine gute Idee war, eine dauerhafte Beziehung einzugehen. Denn vielleicht würde er sie nach ihrem Geständnis hassen. Sie hatte nicht gemeint, dass sie nur eine kurze Affäre mit ihm wolle. Doch genau das schien er zu glauben, und offenbar hatte er vor, den Spieß umzudrehen. Wozu? Nur um seinen Kopf durchzusetzen? Eine zeitlich begrenzte Affäre hätte für ihn doch eigentlich genau das Richtige sein müssen. Stattdessen erklärte er, dass sie ihn nur nach seinen Regeln haben konnte. Und die sahen vor, dass sie in Mullaby blieb.

Glaubte er ernsthaft, dass es klappen würde, wenn er die Zügel in die Hand nahm?

Sie hatte schon einmal an eine Zukunft mit ihm geglaubt, und wie das ausgegangen war, wusste sie.

Julia ging wutschnaubend in Richtung Musikpavillon. Gut. Die Feindseligkeit war wieder da. Sie schuldete ihm nichts. Jetzt konnte sie sich leichten Herzens verabschieden. Es gab nichts mehr zu sagen.

O Gott. Wenn sie es nur so gemeint hätte!

Wenn er sie nur nicht geküsst hätte!

Wenn er es ihr nur nicht gesagt hätte …!

Julia war kaum aus dem Bereich mit den Fahrgeschäften heraus, als sie jemanden rufen hörte: »Julia! Juuuuuuuuulia!«

Beverly kam mit klackenden High Heels auf sie zu. Ihr Mann Bud Dale, der sie begleitete, sah mit all ihren Tüten aus wie ein Packesel.

»Beverly«, begrüßte Julia sie und wandte sich dann Bud zu. »Lange nicht gesehen, Bud. Wie geht’s?«

»Sehr gut, Julia. Danke der Nachfrage.« Julia stutzte. So hätte ihr Vater das auch gesagt. Beverly hatte Julias Vater verlassen und einen Mann geheiratet, der ihm sehr ähnlich war.

»Ich hab eine Überraschung für dich«, teilte Beverly Julia mit.

»Was?«

»Ich hab’s nicht dabei«, antwortete sie, was Julia angesichts der zahlreichen Einkaufstüten, die Bud für sie herumschleppte, kaum glauben konnte. »Aber ich schau morgen Mittag bei dir vorbei, ja? Ich bin schon ganz aufgeregt.«

»Kein Problem. Bis dann.«

»Warum bist du mir gegenüber so abweisend, Julia?«, fragte Beverly und stemmte die Hände in die Hüften. »Warum wirkst du immer so unzufrieden? Das ist alles andere als attraktiv. Warum machst du dich nicht ein bisschen hübsch? Nimm die hässliche Strähne aus deinen Haaren, lächle die Männer an, zeig ein bisschen nackte Haut.« Beverly zog den tiefen V-Ausschnitt ihres T-Shirts noch weiter herunter. »Ich weiß, dass die Leute deine Narben nicht sehen sollen, aber wenn du erst mal mit ’nem Typen im Bett bist, sind ihm die egal. Wenn du weißt, was ich meine.«

»Danke für den Rat. Tschüs, Bud.«

»War schön, dich zu sehen, Julia«, verabschiedete er sich, als sie sich entfernte.

»Ich hab immer versucht, eine Mutter für sie zu sein«, hörte Julia Beverly sagen. »Ihr Ratschläge zu geben. Aber ich glaube, irgendwas stimmt nicht mit ihr, und das lässt sich nicht einrenken.«

Julia hatte Mühe, sich nicht umzudrehen und Beverly anzublaffen. Beverly war alles andere als eine Mutter für sie gewesen. Julia tröstete sich damit, dass sie Beverlys Lügen und Sawyer nicht mehr lange würde ertragen müssen.

Wen wunderte es, dass Julia angesichts solcher Menschen unglücklich war? In Baltimore würde es ihr wieder gut gehen. Obwohl sie sich nicht erinnern konnte, dort jemals besonders glücklich gewesen zu sein, wusste sie, dass die Eröffnung ihrer Bäckerei alles ändern würde.

Immerhin wäre sie dann nicht mehr in Mullaby.

Emily schlenderte zwischen dem heißen Dunst der Essensstände und der blechernen Musik der Kinderfahrgeschäfte herum und versuchte, nicht so auszusehen, als würde sie nach Win suchen.

Sie war ihm an jenem Tag schon mehrmals begegnet, immer nur kurz, weil Julia sie gleich wegzog oder sein Vater ihn ablenkte. Emily freute es, dass Sawyer aufgetaucht war, denn das hatte ihr eine Ausrede verschafft, sich allein auf den Weg zu machen. Leider wirkte Julia nicht sonderlich glücklich über das Alleinsein mit Sawyer.

Kaum fünf Minuten später, an dem Informationsstand, an dem Emily Win das letzte Mal gesehen hatte, spürte sie eine vertraute warme Hand auf ihrem Arm.

Sie drehte sich lächelnd um.

Win hatte Jackett und Fliege abgenommen und die Ärmel hochgekrempelt. Auch der Strohhut war verschwunden. Mit seinem weißen Button-down-Hemd, das sich bei jedem Windstoß ein wenig blähte, wirkte er ziemlich lässig, als er sie mit seinen grünen Augen musterte.

»Hallo.« Etwas Besseres fiel ihr in ihrer Nervosität nicht ein.

»Hallo«, sagte er seinerseits.

»Ist dir aufgefallen, dass sich alle bemühen, uns voneinander fernzuhalten? Wer hätte gedacht, dass es so schwierig sein würde, befreundet zu sein?«

»Mir war von Anfang an klar, wie schwer es für dich werden würde, in Mullaby Anschluss zu finden.«

»Was bedeutet, dass du den großen Tapferkeitsorden kriegst?«

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »So war’s nicht gemeint. Ich find’s schön, dass ich endlich ein bisschen Zeit mit dir verbringen kann.«

»Wenn ich mir nur einen Reim auf dich machen könnte, Win.«

Er verzog den Mund zu einem Lächeln. »Freut mich, das zu hören.«

»Soso. Glaubst du denn, dass alle außer mir dich durchschauen?«

Als er mit den Achseln zuckte, warf der Stoff seines Hemds an den Schultern leichte Falten. »Jedenfalls alle in Mullaby.«

»Himmel, ich komm mir doch sowieso schon komisch vor.«

»Siehst du, genau das meine ich. Du lebst in einem ziemlich merkwürdigen Ort, und trotzdem kommst du dir merkwürdig vor.«

Als sie sich durch die Menge schoben, berührten sich ihre Arme. Emily gefiel diese zufällige Berührung, weil sonst alles an Win so bedacht wirkte. »Jedenfalls freut’s mich, dass ich deine Welt ein bisschen durcheinanderbringe«, sagte sie, und er musste lachen.

Sie waren erst ein paar Minuten unterwegs, als er stehen blieb und auf eine kurze Schlange zuging. »Lass uns einsteigen«, schlug er vor.

»Warum gerade hier?«, fragte sie und folgte ihm. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich manchmal wie in einem Spiel, dessen Regeln sie nicht kannte.

»Weil wir da sind«, antwortete er. »Und mein Dad auch.«

Emily konnte Morgan Coffey nirgends entdecken. Win besorgte die Tickets, und sie setzten sich in eine Riesenradgondel, die ein Helfer mit einer Sicherheitsstange schloss.

Win legte den Arm auf die Rückenlehne ihres Sitzes und schaute zum Himmel empor, als das Riesenrad sich in Bewegung setzte. Emily hingegen blickte zu den kleiner werdenden Menschen hinunter. Unter ihnen entdeckte sie Wins Vater, der stocksteif dastand und sie mit zorniger Miene beobachtete.

»Er geht bald wieder«, beruhigte Win Emily, den Blick weiter auf den dämmrigen Himmel gerichtet. »Es wäre ihm nicht recht, wenn jemand merken würde, dass ihn unser Zusammensein stört.«

»Du und dein Dad, ihr versteht euch nicht, oder?«

»Wir sind uns in vielerlei Hinsicht ähnlich, aber wir können doch nicht miteinander. Er macht alles gern so wie seit ewigen Zeiten, ich nicht.«

Das Riesenrad kam zwei Gondeln vor dem höchsten Punkt zum Stehen. »Ich hab in der letzten Woche viel über dich nachgedacht«, gestand sie.

Er schmunzelte. »Tatsächlich?«

»Nicht so«, sagte sie lachend, hörte aber gleich wieder auf, als ihre Gondel im Wind zu schaukeln begann, und hielt sich an der Sicherheitsstange fest. Natürlich schien er so hoch oben keine Angst zu haben. »Eins beschäftigt mich.«

»Was?«

»Bist du am Ende ein Werwolf?«

»Wie bitte?«, fragte er.

Sie nahm die Hand von der Sicherheitsstange und lehnte sich zurück. »Mir fallen nur zwei Gründe ein, warum du in der Nacht nicht aus dem Haus gehst: Nachtblindheit oder Werwolf.«

»Und du tippst auf den Werwolf?«

»Die Chancen stehen fünfzig-fünfzig.«

Win schwieg eine Weile, bevor er erklärte: »Es handelt sich um eine Jahrhunderte zurückreichende Tradition.«

»Warum?«

»Gute Frage. Wahrscheinlich, weil das bei Traditionen immer so ist.«

»Gehört das zu den Themen, bei denen du anderer Meinung bist als dein Vater?«

Das Riesenrad setzte sich wieder in Bewegung. »Ja. Aber sich gegen diese Tradition aufzulehnen ist eine große Sache.« Er wandte sich zu ihr. »Das ist mit das Wichtigste, was du von mir erfahren wirst.«

»Und was sonst noch?«

»Merkwürdige und wunderbare Dinge«, antwortete er in dramatischem Tonfall, als zitierte er aus einem Buch.

»Warum machst du das?«

»Das habe ich dir schon gesagt: weil wir eine gemeinsame Vergangenheit haben.«

»Das stimmt so nicht«, korrigierte sie ihn. »Dein Onkel und meine Mutter hatten eine gemeinsame Geschichte.«

»Die Geschichte bewegt sich in einer Endlosschleife. Wir befinden uns genau an dem Punkt, an dem sie vor zwanzig Jahren standen. Was ihres war, gehört uns, und was uns gehört, wird ihres werden.«

»Du hast viel über dieses Thema nachgedacht.«

»Ja.«

Das Rad beschrieb noch eine Umdrehung, bevor es erneut stehen blieb, diesmal am höchsten Punkt. Ihr Sitz schwang gefährlich knarrend vor und zurück. Emily hielt sich wieder an der Sicherheitsstange fest.

»Du hast doch wohl keine Angst?«, fragte Win mit einem Augenzwinkern.

»Natürlich nicht. Du etwa?«

Er blickte zum Horizont. »Ich betrachte die Dinge gern aus dieser Perspektive. Unten weiß ich, wie alles ist. Ich erkenne gern das Potenzial dessen, was sich jenseits der Endlosschleife befindet, von der ich gerade gesprochen habe.«

Emily war ihm so nahe, dass sie ihn riechen konnte, einen Hauch Eau de Cologne, und sie sah die Schweißperlen, die sich in der Kuhle an seinem Hals bildeten. Sein Blick wanderte zu ihren Lippen. Plötzlich überkam sie Sehnsucht, ein ihr bislang unbekanntes Gefühl der Erwartung.

Doch der Moment verging, und er nahm den Arm von der Rückenlehne ihres Sitzes.

Nach einer weiteren Umdrehung blieb das Riesenrad stehen, und der Helfer löste die Sicherheitsstange. Sie stiegen schweigend aus.

»Tut mir leid, ich muss gehen«, teilte er ihr mit.

Sie hatte immer noch dieses merkwürdige Gefühl, irgendwie aufgedreht und prickelnd. »Okay.«

Doch er ging nicht. »Mein Dad wartet um die Ecke auf mich«, erklärte er. »Ich will dir eine Begegnung mit ihm ersparen.«

»Okay.«

Er rührte sich nach wie vor nicht von der Stelle. »Außerdem wird’s bald dunkel.«

»Und du willst dich in meiner Gegenwart nicht in einen Werwolf verwandeln«, sagte sie. »Verstehe.«

Er strich sich die von der feuchten Luft gekräuselten dunklen Haare zurück. »Nein, das glaube ich nicht.«

»Dann erklär’s mir. Erklär mir diese merkwürdigen und wunderbaren Dinge.«

Er schmunzelte. »Wird gemacht. Das nächste Mal.« Er wandte sich zum Gehen.

»Warte!«, rief sie ihm nach, und er blieb stehen. »Ich muss dich noch was fragen.«

»Was?«

Sie beschloss, offen zu sein. »Machst du mich verantwortlich für das, was meine Mutter getan hat?«

»Natürlich nicht.«

»Aber dein Vater tut es.«

Er zögerte. »Für ihn kann ich nicht sprechen.«

»Mein Großvater sagt, dass meine Mom wütend war, weil die Coffeys sie nicht in ihren Kreis ließen, und sie deshalb so reagiert hat.«

»So heißt es«, bestätigte er.

Als sie die Haare hinter die Ohren schob, folgte sein Blick ihrer Bewegung. »Du sollst nur wissen, dass ich nicht … sauer bin.«

»Wie bitte?«

»Weil deine Familie mich nicht mag. Ich kann verstehen, warum. Ich bin ihr deswegen nicht böse.«

»Ach, Emily«, stöhnte er.

»Was?«

»Du machst es mir sehr schwer.«

»Was? Das Gehen?«

»Das auch. Bis nächstes Mal?«

Emily nickte. Sie freute sich schon darauf. Was würde er tun und sagen? Sie war von ihm fasziniert, konnte sich nicht dagegen wehren. Emily wollte hierherpassen, und er gab ihr das Gefühl, dass sie das tat.

»Nächstes Mal«, wiederholte sie, als er sich entfernte.

Als Emily Julia wie besprochen am Musikpavillon traf, fiel ihr auf, dass ihrer beider Stimmung sich verändert hatte. Sie besorgten ein Grillsandwich und eingelegtes Gemüse für Opa Vance und machten sich ziemlich schweigsam auf den Heimweg.

Julia verabschiedete sich geistesabwesend vor Opa Vance’ Haus. Emily blickte ihr nach. Irgendetwas beschäftigte Julia, das war deutlich zu sehen.

Emily klopfte an die Wand neben der Falttür zu Opa Vance’ Zimmer. »Opa Vance, ich bin wieder da.«

Als er die Tür öffnete, erhaschte sie zum ersten Mal einen Blick in sein Zimmer, das früher offenbar einmal der Wohnraum gewesen war. Die Vorhänge waren zugezogen, um die Hitze draußen zu halten, und die Sonne, die durch den rostfarbenen Stoff drang, tauchte das Zimmer in gedämpftes Licht. Der Raum wirkte irgendwie stickig, doch tatsächlich stieg Emily die Ahnung eines blumigen Parfüms in die Nase, als hätte gerade eine Frau das Zimmer verlassen.

In den Regalen an der hinteren Wand befanden sich zahlreiche Fotos von immer derselben Frau, einer hübschen Frau mit blonden Haaren und dem Lächeln von Emilys Mutter. Das musste ihre Großmutter Lily sein. Wo, fragte Emily sich, waren die Bilder von ihrer Mutter? Besaß er überhaupt welche?

Sie hielt das in Folie gewickelte Sandwich hoch. »Ich hab dir was vom Grillfest mitgebracht.«

»Prima! Das esse ich in der Küche. Leistest du mir Gesellschaft?« Er ging ihr voran und zuerst in den Waschraum. Emily hörte, wie er die Trocknertür auf- und wieder zumachte. Dann kehrte er zu ihr zurück. »Und, wie hat dir unser kleines Grillfest gefallen?«

Emily schmunzelte. »›Klein‹ ist ja wohl eine Untertreibung.«

»Was habt ihr gemacht?« Er setzte sich in die Frühstücksnische und rieb sich die Knie, als schmerzten sie.

»Wir sind rumgelaufen und haben uns den Bauch vollgeschlagen. Sie hat mir ein T-Shirt gekauft.« Emily legte das Essen auf den Tisch, setzte sich ihm gegenüber und nahm das Shirt aus der kleinen Tüte.

»Ha! Das ist gut«, rief Vance begeistert aus, als er den Aufdruck auf dem Shirt las. »Hast du auch Leute in deinem Alter getroffen?«

Emily zögerte kurz, bevor sie antwortete: »Nur Win Coffey.«

»Na ja, es ist ihr Fest«, sagte er, während er das Essen auspackte und sich darüber hermachte. »Du musst andere junge Leute kennenlernen. Wenn ich mich richtig entsinne, hat mein Freund Lawrence Johnson einen Enkel. Er ist, glaube ich, an der Junior High.«

»Soll ich den babysitten?«, fragte Emily verwirrt.

»Du hast recht, der ist wahrscheinlich zu jung für dich. Wir haben Juli. Die Schule fängt erst nächsten Monat an; bis dahin wird dir sicher langweilig.« Er machte ein besorgtes Gesicht. »Merry will sich um deine Einschreibung hier kümmern. Soll ich mir die Schule trotzdem anschauen? Was meinst du?«

Emily war so auf Mullaby konzentriert gewesen, dass sie in letzter Zeit nicht oft an Merry, die Freundin ihrer Mutter, gedacht hatte. »Merry hat alles im Griff. Sie ist wie Mom sehr gründlich.« Emily betrachtete das T-Shirt auf ihrem Schoß. »Mom hat meine Schule mitgegründet. Wusstest du das?«

Er nickte. »Ja, von Merry. Deine Mutter hat ein bemerkenswertes Leben geführt. Merry hat mir auch von dir erzählt. Sie sagt, du hättest dich an vielen Aktivitäten der Schule beteiligt.«

Emily zuckte mit den Achseln. »Das wurde erwartet.«

»Bestimmt gibt es hier auch Dinge, für die du dich engagieren könntest. Und alles Mögliche, was sich am Abend unternehmen ließe.«

Ihr war klar, worauf er hinauswollte, denn er ging so subtil vor, wie ein Zwei-Meter-fünfzig-Mann es eben konnte. Sie sollte sich von Win fernhalten. Emily verstand, warum. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie durch ihren Aufenthalt in Mullaby etwas an der Situation ändern konnte. Wie ihre Mutter immer gesagt hatte: Warte nicht, dass die Welt sich ändert. In letzter Zeit hatte Emily oft über Hinweise nachgedacht, die ihre Mutter ihr im Lauf der Jahre bewusst oder unbewusst zu Mullaby gegeben haben mochte. Ihre spätere Persönlichkeit, das begann Emily allmählich zu begreifen, war ihre Buße gewesen. Sie hatte in jungen Jahren Menschen verletzt und dafür später anderen geholfen. Aber egal, wie viel Gutes sie getan hatte: Ihre Mutter war nie mit sich zufrieden gewesen.

Nach dem Essen stand Opa Vance auf, warf die Verpackung weg und ging noch einmal in die Waschküche, um in den Trockner zu schauen.

Emily musste wissen, warum er das tat. Als er zurückkam, schlüpfte sie aus der Frühstücksecke und fragte: »Wieso machst du das? Warum schaust du so oft in den Trockner?«

Er lachte. »Auf die Frage habe ich schon gewartet«, sagte er, nahm zwei grüne Flaschen 7UP aus dem Kühlschrank und reichte eine Emily. »Als Lily und ich geheiratet haben, war ich ziemlich kompliziert. Ich hatte lange allein gelebt und bin ihr im Haushalt immer nachgelaufen, um sicherzugehen, dass sie alles so machte, wie ich es gewohnt war. Am meisten störte Lily, dass ich im Trockner nachgeschaut habe, ob sie Kleidung drin vergessen hatte.« Er schüttelte den Kopf. »Weil ich so groß bin, kann ich nicht richtig in den Trockner reinsehen, also bücke ich mich und greife hinein. Als ich eines Tages mal die Hand reingesteckt habe, war da was Kaltes, Schleimiges. Sie hatte einen Frosch aus dem Garten reingesetzt! Ich hab die Hand so schnell rausgezogen, dass ich hingefallen bin. Und der Frosch ist rausgehüpft, an Lily vorbei, die lachend an der Tür stand. Die Lektion habe ich gelernt! Wenn sie mir später im Scherz gesagt hat, ich soll in den Trockner schauen, hab ich immer ein kleines Geschenk von ihr drin gefunden.« Er öffnete die Flasche und trank einen Schluck. »Nach ihrem Tod habe ich weiter reingeschaut. Keine Ahnung, warum. Es ist ja nie was drin. Aber es erinnert mich an sie. Wenn mich was beschäftigt, schaue ich nach, für den Fall, dass sie mir einen Rat geben möchte.«

»Das ist eine nette Geschichte, Opa Vance«, sagte Emily. »Schade, dass ich Lily nie kennengelernt habe.«

»Das finde ich auch. Du hättest ihr gefallen.«

Sie wünschten einander eine gute Nacht, und Vance kehrte in sein Zimmer zurück. Emily blieb auf halber Höhe der Treppe stehen, zögerte kurz und ging hinunter in den Waschraum.

Dort wanderte ihre Hand zum Griff des Trockners. Sie öffnete die Tür und wich zurück, als erwartete sie, dass etwas herausspringen würde.

Sie lugte vorsichtig hinein. Nichts.

Als sie den Raum verließ, musste sie fast lachen. Wieso hatte sie im Trockner nachgesehen?

Nach welchen Hinweisen suchte sie?

Stunden später öffnete Emily, die nicht wusste, was sie aufgeweckt hatte, die Augen und holte tief Luft, die beim Ausatmen blau wie Rauch aus ihrem Mund strömte. Sie blickte die Decke an, und plötzlich dämmerte es ihr: Normalerweise war es in dem Raum heller als jetzt.

Beim Schlafengehen waren die bleichen Strahlen des Mondes durch die offenen Balkontüren ins Zimmer gefallen. Als sie den Kopf auf dem Kissen drehte, bemerkte sie, dass die Balkontüren nun genauso geschlossen waren wie die Vorhänge.

Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, und ihre Kopfhaut prickelte, als würden ihr die Haare zu Berge stehen. Jemand war in ihrem Zimmer gewesen. Sie griff unters Kissen, stellte den MP3-Player aus und stützte sich auf den Ellbogen ab.

Emily wusste, dass er das gewesen war. Seine Aura unterschied sich von der anderer Menschen. Sie spürte seine Wärme in der Luft.

Sie zog die Ohrstöpsel heraus, stand auf, ging zum Lichtschalter und drückte ihn herunter. Der Kronleuchter tauchte den Raum in fahles Licht.

Aber es war niemand da.

Zwischen den Vorhängen an den Balkontüren lugte ein Zettel hervor. Sie zog ihn heraus.

Tut mir leid, dass ich das Grillfest verlassen musste. Würdest du den Tag mit mir verbringen? Komm doch am Morgen zum Holzsteg am Piney Woods Lake.

Win

Emily öffnete die Türen und trat auf den Balkon hinaus, um sich umzusehen.

»Win?«

Nichts. Nur die Grillen und das papierene Rascheln der Blätter im Wind waren zu hören.

Ihr Herz klopfte immer noch wie wild, nun jedoch nicht mehr vor Angst, sondern weil sie sich freute. Es war lange her, dass sie sich auf irgendetwas so gefreut hatte – auf ein besonderes Essen, einen Geburtstag oder ein Wochenende. Er gab ihr dieses Gefühl zurück.

Kurz darauf hörte sie, wie ein Motor angelassen wurde, und die Scheinwerfer von Julias Truck leuchteten auf. Emily beobachtete, wie er sich entfernte.

Offenbar war sie nicht die Einzige, die in dieser Nacht nicht schlief.