ZWÖLF

Sawyer öffnete die Haustür verärgert, wie jeder es gewesen wäre, der mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt wird.

Julia nahm den Finger von der Klingel.

Er blinzelte. »Julia?«, fragte er verwirrt.

»Ich muss mit dir reden.«

»Jetzt?« Ganz wach war er noch nicht.

Sie verdrehte die Augen. »Ja, jetzt.«

Er musterte sie. Sie trug noch die ausgewaschene Jeans und die Bauernbluse vom Grillfest, wo er sie in seiner Wut stehen gelassen hatte. Sie glaubte, er wolle nur eine Affäre mit ihr. Doch Affären hatte er genug gehabt. Bei Julia stand ihm der Sinn nach mehr. Aber sie ließ ihn nicht. »Hast du getrunken?«, erkundigte er sich.

»Nein, ich bin sauer.«

»Also nichts Neues.« Er trat beiseite. »Komm rein.« Als sie an ihm vorbei in sein dunkles Wohnzimmer marschierte, wurde ihm bewusst, dass er sie dort hatte, wo er sie haben wollte. Ohne eine Ahnung, wie er weiter vorgehen sollte.

Das einzige Licht kam aus der Küche vom Dunstabzug über dem Herd. Sie sah sich um und nickte, als hätte sie sich sein Zuhause genau so vorgestellt, nämlich zu luxuriös.

»Geht’s um das, was du mir sagen wolltest?«, fragte er, nicht ganz ohne Angst, dass sie sich nach der letzten großen Eröffnung endgültig von ihm verabschieden würde.

Sie wandte sich ihm mit gesenktem Blick zu. »Wie meinst du das?«

»Letzte Woche hast du mir den Kuchen gebracht, mir erklärt, dass du meinetwegen mit dem Backen angefangen hast und mir später noch was Wichtiges sagen wolltest. Ist dieses Später jetzt?«

»Nein, das hat nichts damit zu tun. Wieso sollte ich deswegen sauer auf dich sein?«

Er seufzte. »Keine Ahnung, Julia. Bei dir ist nichts klar.«

Sie lief auf und ab. »Ich hab mich hier wohlgefühlt, bis du plötzlich mit deiner Demutsmasche angefangen hast. Fast hättest du mich überzeugt. Fast hätte ich dir vertraut.« Sie gab ein verächtliches Geräusch von sich. »Und du wirfst mir vor, durchtrieben zu sein.«

»Wovon redest du?«

»Von dem, was du heute gesagt hast.«

Er rieb sich die Wange, was wegen seiner blonden Bartstoppeln ein kratzendes Geräusch verursachte. »Hilf meinem Gedächtnis auf die Sprünge.«

»Du hast behauptet, ich würde dich bloß an mich ranlassen, weil ich vorhabe, von Mullaby wegzugehen. Und dann bist du einfach verschwunden.«

»Ach.« Er ließ die Hand sinken. »Das.«

»Wenn du dageblieben wärst, hätte ich es dir erklärt. Aber egal.«

Allmählich hatte er das Gefühl, nicht nur deshalb nichts zu verstehen, weil sie ihn aus dem Tiefschlaf geweckt hatte. Das, was sie sagte, ergab wirklich keinen Sinn. »Wie bitte?«

»Und wenn ich dich tatsächlich nur an mich rangelassen habe, weil ich von Mullaby wegwill? Warum sollte dir das wichtig sein? Du möchtest mir doch, seit ich wieder da bin, an die Wäsche. Wieso sollte mein Plan, von hier wegzugehen, dich beeinflussen? Letztes Mal hat dich das doch auch nicht gestört.«

Er bekam einen roten Kopf. Sie hatte einen wunden Punkt getroffen. »Damit eins klar ist: Du weißt genauso gut wie ich, dass ich dir jederzeit an die Wäsche könnte.« Er trat einen Schritt auf sie zu, so dass seine Brust ihren Busen berührte. »Weil ich genau weiß, wie ich es anstellen muss.«

»Dann mach’s jetzt«, provozierte sie ihn mit zitternder Stimme.

»Ich will aber auch da rein.« Er hob einen Finger an ihre Schläfe.

»Da bist du schon.«

»Und was ist damit?« Er legte seine Hand auf ihre Brust, über ihr Herz, das wie wild klopfte. War das Wut? Angst? Lust?

Sie wich zurück. »Das tust du mir nicht noch mal an.«

»Was?«

»Dass du dich in mein Herz schleichst und mich mit deinem Charme von der Aufrichtigkeit deiner Gefühle überzeugst. Das letzte Mal hab ich Jahre gebraucht, darüber hinwegzukommen. Du wirst mich nicht wieder um den Finger wickeln. Du wirst mir nichts mehr versprechen, und ich werde dir nichts versprechen. Diese Scheiße mit dem ›Bleib, weil du noch lange nicht da bist, wo ich dich haben will‹ funktioniert nicht. Weißt du, wie viel leichter es gewesen wäre, wenn du mir damals nur die eine Nacht versprochen hättest? Ist dir klar, wie sehr ich dich dafür gehasst habe, dass du mir das Gefühl gegeben hast, mich zu lieben?«

»Julia …«

»Nein. Versprich mir eine Nacht«, sagte sie. »Versprich mir nicht, mich zu lieben. Und verlang nicht von mir, dass ich bleibe.«

Zum Teufel mit den hehren Absichten! Er zog sie an sich und küsste sie. Leidenschaftlich. Und schob ihre Bluse hoch. Als seine Finger ihre nackten Brüste berührten, wölbte sie sie ihm entgegen. Dabei lösten sich seine Lippen von den ihren. Wie von selbst glitten ihre Finger in seine Haare, um ihn zurückzuholen.

»Himmel, du bist ohne BH zu mir gekommen«, stöhnte er.

Sawyer presste sie gegen die Wand, umfasste ihre Hüfte mit einer Hand und drückte sich gegen sie. Sie passte sich seinem Rhythmus an.

Er knöpfte ihre Jeans auf, und sie versuchte erfolglos, ihm zu helfen, ohne den Kuss zu unterbrechen. Am Ende schob er die Hose einfach mit dem Fuß herunter.

»Du willst eine Nacht, und die kriegst du«, versprach er, hob sie hoch und trug sie zum Sofa. »Eine Nacht, die du nicht vergessen wirst.«

Er betrachtete sie so lüstern, dass sie versucht war, ihre Blöße zu bedecken. Seine Hände wanderten zum Bund seiner Pyjamahose. Er streifte sie ab, ohne den Blick von Julia zu wenden. Dann stützte er sich mit einem Knie neben ihr auf der Couch ab. Sie legte eine Hand auf seine nackte Brust. »Warte, Sawyer.«

Er hielt den Atem an. »Was machst du mit mir, Julia?«

»Ich muss erst das Kondom aus meiner Jeans holen.«

Er hob überrascht den Kopf. »Ich hab nicht gelogen. Ich kann wirklich keine Kinder zeugen.«

»Bist du sicher?«

»Ja.« Trotzdem nahm er das Kondom und streifte es über.

»Kein Warten mehr«, murmelte er, als er sich zu ihr legte.

»Kein Warten mehr.«

So war es noch mit niemandem zuvor gewesen. Sie klammerten sich aneinander, als könnte die Macht, mit der ihre Körper sich vereinigten, alles, was sie zuvor getrennt hatte, ungeschehen machen.

Hinterher keuchte Sawyer, den Kopf an Julias Hals vergraben: »Auch wenn du mir das angesichts meines traurigen Mangels an Zurückhaltung gerade eben vermutlich nicht glaubst: Ich habe seit meinem sechzehnten Lebensjahr dazugelernt.«

Sie musste lachen.

»Sobald ich wieder genug Kraft zum Aufstehen habe, demonstriere ich es dir im Schlafzimmer.«

Als sie aufwachte, war es dunkel im Zimmer. Sie wandte ihm blinzelnd den Kopf zu.

Ihre Haare waren zerzaust, die pinkfarbene Strähne kringelte sich um ihr Ohr. »Und ich dachte, ich hätte alles im Griff«, seufzte sie.

»Meinst du, du siehst klarer, wenn ich dir eine weitere Nacht verspreche?«

Julia schmunzelte.

Sawyer strich mit einem Finger über ihren Unterarm. Als sie merkte, dass er ihre Narben nachzeichnete, entwand sie ihm den Arm. Er zog ihn wieder zu sich heran.

»Warum hast du dir das angetan?«, fragte er.

»Das war meine Art, mit meinen Depressionen und der Einsamkeit umzugehen. Meine ganze Wut hat sich nach innen gerichtet. Ich war übrigens nicht immer so analytisch. Aus diesen Worten sprechen Jahre der Therapie.«

Er sah ihr in die Augen. »Meinst du, du wirst es wieder tun?«

»Nein. Falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte: Inzwischen bin ich durchaus in der Lage, meine Wut zu zeigen.« Als sie das Gewicht verlagerte, zuckte sie zusammen.

»Alles in Ordnung?«

Sie räusperte sich. »Es ist … eine Weile her.«

War es verwerflich, dass ihn das freute? Sawyer hatte oft überlegt, was sie in Baltimore tat, mit wem sie zusammen war. Er wusste so wenig über diesen Bereich ihres Lebens. »Warum bist du nicht nach Mullaby zurückgekommen, Julia?«

»Ich war der Ansicht, dass dort nichts mehr auf mich wartet.« Sie ließ den Kopf aufs Kissen sinken und starrte die Decke an.

»Hattest du denn nie Heimweh?«

»Ich habe ständig Heimweh«, antwortete sie. »Ich weiß nur nicht so genau, wo mein Zuhause ist. Da draußen wartet irgendwo das Glück auf mich, das ist mir klar. Manchmal spüre ich das sogar. Aber es ist, als wollte man den Mond fangen – immer, wenn ich glaube, ihn erwischt zu haben, verschwindet er am Horizont. Ich bin traurig und versuche, ihn zu vergessen, doch dann taucht das verdammte Ding in der nächsten Nacht wieder auf und macht mir neue Hoffnung.«

Er hatte sie noch nie so ehrlich erlebt. Julia, die ihre Gefühle immer für sich behielt. »Ist das die große Sache, die du mir mitteilen wolltest?«

»Nein.«

Er stöhnte. »Du bringst mich noch zur Verzweiflung. Ist es etwas Gutes?«

»Ja.«

Seine Hand wanderte ihren Oberschenkel hinauf. »Besser als diese Nacht?«

»Das kann man nicht vergleichen.« Sie legte ihre Finger auf die seinen und hielt sie fest. »Wie viel Uhr ist es?«

Er stützte sich auf einem Ellbogen ab und warf einen Blick auf den Wecker auf dem Nachtkästchen. »Kurz nach neun.«

Sie zögerte. »Morgens?«

»Ja.«

Julia sprang entsetzt aus dem Bett, trat ans Fenster und zog die schweren Vorhänge auf. Licht ergoss sich in den dunklen Raum. Als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, ertappte er sich dabei, wie er ihren nackten Körper anstarrte. Er bekam Schmetterlinge im Bauch.

»Es ist Morgen! Warum hast du nichts gesagt? Was sind das für Vorhänge?« Sie ließ die Finger über den Stoff gleiten. »Ich dachte, es ist Nacht!«

»Die sind absolut blickdicht. Ohne sie würde mich jeden Tag die Sonne wecken.« Er schob sich ein paar Kissen ins Kreuz und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Mir gefällt dein Po wirklich sehr gut, aber ich habe das Gefühl, dass meine Nachbarn die bessere Aussicht genießen. Würde es dir etwas ausmachen, dich umzudrehen?«

Sie trat hastig einen Schritt zurück und bedeckte ihre Blöße mit einem Stück Vorhang. »Habe ich mich wirklich gerade splitterfasernackt deinen Nachbarn präsentiert?«

»Ich habe jedenfalls das Antlitz Gottes gesehen.«

»Ich muss los«, sagte sie und blickte zur Tür.

»Nein.«

»Ich muss Kuchen fürs Lokal backen. Gott, bin ich spät dran. Um diese Zeit bin ich sonst immer schon auf dem Heimweg. Wo sind meine Klamotten?« Sie sah sich um. »Ach, unten.« Sie hastete nackt aus dem Zimmer.

Er stand schmunzelnd auf, nahm seinen Morgenmantel von dem Haken an der Tür, schlüpfte hinein und folgte ihr.

Sie hatte schon Jeans und Schuhe an und zog gerade die Bluse über den Kopf, als er sich ihr näherte und sie an die Wand neben der Tür drückte.

»Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben. Ich finde, das spricht dafür, dass wir es noch einmal machen sollten.«

»Wenn du mich gehen lässt, backe ich dir einen Kuchen.«

»Hexe.«

Plötzlich klopfte es an der Tür, was Julia so sehr erschreckte, dass sie einen spitzen Schrei ausstieß.

Sawyer zuckte zusammen und rieb sich das Ohr.

»Wer ist das?«, flüsterte sie.

»Keine Ahnung.«

»Mach nicht auf. Dann gehen sie vielleicht wieder.«

»Und rufen die Polizei, weil hier drin eine Frau geschrien hat. Wo ist das Problem? Sollen die Leute nicht erfahren, dass wir zusammen gewesen sind?« Er öffnete die Tür. Als er sah, wer davorstand, dachte er: Scheiße. Das fehlte noch.

»Hallo, Sawyer«, begrüßte seine Exfrau Holly ihn und trat ein. »Hast du gerade wie eine Frau gekreischt?«

Als sie Julia bemerkte, blieb Holly wie angewurzelt stehen. Es herrschte einen Augenblick lang verlegenes Schweigen, während die drei einander auf engstem Raum anstarrten.

»Holly«, sagte Sawyer schließlich. »Du erinnerst dich an Julia Winterson?«

»Natürlich«, antwortete Holly und bedachte Sawyer mit einem vielsagenden Blick, bevor sie sich lächelnd Julia zuwandte. »Freut mich, dich zu sehen, Julia.«

»Gleichfalls. Tut mir leid, aber ich muss los. Es ist spät.« Kurz darauf war sie verschwunden. Wieder einmal.

Sawyer schloss die Tür. »Ich hatte ganz vergessen, dass du vorbeikommen wolltest.«

Holly küsste ihn auf die Wange, ging durchs Wohnzimmer in die Küche und machte sich einen Kaffee. Irgendwie erinnerte ihn das an das Gefühl damals, als er Holly in der sechsten Klasse gefragt hatte, ob sie seine Freundin werden wolle, an dieses intensive Gefühl, als er endlich ihre Hand halten durfte. Sie war die gesamte Schulzeit über seine beste Freundin gewesen. Er schätzte und achtete sie, wusste aber nicht, ob er sie je geliebt hatte. Die Nacht mit Julia auf dem Football-Feld hätte ihm diese Frage beantworten sollen, doch er hatte zu große Angst gehabt, sich auf eine ungewisse Zukunft einzulassen.

Am Ende hatte er einen Schlussstrich gezogen. Holly wäre bei ihm geblieben, nachdem sie erfahren hatten, dass er keine Kinder zeugen konnte. Sie war fast besessen davon gewesen, die Ehe weiterzuführen, hatte sich Informationsmaterial zum Thema Adoption beschafft und versucht, enthusiastisch zu wirken. Kinder waren ein fester Bestandteil ihrer Pläne gewesen, doch schon bald war ihm klar geworden, dass sie sie sich nur deshalb so sehr wünschte, weil ihr die Beziehung mit ihm nicht genügte.

»Endlich hast du’s geschafft«, sagte Holly, als er die Küche betrat. »Kaum zu glauben.«

Sawyer zog einen Hocker heraus und setzte sich an die Frühstückstheke. »Was?«

»Stell dich nicht dumm.« Sie sah gut aus, glücklich. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz gefasst, so dass ihr Gesicht voller und runder wirkte. Sie hatte zugenommen. »Ich kenne dich. Du bist seit der Kindheit in sie vernarrt. Endlich hast du sie.«

Sawyer seufzte. »Da bin ich mir nicht so sicher.«

Hollys Lächeln verschwand. »Oje. Ich wollte nicht …«

»Nein, ist nicht dein Fehler. Du siehst übrigens toll aus.«

»Stört’s dich wirklich nicht, wenn ich wieder heirate? Und das hier?« Sie legte die Hände auf ihren Bauch.

»Ich freu mich für dich, Holly. Ehrlich.«

»Wahrscheinlich sagst du das bloß, weil du eine super Nacht hinter dir hast.«

Sawyer glitt vom Hocker und ging in sein Arbeitszimmer. »Ich bring dir die Papiere zum Unterschreiben.«

Als Emily aufwachte, flutete Morgenlicht durch die offenen Balkontüren. Sie wusste nicht, wie spät es war, hatte aber das Gefühl, nur ein paar Minuten geschlafen zu haben.

Der Zettel.

Sie wandte sich hastig dem Nachtkästchen zu. Der Zettel lag nach wie vor dort, wo sie ihn hingelegt hatte.

Sie nahm ihn in die Hand und starrte ihn an. Einen kurzen Augenblick lang war sie versucht, daran zu schnuppern.

Würde sie sich mit Win treffen?

Win behauptete, er mache sie nicht für das verantwortlich, was ihre Mutter getan hatte, aber konnte sie ihm glauben? Was waren seine Motive? Das würde sie erst wissen, wenn dieses Spiel zu Ende war.

Ihre Mutter war der mutigste Mensch, den sie kannte, doch nicht einmal sie hatte es geschafft, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

Also würde Emily es für sie tun.

Um ihren Platz in Mullaby zu finden, musste sie sich von ihrer Mutter abgrenzen und gleichzeitig versuchen, die Vergangenheit ins Lot zu bringen. Wie sie das anstellen sollte, wusste sie nicht. Eine Stimme in ihrem Innern sagte ihr, dass Win es wahrscheinlich wusste, dass sein Interesse an ihr nicht ganz so unkompliziert war, wie es auf den ersten Blick aussah. Doch das galt umgekehrt genauso.

Sie dachte an die Endlosschleife, von der er gesprochen hatte. Emily hielt sich am selben Ort auf wie ihre Mutter im selben Alter und war ähnlich wie sie damals auf eine Weise mit den Coffeys verbunden, die niemand guthieß. Dafür musste es einen Grund geben.

Sie stand, den Zettel in der Hand, auf und trat an die Frisierkommode, um Shorts und Top anzuziehen. Allmählich gewöhnte sie sich daran, den Blick von der unruhigen Schmetterlingstapete abzuwenden, und auch an das leise flatternde Geräusch, das sie verursachte. Julias Ansicht nach bedeutete das, dass sie sich allmählich in Mullaby eingewöhnte.

Oder sie verlor den Verstand.

Da wurde ihr bewusst, dass sie kein Geräusch hörte. Als sie den Blick hob, wich sie verblüfft einen Schritt zurück. Die Schmetterlingstapete war verschwunden und einer silberfarbenen mit winzigen weißen Punkten gewichen, die aussahen wie Sterne. Sie erzeugte in ihr ein merkwürdiges Gefühl der Vorfreude, wie in der vergangenen Nacht.

Veränderte sie sich tatsächlich von selbst?

Emily fand diese Tapete wunderschön, weil sie ihr das Gefühl gab, sich in einer Wolke aufzuhalten. Sie legte die Hand an die Wand. Sie fühlte sich weich an, wie Samt. Wieso hatte ihre Mutter ihr diesen Raum verschwiegen?

Emily zog sich in Gedanken versunken an und ging nach unten. Zum Glück war Opa Vance bereits beim Frühstücken im Lokal. Also schrieb sie ihm einen Zettel, dass sie zum See fahre.

Sie erwähnte nicht, wen sie dort treffen wollte.

Beim Einsteigen in den Wagen hörte sie in der morgendlichen Stille jemanden ihren Namen rufen. Vor Schreck ließ sie die Autoschlüssel fallen. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie die für diese frühe Stunde merkwürdig elegant gekleidete Stella in einem trägerlosen roten Kleid und hochhackigen Schuhen. Ihr breites Gesicht war mit Make-up-Spuren bedeckt, und ihre Mandelaugen wirkten müde. Sie sah aus, als hätte sie eine anstrengende Nacht hinter sich. Oder eine ziemlich gute.

»Hast du Julia gesehen?«, fragte Stella, als Emily sich nach den Schlüsseln bückte. »Ich war gerade bei J’s Barbecue, da ist sie nicht.«

Emily richtete sich auf. »Ich war gestern mit ihr zusammen. Aber ich hab sie heute Nacht gegen eins mit ihrem Truck losfahren hören.«

»Wo sie wohl hinwollte?«

Emily zuckte unsicher mit den Achseln.

»Julia fährt nur selten mit dem Truck, und sie verlässt das Haus niemals spätabends. Ich mache mir Sorgen um sie.« Stella zupfte an ihrem roten Nagellack. »Findest du nicht auch, dass sie sich in letzter Zeit merkwürdig verhält?«

»Nur wenn Sawyer da ist.«

»Hmm. Irgendwas beschäftigt sie. Normalerweise bringe ich sie mit genug Wein zum Reden. Aber ich glaube, den Trick kennt sie inzwischen.«

Emily blickte nervös über die Schulter, weil sie Opa Vance erwartete. »Mir hat sie nichts gesagt.«

»Würdest du ihr bitte, wenn du sie siehst, ausrichten, dass ich nach ihr suche?« Stella nickte in Richtung des geparkten Oldsmobile. »Wo willst du denn so früh schon hin?«

»Zum See. Und Sie?«

»Ach, ich komme gerade nach Hause«, antwortete Stella und verzog das Gesicht. »Scheiße. Vergiss es. Ich bin kein gutes Vorbild.«

Emily stieg schmunzelnd in den Wagen, während Stella kopfschüttelnd auf ihr Haus zuging und dabei die hochhackigen Schuhe auszog.

Um diese Tageszeit herrschte so wenig Verkehr, dass Emily den Piney Woods Lake in Rekordzeit erreichte. Sie stellte den Wagen auf dem fast leeren Parkplatz ab, schaltete den Motor aus und blieb noch eine Weile sitzen, bis er sich knackend abgekühlt hatte. Sie wusste, dass sie zu früh dran war, hatte aber aufbrechen wollen, bevor Opa Vance nach Hause kam, um ihn nicht anlügen zu müssen.

Schließlich stieg sie aus. Die Morgenluft war so schwer, dass sich Tropfen auf ihrer Haut bildeten, als sie sich auf einer der Bänke mit Blick auf den See niederließ, die Füße aufs Geländer legte und in den Nebel über dem Wasser starrte.

Kurze Zeit später hörte sie, wie sich Schritte von hinten näherten. Dann trat Win zu ihr an die Bank. Er zögerte kurz, bevor er sich neben sie setzte, ebenfalls die Füße aufs Geländer legte und aufs Wasser blickte. Er hatte ein markantes Profil, stolz, voller Geheimnisse. Emily wollte mehr über diese Geheimnisse erfahren. Hatte ihre Mutter auch so empfunden? Emily fragte sich, ob ein Fluch auf ihnen lag, der die Frauen ihrer Familie immer wieder zu den Männern der seinen hinzog.

»Komm mit in unser Seehaus und frühstücke mit mir«, sagte er.

»Wie lange bist du schon hier?«

»Eine ganze Weile. Ich wollte dich nicht verpassen.« Er holte tief Luft und stand auf. »Schön, dass du gekommen bist.« Er streckte ihr die Hand hin.

Sie zögerte keinen Moment, sie zu ergreifen.