DREIZEHN

Win führte Emily den menschenleeren Strand entlang zur großen Terrasse des Seehauses und bot ihr einen Liegestuhl an. Sie setzte sich, zog die Beine an und schlang die Arme darum.

Wenig später brachte ihnen die Haushälterin Penny Omeletts. Penny war dreiundsechzig, Witwe und ein ausgesprochenes Gewohnheitstier. Sie hatte eine Schwäche für Win, und Win liebte sie. Als Junge hatte er Penny und das Seehaus als eine Einheit verstanden und geglaubt, dass sie dort Tag und Nacht auf seine Familie warte, um sie zu bekochen. Dann war er ihr einmal mit seiner Mutter an einem ihrer freien Tage in Mullaby begegnet. Er hatte gedacht, sie sei weggelaufen, und seine Mutter verzweifelt angefleht, sie solle sie zurückholen. Win hatte mit seinem kindlichen Verstand geglaubt, dass er als Coffey Mullaby nicht verlassen dürfe, während andere Leute weggehen und nie mehr wiederkommen konnten. Und das hatte ihm Angst gemacht.

Win und Emily frühstückten schweigend miteinander. Er machte sie nervös, und sie brachte ihn aus dem inneren Gleichgewicht. Es fühlte sich an, als nähme er sich mehr, als ihm zustand. Doch er konnte nicht anders. Er hatte sich sein Leben lang in das gefügt, was nach Aussage seines Vaters unveränderlich war, und sich gezwungen, sich nicht nach den Freiheiten normaler Menschen zu sehnen. Das musste sich ändern. Er konnte nicht weiter Regeln der Vergangenheit befolgen. Durch die Begegnung mit Emily ergab plötzlich alles einen Sinn. Sie konnte ihn von seinem Stigma befreien. Wenn ausgerechnet Dulcie Shelbys Tochter ihn so akzeptierte, wie er war, musste seine Familie das zur Kenntnis nehmen. Emily war der erste Schritt in ein neues Leben.

Nach dem Frühstück beobachteten sie schweigend von ihren Liegestühlen aus, wie die Sonne den Morgendunst wegbrannte. Der Strand begann, sich mit Menschen zu füllen, und es wurde lauter.

»Bist du im Sommer oft hier draußen?«, erkundigte sich Emily, den Blick auf ein Boot gerichtet, das, eine Spur aufgewühlten Wassers hinterlassend, über den See flitzte.

»Meine Familie nutzt dieses Haus das ganze Jahr über. Es ist unser zweites Zuhause. Manchmal treiben wir Penny fast zum Wahnsinn. Sie hält sich gern an einen strikten Tagesplan, aber wir tauchen oft unerwartet auf, wie ich heute Morgen.«

»Ich habe das Gefühl, dass ihr das nichts ausmacht. Sie scheint ziemlich vernarrt in dich zu sein.« Emily schenkte ihm ein Lächeln, das sein Herz erwärmte. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass nicht nur er sie manipulierte, sondern dass das umgekehrt genauso der Fall sein konnte. Wenn es funktionieren sollte, musste sie ihn als Freund akzeptieren. Mit diesen anderen Gefühlen hatte er nicht gerechnet. Ein Lächeln zur rechten Zeit, und er vergaß, was er sagen wollte. Wie sehr sie sich doch von seinen Erwartungen unterschied, nach all den Geschichten, die er über ihre Mutter gehört hatte! Sie war einfach atemberaubend … und hatte ausgesprochen interessante Haare, die aussahen, als würde sich eine Windbö darin verbergen, die nur darauf wartete, sich daraus zu befreien.

Sie hob die Hände. »Ist irgendwas auf meinem Kopf?«

»Nein. Entschuldige. Ich hab nur gerade über deine Haare nachgedacht.«

»Du hast über meine Haare nachgedacht?«

»Ja. Nein. Ich hab überlegt, ob du sie auch mal offen trägst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich will sie mir wachsen lassen.«

»Wie kurz waren sie denn vorher?«

»Echt kurz. Meine Mom hat ihre kurz getragen, deswegen hab ich das auch gemacht. Seit ungefähr einem Jahr lass ich sie wachsen.«

»Wieso willst du nicht mehr so sein wie sie?«

»Ich will weiter so sein wie sie. Sie war ein wunderbarer Mensch«, erklärte Emily mit Nachdruck. »Es war nur sehr schwer, ihr gerecht zu werden.«

So funktionierte das nicht. Sie mussten endlich diese Verlegenheit loswerden. »Lass uns einen Spaziergang machen«, schlug er vor und stand auf.

Sie folgten barfuß der Wasserlinie und holten sich nasse Füße. Viel redeten sie nicht, aber das war okay. Nebeneinanderher zu schlendern, im gleichen Rhythmus, sich aneinander zu gewöhnen, fühlte sich gut an.

Als sie die kleine Bucht erreichten, schaute Emily zu der Stelle hinüber, an der die Geburtstagsfeier seiner Schwester stattgefunden hatte. Heute saßen dort zwei ältere Paare auf Klappstühlen, abseits von den anderen Badegästen im Schatten. Win wusste, was Emily tun würde.

Sie entfernte sich wortlos von ihm und ging zu dem Baum mit den Initialen ihrer Mutter und seines Onkels. Win begrüßte kurz die Paare, die Emily mit merkwürdigen Blicken beäugten, bevor er ihr folgte.

In den vergangenen Monaten war ihr Leben von zahlreichen Veränderungen gekennzeichnet gewesen, die sich in ihrem kummervollen Ausdruck und ihrem Gefühl der Einsamkeit äußerten. Er konnte beides gut nachvollziehen, weil er wusste, dass es Dinge gab, die man anderen, denen vergleichbare Erfahrungen fehlten, nicht sagen konnte. Sie hätten es nicht verstanden.

»Werden die Schüler der Mullaby High über meine Mom Bescheid wissen? Wie sie hier war?«, fragte Emily, ohne den Blick von dem Baum zu wenden.

»Wenn ihre Eltern es ihnen sagen. Das Schlimmste hast du wahrscheinlich schon hinter dir: die Begegnung mit meinem Dad. Ich würde mir keine Gedanken über die Mullaby High machen. So schlimm ist die Schule nicht.« Um sie abzulenken, bat er sie: »Erzähl mir von deiner alten Schule. Fehlt sie dir? Die Website vermittelt den Eindruck, dass es dort sehr … anstrengend ist.« Das war noch milde ausgedrückt. Die Ziele der Roxley School for Girls waren so politisch korrekt, dass man beim Lesen der Informationstexte eine Gänsehaut bekam.

Sie zuckte mit den Achseln. »Nach dem Tod meiner Mom habe ich Trost in der Schule gesucht, erfolglos, weil ich dort nur ihr Vermächtnis finden konnte. Die Leute da wollten, dass ich in ihre Fußstapfen trete, und das hab ich nicht geschafft. Hier geht es mir genau umgekehrt. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: ihrem Namen gerecht zu werden oder dagegen aufzubegehren.«

»Hattest du Freunde dort?«

»Nach dem Tod meiner Mutter haben die Panikattacken angefangen. Ich wollte nicht, dass andere sie mitbekommen, und habe mich zurückgezogen.«

Ihm fiel ein, wie er sie das erste Mal auf der Bank im Ort gesehen hatte. Da ihm klar gewesen war, dass da etwas nicht stimmte, hatte er sie angesprochen. Und das hatte alles verändert. »War das bei unserer ersten Begegnung eine Panikattacke?«

Sie nickte.

»Was löst sie aus?«

»Panik.«

Er schmunzelte. »Das hatte ich mir fast schon gedacht.«

»Ich bekomme sie, wenn ich mich der Situation nicht gewachsen fühle, wenn mir zu viel durch den Kopf geht. Warum interessiert dich das?«, fragte sie argwöhnisch.

»Ich bin bloß neugierig.« Sie musterte ihn mit ihren leuchtend blauen Augen. »Wieso siehst du mich so an?«

»Ich hab noch nie jemandem von meinen Panikattacken erzählt«, gestand sie. »Jetzt kennst du meine Schwäche.«

»Das klingt, als dürftest du keine haben.« Er zupfte geistesabwesend Rinde vom Baumstamm. »Wir haben alle unsere Schwächen.«

»Du auch?«

»Und ob!«

Sie legte ihre Hand auf die seine, damit er mit dem Pulen aufhörte. »Und die möchtest du mir nicht verraten?«

Er holte tief Luft. »Das ist schwierig.«

»Verstehe.« Sie wandte sich dem See zu. »Du willst sie mir nicht erklären.«

Er lief ihr nach. »Nein, das ist es nicht. Ich muss sie dir zeigen

Sie blieb so unvermittelt stehen, dass er fast gegen sie stieß. »Dann tu das.«

»Das geht jetzt nicht.« Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Bitte glaub mir das.«

»Was bleibt mir anderes übrig?«

Sie wanderten schweigend um den See herum und kehrten zum Haus zurück, wo Penny ihnen zum Lunch Sandwiches und Obst servierte. Als Penny hinter Emilys Stuhl vorbeikam, deutete sie lächelnd auf diese und streckte den Daumen in die Höhe, bevor sie ins Haus ging, weil das Telefon klingelte.

Er erwiderte ihr Lächeln.

Nach dem Essen stand Emily auf und trat ans Geländer der Terrasse. Wins Blick wanderte von ihren langen Beinen und ihrem Körper zu ihrem Gesicht. Fasziniert beobachtete er, wie sich das Band aus ihren Haaren löste und auf dem Boden landete.

»Schade, dass ich keinen Badeanzug dabeihabe«, sagte sie. »Ich würde gern ins Wasser springen und mich abkühlen.«

»Komm ins Haus, da ist es kühl. Ich zeig dir alles.«

Als sie sich umdrehte, hob er ihr Haarband vom Boden auf. »Du hast was verloren.«

Sie streckte die Hand aus. »Danke.«

Doch er schob das Band in seine Tasche.

»Willst du es mir nicht geben?«, fragte sie.

»Irgendwann«, antwortete er und betrat das dunkle Wohnzimmer. Beim Anblick des Raums verstummte sie. An den Wänden hingen keine Bilder von Sanddünen oder alte Holzbojen wie in manchen der anderen Ferienhäuser, die an Fischlokale erinnerten. Dieses Haus sah aus, als würde Wins Familie tatsächlich viel Zeit darin verbringen. Die Möbel waren gemütlich und ein wenig abgewohnt. Eine Wand wurde von einem Flachbildschirm beherrscht, und auf dem Boden darunter lagen Wii-Zubehör und jede Menge DVDs. Da Reisen, die länger als einen Tag dauerten, für die Coffeys nicht möglich waren, verbrachten sie ihre Ferien für gewöhnlich am See.

»Es ist viel gemütlicher, als ich erwartet hatte«, bemerkte Emily.

»Man kann nicht nur im Elfenbeinturm leben.«

Er führte sie in die erste Etage, um ihr die vier Zimmer zu zeigen, dann durch eine Tür im Wäscheschrank in den ausgebauten Speicher im zweiten Stock. Dort befanden sich lediglich ein niedriges Sofa, ein Stapel Bücher, ein Fernseher und einige Kartons. Sein Reich. Er liebte seine Familie, aber wenn alle hier draußen waren, brauchte er einen Rückzugsort. Obwohl er das Haus in der Main Street mit seinen kalten Marmorböden und seiner bedrückenden Geschichte weniger gern mochte als das Seehaus, war es im Stadthaus bedeutend leichter, einander aus dem Weg zu gehen.

»Ich verbringe viel Zeit hier oben«, erklärte er, während sie sich umschaute. Das einzige Licht kam von den dreieckigen Fenstern an der hinteren abgeschrägten Wand. Rosafarbene Wollmäuse wirbelten durch die Luft.

»Ich verstehe, warum. Der Raum hat etwas Mysteriöses. Er passt zu dir.« Sie trat an die Fenster. »Toller Ausblick.«

Er betrachtete ihre Silhouette von der anderen Seite des Raums aus, bewegte sich auf sie zu, blieb, nur Zentimeter von ihr entfernt, hinter ihr stehen und merkte, dass sie ihn spürte.

»Du bist plötzlich so still.«

Sie schluckte. »Ich weiß nicht, wie du das machst.«

Er beugte sich ein wenig vor. Ihre Haare rochen nach Blumen, irgendwie nach Flieder. »Was?«

»Deine Berührung.«

»Ich berühre dich nicht, Emily.«

Sie drehte sich um. »Genau das ist es. Es fühlt sich an, als würdest du mich anfassen. Wie machst du das? Es ist, als würde dich eine Aura umgeben, die ich nicht sehen, nur spüren kann. Ich begreife das nicht.«

Sie spürte es. Das hatte noch nie zuvor jemand getan.

Sie wartete, dass er es erklärte oder abstritt, doch das konnte er nicht. Er trat näher ans Fenster. »Früher hat das alles deiner Familie gehört«, teilte er ihr mit.

»Was alles?«

»Der ganze Piney Woods Lake. Die Shelbys haben Parzelle um Parzelle verkauft und damit ihr Geld verdient.« Er deutete auf die Bäume. »Der Waldgrund auf der anderen Seite des Sees gehört nach wie vor deinem Großvater. Er dürfte Millionen wert sein. Meinen Vater macht das noch ganz wahnsinnig. Er möchte, dass dein Großvater ihm einen Teil davon verkauft.«

»Warum?«

»Die Coffeys reden gern ein Wörtchen mit bei der Entwicklung von Mullaby. Bei Wohnhäusern und Läden.«

»Warum?«, fragte sie noch einmal.

»Weil der Ort unsere Heimat ist. Viele Jahre lang haben wir geglaubt, wir könnten nur hier leben.«

»Und stimmt das?«

Er wandte sich ihr zu. »Möchtest du das wirklich wissen?« Meine Schwäche.

»Ja, natürlich.«

Wenn er es ihr erklärte, gab es kein Zurück mehr. Er musste es ihr zeigen. »Die Männer meiner Familie haben eine … Besonderheit.«

»Was für eine Besonderheit?«, erkundigte sie sich verwirrt.

Er begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Sie ist genetisch bedingt«, antwortete er. »Eine Mutation, die in meiner Familie besonders stark ausgeprägt ist. Mein Großvater hatte sie. Mein Onkel hatte sie. Mein Vater hat sie.« Win schwieg kurz. »Ich habe sie.«

»Was?«

Er holte tief Luft. »Wir nennen sie das Leuchten.«

Emily sah ihn verständnislos an.

»Unsere Haut leuchtet in der Nacht.« Es war eine erstaunliche Erfahrung, das jemandem außerhalb seiner Familie zu gestehen, genauso befreiend, wie er es sich erhofft hatte. Sogar noch besser. Jetzt war es heraus. Er wartete auf Emilys Reaktion. Doch die blieb aus. »Und das spürst du«, erklärte er, ging wieder zu ihr und hob die Hände an ihr Gesicht, ohne sie zu berühren.

»Du möchtest mir also weismachen, dass du in der Dunkelheit leuchtest.«

Win ließ die Hände sinken. »Dass ich ein Werwolf bin, würdest du glauben, das aber nicht?«

»Ich hab dich nie für einen Werwolf gehalten.«

»Die Geschichte reicht Generationen zurück. Meine Vorfahren haben die alte Heimat damals verlassen, um der Verfolgung zu entgehen, weil die Menschen ihre Besonderheit für Teufelswerk hielten. Sie segelten übers Meer; es gibt jede Menge Berichte darüber, dass ihr Schiff Unheil brachte. In Amerika nannten die Eingeborenen sie Mondgeister. Sie ließen sich zu einer Zeit in dieser Gegend nieder, als es hier nur Farmland gab, weit weg von jeglicher Zivilisation. Doch ganz allmählich wuchs der Ort um sie herum. Niemand kannte ihr Geheimnis, und irgendwann wurde ihnen bewusst, dass es ihnen gefiel, nicht mehr so isoliert zu sein. Aber die Geschichten von der früheren Verfolgung wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Wir bewahrten unser Geheimnis bis in die Gegenwart. Das änderte sich in der Nacht, als deine Mutter meinen Onkel durch einen Trick nachts aus dem Haus lockte. An jenem Sommerabend stand er im Musikpavillon vor den versammelten Bewohnern des Ortes, und zum ersten Mal sahen alle, was er konnte.«

»Eine komplexe Geschichte«, lautete ihr Kommentar.

»Emily, du hast mich schon gesehen. Nachts hinter deinem Haus.«

Sie stutzte. »Du bist das Licht hinter dem Haus? Das Licht von Mullaby?«

»Ja.«

»Warum kommst du nicht mehr?«

»Ich komme jede Nacht. Aber dein Großvater sitzt auf der Küchenveranda unter deinem Balkon und ruft mir zu, dass ich verschwinden soll, bevor du mich bemerken kannst.«

»Mein Großvater weiß Bescheid?«

»Ja.«

»Beweis es mir.« Sie öffnete die Schranktür. Der Schrank war bis auf eine Regenjacke und einen einzelnen Wasserschi leer. »Komm.«

Sie schob Win in den Schrank, folgte ihm und schloss die Tür hinter ihnen. Es war ziemlich eng. Dann wartete sie kurz in der Dunkelheit, bevor sie ausrief: »Ha! Ich sehe kein Leuchten.«

»Dazu ist Mondlicht nötig«, erklärte er.

Sie schnaubte verächtlich. »Trifft sich gut.«

»Nein, eben nicht.«

»Das ist albern«, sagte sie und tastete nach dem Türgriff.

»Warte.« Seine Hand landete auf ihrer Hüfte, und sie erstarrte. »Komm heute um Mitternacht zum Musikpavillon. Dann zeige ich es dir.«

»Warum?«, flüsterte sie. »Ist das Teil eines raffinierten Plans?«

»Was für ein Plan?«

»Möchtest du dich für das rächen, was meine Mutter euch angetan hat?«

»Nein«, antwortete er. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich nicht für ihre Handlungen verantwortlich mache.«

»Trotzdem inszenierst du noch einmal die Nacht mit meiner Mutter und deinem Onkel.«

»Eine schöne Symmetrie, findest du nicht?«

»Okay.« Sie gab sich geschlagen. »Ich werde dort sein.«

Fast hätte er gelacht. »Du klingst nicht gerade begeistert.«

»Alles wäre leichter, wenn ich dich nicht so gut leiden könnte.«

»Du magst mich?« Das freute und beschämte ihn gleichermaßen. »Wie sehr?«

»Genug, um mich heute Nacht mit dir zu treffen, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass du noch was anderes vorhast, als im Dunkeln zu leuchten.«

»Ist das denn nicht genug?« Er spürte, wie sie den Atem anhielt. »Mein Leben ist mit dem deinen verbunden«, stellte er fest. »Spürst du es nicht? Das Schicksal verlangt, dass ich es dir zeige.«

»Ich muss gehen.« Sie öffnete die Tür des Schranks und ging nach unten.

Win holte sie auf der Terrasse ein, wo sie die Schuhe anzog. »Geh heute Nacht nicht durch den Wald, sondern komm von der Straße her in den Park.«

Sie sah ihn ziemlich lange an. Als er die Hand ausstrecken wollte, um sie zu berühren, nickte sie kurz und rannte zum Strand hinunter.

Er blickte ihr nach, schob die Hände in die Hosentaschen und kehrte nachdenklich ins Haus zurück.

Auf der Schwelle zum Wohnraum blieb er verblüfft stehen.

In dem großen schwarzen Ledersessel neben der Couch saß sein Vater mit übereinandergeschlagenen Beinen.

Win verschlug es die Sprache, denn für gewöhnlich spürte er, wenn sein Vater ihn suchte. Am Ende fragte er: »Seit wann bist du da?«

»Noch nicht lange. Ich hab vorhin angerufen, um dich zu bitten, dass du den Wagen nicht vor die Garage stellst, wenn du nach Hause kommst, weil deine Mutter morgen früh mit Kylie nach Raleigh muss, Schulkleidung kaufen. Penny hat gesagt, du wärst am See. Ich hab sie gefragt, mit wem, und sie hat geantwortet: mit einem Mädchen. Ich hab sie gebeten, mir das Mädchen zu beschreiben, und die Beschreibung klang nach Emily Benedict.«

Das musste der Anruf gewesen sein, den Penny zuvor entgegengenommen hatte. Win dankte ihr innerlich dafür, dass sie seinem Vater gesagt hatte, er sei mit Emily am See, nicht mit ihr allein im Haus. »Und du bist hergekommen, um dich persönlich zu vergewissern«, schloss Win. »Ich mag sie.«

»In deinem Alter hab ich auch ein Mädchen gemocht«, gestand Morgan und verschränkte die Finger. »Sie hieß Veronica und war wie Emily neu in Mullaby. Ich hätte sie den ganzen Tag anschauen können. Eines Tages hab ich sie zu einer Kinomatinee eingeladen, aber dein Großvater hat’s rausgefunden. Er hat mir eine Ohrfeige verpasst und mich in mein Zimmer gesperrt. Als ich nicht zum Kino kam, ist Veronica zu uns gegangen, um sich nach mir zu erkundigen. Dein Großvater hat ihr gesagt, dass das mit der Einladung ein Scherz war. Danach hat sie mich gehasst. Aber ich hab seinen Standpunkt begriffen.«

»Was für ein Standpunkt?«

»Dass wir nicht für ein normales Leben bestimmt sind.«

»Hat dein Vater deinen Bruder genauso behandelt?«, fragte Win und setzte sich aufs Sofa.

»Für Logan galten dieselben Regeln wie für mich.«

Win erinnerte sich vage an den ruhigen alten Mann. Die Leute behaupteten, er sei nach dem Selbstmord seines jüngsten Sohnes Logan nicht mehr der Alte gewesen. Win war klar, warum Logan und Dulcie Shelby sich nicht offen hatten treffen können: Wenn Wins Großvater es herausgefunden hätte, wären eine Ohrfeige und Hausarrest fällig gewesen. Ihm erschien die Geheimnistuerei albern.

»Heute ist alles anders«, bemerkte Win.

»Das klingt, als würdest du dieses ›anders‹ für besser halten«, sagte Morgan. »Wenn wir lange genug warten, vergessen die Leute, was sie gesehen haben, und die Dinge sind wieder wie früher. Es ist nur eine Frage der Zeit. Manchmal hoffe ich sogar, dass deine Mutter es vergessen hat.«

»Ich will aber nicht, dass die Dinge wieder so werden wie früher.«

»Dir bleibt keine andere Wahl. Du hast Hausarrest und darfst dich nicht mehr mit Emily treffen.«

Diese Reaktion hatte Win erwartet. »Die junge Frau, die dir damals gefallen hat: Wolltest du es ihr nie erklären?«

Morgan betrachtete seine Fingerspitzen. »Nein. Mir hat die Illusion gefallen. In ihrer Gegenwart war ich …«

»Normal«, führte Win den Satz für ihn zu Ende.

Morgan nickte. »Mit deiner Mutter war es eine Weile genauso. Dann kam die Sache mit Logan und Dulcie. Deine Mutter und ich waren zu dem Zeitpunkt erst zwei Jahre verheiratet. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. Sie hat mir nie verziehen, dass sie es nicht von mir erfahren hat, sondern es wie alle anderen herausfinden musste.«

Die Coffey-Männer gingen unterschiedlich vor, wenn sie es ihrer Zukünftigen sagten, aber sie taten es ausnahmslos nach der Hochzeit. Eine Tradition, die wie alle anderen keinen Sinn ergab. Win hatte sich oft gefragt, ob sein Vater es seiner Mutter je verraten hätte, wenn das Familiengeheimnis nicht durch Logan enthüllt worden wäre.

»Mom liebt dich«, sagte Win, der sicher war, dass das einmal gestimmt hatte.

Morgan erhob sich und ging zur Haustür. »Tagsüber liebt sie mich. Tagsüber lieben uns alle. Glaube mir, Win: Ich will dir Leid ersparen.«