SECHZEHN
Maddie Davis rückte ihren Rucksack zurecht. Sie war tags zuvor in Mullaby eingetroffen und hatte sich, wie von ihren Eltern gewünscht, im Inn an der Main Street einquartiert. Eigentlich hatte sie das allein machen wollen, doch wenn es ihre Eltern beruhigte, konnten sie gern die Übernachtung in dem protzigen Hotel bezahlen, in dem jeden Abend vor dem Bettgehen ein Täfelchen Schokolade auf ihrem Kopfkissen lag.
Sie hatte des Vollmondes wegen nicht gut geschlafen und den größten Teil der Nacht in einem Sessel mit Blick auf den Park verbracht. Beim Frühstück hatte die Leiterin des Hotels ihr erklärt, dass der Augustvollmond in der Gegend Störmond genannt werde und die Menschen rastlos mache.
Beim Telefonat mit ihrer Mutter nach dem Frühstück hatte Maddie versucht, locker zu klingen. Doch ihre Mutter hatte sich nervös angehört. »Vielleicht wird jetzt endlich klar, von wem ich meinen Sarkasmus habe«, hatte Maddie gescherzt. »Wahrscheinlich habe ich ihn geerbt, und ihr könnt nichts dafür.« Ihre Mutter hatte nicht gelacht. Das hätte Maddie wissen müssen. Ihre Eltern waren die nettesten Menschen der Welt, besaßen aber nicht den gleichen Sinn für Humor wie sie. Maddie hatte schon früh gelernt, in ihrer Gegenwart ihre spitze Zunge im Zaum zu halten.
Es war ein wunderbar sonniger Montagmorgen. Maddie sog die süßlich duftende Luft tief ein und entspannte sich. Der Ort gefiel ihr. Er erinnerte sie vage an etwas.
Da sah sie ein Schild über einer Tür.
J’S BARBECUE.
Sie blieb wie angewurzelt stehen.
Maddie hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, dieses Projekt endlich anzugehen, und nun war es so weit. Sie versuchte, ihm ein wenig von seiner Gewichtigkeit zu nehmen, indem sie sich dafür nur wenige Tage Zeit nahm, zwischen dem Ende ihres Sommerpraktikums in der Anwaltskanzlei ihres Vaters und ihrem ersten Schultag in Georgetown. Jetzt, da sie hier war, wusste sie nicht mehr, ob sie es tatsächlich durchziehen sollte. Was wollte sie damit bezwecken? Die Beziehung zu ihren Adoptiveltern war wunderbar. Und sie wusste genug über ihre leibliche Mutter, um sich zusammenreimen zu können, warum sie Maddie zur Adoption freigegeben hatte. Julia Winterson war sechzehn gewesen und hatte die Collier Reformatory besucht, ein damals revolutionäres Internat für Mädchen mit Problemen, das inzwischen finanzieller Schwierigkeiten wegen geschlossen war. Julia lebte nun in einem kleinen Ort in North Carolina und nannte ein Lokal ihr Eigen. Sie hatte nie geheiratet und auch keine Kinder mehr bekommen. Von dem Privatdetektiv, den Maddies Eltern auf deren Wunsch angeheuert hatten, stammte das Foto von Julia, auf dem sie hübsch und frisch aussah, auch wenn ihre dunklen Augen ein wenig geistesabwesend wirkten. Maddie hatte mit ihren blonden Haaren und blauen Augen nicht viel Ähnlichkeit mit ihr. Nur die Mundpartie erinnerte entfernt an Julia. Wahrscheinlich, dachte Maddie, kam sie nach ihrem leiblichen Vater, wer der auch immer sein mochte. Sein Name stand nicht auf ihrer Geburtsurkunde. Über ihn konnte nur Julia sie aufklären.
Als sie weiterging, klopfte ihr Herz so laut, dass sie es selbst hörte. Sie hatte fast das große Fenster des Lokals erreicht, als sie erneut stehen blieb, sich an die Ziegelwand daneben lehnte, den Rucksack am Boden abstellte und die Augen mit den Händen bedeckte.
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich.
Und ließ die Hände sinken.
Ihr Blick fiel auf zwei Teenager auf einer Bank. Das Mädchen hatte widerspenstige Haare und war mit Shorts und einem Top bekleidet. Der junge Mann trug einen weißen Leinenanzug und eine rote Fliege. Sie saßen so dicht beieinander, dass ihre Köpfe sich fast berührten, und der Junge strich mit dem Daumen langsam über das Handgelenk des Mädchens. Sie waren ganz in ihrer eigenen Welt versunken. Prinz und Prinzessin in ihrem Reich. Ihr Anblick ließ Maddie schmunzeln.
Sie hoben den Blick, als die Tür des Lokals sich öffnete. Maddie machte große Augen, denn der ältere Mann, der herauskam, musste sich ducken, um sich nicht zu stoßen. Maddie hatte noch nie einen so großen Menschen gesehen.
Die Teenager standen auf, der Riese gesellte sich mit unbeholfen steifen Schritten zu ihnen. Der Junge streckte ihm die Hand hin, und der Riese schüttelte sie. Sie tauschten ein paar Worte, lachten über etwas, dann entfernte sich der junge Mann im weißen Anzug.
Er nickte Maddie mit einem höflichen Lächeln zu, die ihn kurz mit dem Blick verfolgte, bevor sie sich wieder dem Riesen und dem Mädchen zuwandte. Der Riese reichte der jungen Frau eine Papiertüte. Sie nahm sie, und sie gingen weg.
Maddie kam sich vor wie in einem merkwürdigen Märchen, als wäre sie unversehens in das Ende einer Geschichte geraten.
Da öffnete sich die Tür des Lokals abermals, und zwei Männer traten heraus. Silberglitter wirbelte durch die Luft. Sie atmete tief ein. Zucker, Vanille und Butter. Dieser Duft begleitete sie schon ihr ganzes Leben. Manchmal konnte sie ihn sehen wie jetzt, doch meist spürte sie ihn nur. Als Kind hatte er sie bisweilen wie aus dem Nichts überfallen und unerklärlich unruhig gemacht, als sie im Unterricht saß, mit ihrem Hund Chester herumtollte oder mit ihrem älteren Bruder eine langweilige Geigenstunde über sich ergehen ließ. Auch jetzt noch wachte sie gelegentlich mitten in der Nacht auf, weil sie meinte, dass jemand im Haus buk. Ihre Mitbewohner hielten sie deswegen für verrückt.
Die Vertrautheit des Geruchs gab ihr den Mut, ans Fenster zu treten und in das Lokal zu schauen. Obwohl es eher spartanisch eingerichtet war, drängten sich darin die Menschen.
Maddies Blick wanderte zu einer Frau hinter der Theke. Das war sie.
Julia Winterson.
Ihre leibliche Mutter.
Sie unterhielt sich lächelnd mit einem attraktiven blonden Mann auf der anderen Seite der Theke. In der Realität wirkte Julia deutlich glücklicher als auf dem Foto von dem Privatdetektiv, dachte Maddie.
Maddie ging zur Tür, an der sie einen Zettel mit folgendem Text entdeckte:
BLUE-EYED-GIRL-KUCHEN:
Kuchen für jeden Anlass.
Mehr Informationen im Lokal.
Ein Mann, der gerade herauskam, hielt ihr die Tür auf.
»Bereit?«, fragte er.
Das Ende einer Geschichte. Der Anfang einer anderen.
»Ja, ich bin bereit«, antwortete sie und trat ein.