ZWEI

Als Emily mit schweißnasser Stirn aufwachte, fühlte sie sich hundemüde. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Emily setzte sich mit einem Ruck auf und zog die Stöpsel ihres MP3-Players aus den Ohren, bevor sie sich in dem Raum umsah – die Fliedertapete, die abgewohnten Mädchenmöbel. Da fiel es ihr wieder ein: Sie war im früheren Zimmer ihrer Mutter.

Noch nie zuvor hatte sie in einem Raum ein solches Gefühl der Leere verspürt. Obwohl sie wusste, dass ihr Großvater sich unten aufhielt, verunsicherte es sie, das obere Stockwerk für sich zu haben. In der Nacht hatte es lange Zeiten der Stille gegeben, die nur vom lauten Knacken des Holzes im Haus und vom Rascheln des Laubs auf dem Balkon durchbrochen wurden. Irgendwann hatte sie ihren MP3-Player eingeschaltet und sich vorgestellt, an einem weniger schwülwarmen Ort zu sein.

Angst hin oder her: In Zukunft würde sie bei offener Balkontür schlafen. Irgendwann in der vergangenen Nacht hatte sie sich abgedeckt und die Pyjamahose ausgezogen, so dass sie nur noch das Oberteil trug. Ihre Mutter mochte die politisch korrekteste Person der Welt gewesen sein – eine Aktivistin und Umweltschützerin, die sich für die Unterprivilegierten einsetzte –, aber sogar sie hatte die Klimaanlage eingeschaltet, wenn es zu heiß wurde.

Emily trat an die alte Badewanne mit den zwei Hähnen für warmes und kaltes Wasser und drehte sie auf, weil es keine Dusche gab.

Nach dem Baden schlüpfte sie in Shorts und Top und ging nach unten.

Der Zettel an der Innenseite der Fliegenschutztür fiel ihr sofort auf.

Emily, ich habe vergessen, Dir zu sagen, dass ich jeden Morgen zum Frühstücken gehe. Ich wollte Dich nicht wecken. Selbstverständlich bringe ich Dir etwas mit, aber in der Küche findest Du Sachen, die Teenager gern essen.

Opa Vance

Die Notiz war in großen Lettern geschrieben, die über die Linien hingen.

Emily holte enttäuscht Luft. Es war ihr erster Tag hier, und er wollte ihn nicht mit ihr verbringen.

Da hörte sie an der Fliegenschutztür Laub rascheln und entdeckte eine Frau um die dreißig auf den Stufen zur vorderen Veranda. Sie hatte hübsche dunkelbraune Augen und hellbraune Haare, die ihr bis knapp über die Ohren reichten und zu einem schön schwingenden Bob geschnitten waren. Emily, die letztlich dieselbe Frisur wie sie hatte, sah damit nie so aus. Sie versuchte schon seit Ewigkeiten, die Haare lang wachsen zu lassen, schaffte aber nur einen kurzen Pferdeschwanz. Und selbst aus dem lösten sich immer wieder Strähnen und fielen ihr ins Gesicht.

Die Frau begrüßte Emily auf der obersten Stufe mit einem Lächeln. »Hallo! Du musst die Enkelin von Vance sein«, sagte sie und blieb vor der Tür stehen.

»Ja, ich bin Emily Benedict.«

»Ich bin Julia Winterson und wohne da drüben.« Sie drehte den Kopf in Richtung des gelb-weißen Nachbarhauses. Da bemerkte Emily die pinkfarbene Strähne in Julias Haaren, die sie hinters Ohr geschoben hatte. Die überraschte sie bei einer Frau mit so frischem Gesicht, mehlbestäubter Jeans und weißer Bauernbluse. »Ich hab dir einen Apfelschichtkuchen gebacken.« Julia öffnete die weiße Schachtel, die sie in der Hand hielt, und zeigte Emily etwas, das aussah wie große braune Pfannkuchen mit Füllung zwischen den einzelnen Lagen. »Ein Willkommensgeschenk. Mullaby hat seine Schwächen, das hat dir deine Mutter sicher erzählt, aber immerhin gibt es bei uns wunderbares Essen. In der Zeit, die du hier verbringst, wirst du nicht darben müssen.«

Emily wusste nicht, wann sie das letzte Mal auf etwas Appetit gehabt hatte, doch das sagte sie Julia nicht. »Meine Mutter hat mir nichts über Mullaby erzählt«, erklärte sie und schaute den Kuchen an.

»Nichts?«

»Nein.«

Julia wirkte erstaunt.

»Was?« Emily hob den Blick von dem Kuchen.

»Ach, nichts«, antwortete Julia und schüttelte den Kopf, bevor sie den Deckel der Schachtel zuklappte. »Soll ich ihn in die Küche bringen?«

»Ja, gern.« Emily hielt ihr die Fliegenschutztür auf.

Als Julia eintrat, fiel ihr Blick auf den Zettel von Opa Vance. »Vance hat mich gestern Morgen gebeten, mit ihm einkaufen zu gehen, Sachen für dich besorgen«, sagte sie und nickte in Richtung des Zettels. »Seiner Vorstellung nach lieben Teenager Softdrinks, Fruchtbonbons und Kaugummi. Ich habe ihn überredet, Chips, Bagels und Müsli zu kaufen.«

»Das war nett. Ich meine, dass du ihn zum Einkaufen begleitet hast.«

»Als Kind war ich ein großer Fan des Riesen von Mullaby.« Als Emily sie verständnislos ansah, fügte sie hinzu: »So nennen die Leute hier deinen Großvater.«

»Wie groß ist er denn?«, fragte Emily mit gedämpfter Stimme, als hätte sie Angst, dass er sie hören konnte.

Julia musste lachen, ein herzliches, sonnenhelles Lachen. Dass sie mit einem Kuchen gekommen war, passte zu ihr, denn sie wirkte mit ihrem strahlenden Gesicht und der pinkfarbenen Haarsträhne selbst wie aus leichtem, hübsch verziertem Kuchen gemacht, doch was sich im Innern verbarg, blieb ihr Geheimnis.

»Groß genug, um den nächsten Tag zu sehen. Sagt jedenfalls er. Er ist über zwei Meter fünfzig, so viel weiß ich. Einmal sind Leute vom Guinnessbuch der Rekorde hier aufgetaucht, aber Vance wollte nichts mit ihnen zu schaffen haben.«

Julia kannte den Weg in die Küche, und Emily folgte ihr. Die Küche war groß und altmodisch, aus den fünfziger Jahren. Früher musste sie ein Schmuckstück gewesen sein. Das Rot erschlug einen fast – rote Arbeitsflächen, ein rot-weißer Fliesenboden und ein großer roter Kühlschrank mit silberfarbenem Griff. Julia stellte die Kuchenschachtel auf die Arbeitsfläche und drehte sich zu Emily um. »Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich«, stellte sie fest.

»Du hast sie gekannt?«, fragte Emily, erfreut darüber, dass endlich jemand bereit war, sich mit ihr über ihre Mutter zu unterhalten.

»Wir waren in der Schule in derselben Klasse, aber nicht befreundet.« Julia schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans. »Sie hat dir nichts erzählt?«

»Ich wusste, dass sie in North Carolina geboren ist, allerdings nicht, wo. Bis vor Kurzem war mir nicht mal klar, dass ich einen Großvater habe.« Als Julia die Stirn runzelte, erklärte Emily hastig: »Sie hat nie ausdrücklich gesagt, dass ich keinen habe, sondern nur einfach nicht über ihn geredet, und ich dachte, er ist tot. Mom hat nicht gern über früher gesprochen, und das habe ich respektiert. Sie hat immer gesagt, es hätte keinen Sinn, sich mit der unveränderlichen Vergangenheit auseinanderzusetzen, wenn man so viel für die Zukunft tun kann. Sie ist ganz in ihren Projekten aufgegangen.«

»Ihre Projekte?«

»Amnesty International. Oxfam. Greenpeace. The Nature Conservancy. In jungen Jahren ist sie viel gereist. Nach meiner Geburt hat sie sich in Boston niedergelassen und sich dort für alles Mögliche engagiert.«

»Hm. Erstaunlich.«

»War sie hier auch so?«

Julia nahm die Hände aus den Taschen. »Ich geh jetzt mal lieber.«

»Oh«, sagte Emily verwirrt. »Danke für den Kuchen.«

»Gern geschehen. Mein Lokal heißt J’s Barbecue und ist in der Main Street. Dort gibt’s den besten Kuchen von Mullaby. Die Sachen vom Grill schmecken auch gut, aber für die bin ich nicht zuständig. Da ist dein Großvater übrigens gerade. Er geht jeden Morgen zum Frühstücken hin.«

Emily folgte Julia zur Haustür. »Wie komme ich in die Main Street?«

Julia zeigte ihr von der Veranda aus den Weg. »Bieg am Ende der Shelby Road nach links in die Dogwood ab. Nach knapp einem Kilometer gehst du dann nach rechts. Du kannst die Main Street nicht verfehlen.« Als Julia zu den Stufen wollte, hielt Emily sie zurück.

»Moment noch, Julia. Heute Nacht habe ich im Garten hinter dem Haus Lichter bemerkt.«

Julia drehte sich zu ihr. »Du hast die Lichter von Mullaby schon gesehen?«

»Was sind die Lichter von Mullaby?«

Julia kratzte sich am Kopf und schob eine Haarsträhne zurück. »Weiße Lichter, die manchmal durch den Wald und die Felder huschen. Manche behaupten, das seien Geister. Meiner Ansicht nach gehören sie einfach zu den Eigenheiten dieses Orts«, erklärte sie, als gäbe es davon eine ganze Menge. »Wenn du nicht darauf achtest, verschwinden sie wieder.«

Emily nickte.

Julia wandte sich erneut zum Gehen. »Ich bin gleich nebenan, wenn du mich brauchen solltest, jedenfalls die nächsten sechs Monate. Mullaby ist gewöhnungsbedürftig. Ich weiß, wovon ich spreche.«

»Danke.«

Kurze Zeit später beschloss Emily, ihrem Großvater zur Main Street entgegenzugehen und ihn nach Hause zu begleiten. Er hatte so lange allein gelebt, dass er nicht zu wissen schien, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Warte nicht darauf, dass die Welt sich ändert, hatte ihre Mutter oft gesagt, manchmal ein wenig frustriert. Ändere sie selber!

Emily, die nicht die Leidenschaft, den Mut und die Energie ihrer Mutter besaß, fragte sich, ob sie sie enttäuscht hatte. Emily war zurückhaltend, ihre Mutter bedingungslos hilfsbereit. Daraus hatte sich eine seltsame Dynamik entwickelt. Emily hatte ihre Mutter bewundert, obwohl es schwierig war, an sie heranzukommen. Dulcie hatte immer anderen helfen wollen, sich selbst jedoch nie helfen lassen.

Emily fand die Main Street, wie Julia gesagt hatte, leicht. Ecke Dogwood wies ein riesiges Schild darauf hin, dass sie sich nun auf der »Historischen Main Street« befinde. Es handelte sich um eine schöne breite Straße, die sich deutlich von den Wohnvierteln unterschied, durch die sie bis dahin gekommen war. Am vorderen Ende standen Ziegelbauten im pompösen Federal Style, die ohne nennenswerte Gärten davor an den Gehsteig heranreichten. Auf der anderen Seite befand sich ein Park mit einem Musikpavillon, auf dessen Dach eine halbmondförmige Wetterfahne aus Silber prangte. Hinter den Häusern und dem Park wurde die Straße mit Touristenläden und Lokalen kommerziell. Emily zählte sieben Grillrestaurants, und dabei war sie erst auf halber Höhe der Straße. Von ihnen stieg offenbar der süßlich duftende Holzrauch auf, der über dem Ort hing wie ein Schleier.

Die zahlreichen Touristen waren genauso fasziniert von Mullabys altmodischem Charme wie Emily, die J’s Barbecue nirgends entdecken konnte. Sie bekam Panik. In der einen Sekunde war sie noch glücklich und aktiv, in der nächsten hatte sie schreckliche Angst, das Lokal nicht zu finden. Was, wenn Julia sich getäuscht hatte? Was, wenn Opa Vance nicht dort war? Was, wenn sie nicht mehr nach Hause fand?

Ihr wurde schwindlig, sie fühlte sich wie unter Wasser, spürte Druck auf Augen und Ohren und nahm flackernde Leuchtpunkte am Rand ihres Gesichtsfelds wahr.

Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie öfter solche Panikattacken. Es war ihr nicht schwergefallen, sie vor Merry, der besten Freundin ihrer Mutter, bei der sie in den vergangenen vier Monaten gewohnt hatte, zu verbergen. Sie hatte lediglich die Tür zu ihrem Zimmer schließen müssen. Und in der Schule sahen ihre Lehrer einfach weg, wenn sie in der Mädchentoilette auf dem Boden bei den Waschbecken sitzend versuchte, Luft zu bekommen.

Das Ende der Main Street, an dem sich die Geschäfte befanden, war mit Bänken gesäumt. Emily setzte sich, kalten Schweiß auf der Stirn, auf die nächstgelegene. Nein, sie würde nicht in Ohnmacht fallen, dachte sie.

Emily beugte sich vor und senkte den Kopf. Die Länge des Oberschenkelknochens lässt Rückschlüsse zu auf die Körpergröße, fiel ihr plötzlich aus dem Biologieunterricht ein, als ihr Blick auf ihren Oberschenkeln ruhte.

Da kam ein Paar teurer Herrenschuhe vor ihr in Sicht.

Sie hob den Blick. Es war ein junger Mann etwa in ihrem Alter in einem Sommeranzug aus weißem Leinen, die Hände lässig in den Hosentaschen. Er trug eine rote Fliege, und seine dunklen Haare kringelten sich um seinen gestärkten Kragen. Er wirkte auf kultivierte Weise attraktiv, wie aus einem Stück von Tennessee Williams. Plötzlich fühlte sie sich in ihren Shorts und ihrem Top befangen. Verglichen mit ihm sah sie aus, als käme sie gerade aus dem Fitnessstudio.

Er betrachtete sie eine Weile schweigend, bis er schließlich fast ein wenig widerwillig fragte: »Alles in Ordnung?«

Warum nur waren alle ihr gegenüber so reserviert? Sie holte tief Luft. »Ja, danke«, antwortete sie.

»Bist du krank?«

»Mir ist ein bisschen schwindlig.« Als ihr Blick auf ihre Söckchen und Turnschuhe fiel, hatte sie das merkwürdige Gefühl, als gehörten ihre Füße nicht zu ihr. Knöchelsocken sind inakzeptabel. Strümpfe müssen bis zum Knie reichen. So stand es im Handbuch der Roxley School for Girls, an der sie ihre bisherige Schulzeit verbracht und die ihre Mutter mitbegründet hatte, eine Schule, die die Bereitschaft der Mädchen zu politischem und ehrenamtlichem Engagement fördern sollte.

Schweigen. Als sie den Blick wieder hob, war der junge Mann verschwunden. Hatte sie halluziniert? Vielleicht hatte sich ihr Gehirn passend zur Umgebung einen altmodischen Südstaatlerarchetypus ausgedacht. Wenig später spürte sie, wie jemand sich neben sie auf die Bank setzte, und der angenehm frische Geruch von Eau de Cologne stieg ihr in die Nase. Da erschreckte sie das laute Geräusch einer Getränkedose, die geöffnet wurde.

Der junge Mann in dem weißen Leinenanzug, der nun neben ihr saß, hielt ihr eine Dose Cola hin.

»Nimm«, forderte er sie auf.

Sie griff mit zitternder Hand danach und trank einen großen Schluck von dem leicht auf der Zunge brennenden Getränk. Es schmeckte ihr so gut, dass die Dose im Nu leer war.

Emily schloss die Augen und legte die kalte Dose an ihre Stirn. Wann hatte sie das letzte Mal etwas getrunken? Lange bevor sie tags zuvor in Boston in den Bus gestiegen war.

Da hörte sie Papier rascheln.

»Nicht erschrecken«, sagte der junge Mann, und sie spürte etwas sehr Kaltes im Nacken.

Als ihre Hand unwillkürlich nach oben wanderte, ertastete sie die seine.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Eis am Stiel. Das war das Erste, was mir im Laden in die Finger gekommen ist.«

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie vor einem auf altmodisch getrimmten Geschäft mit dem hübschen Namen »Zim’s General Store« saßen. Durch die offene Tür sah Emily die Schokoriegel an der Kasse und eine ganze Wand mit nachgemachten Werbeschildern aus Blech am hinteren Ende.

»Der ist eher für Touristen, deswegen war ich lange nicht mehr drin«, erklärte der junge Mann. »Aber drinnen riecht es immer noch nach Zimt und Bodenpolitur. Wie fühlst du dich?«

Nun wurde ihr bewusst, wie nahe er bei ihr saß, so nahe, dass sie den schwarzen Rand um die efeugrüne Iris seiner Augen erkennen konnte. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, ihn zu spüren, die Energie, die von ihm ausstrahlte wie Wärme von einem Feuer. Er war auf so seltsame Weise attraktiv, dass sie ihn fasziniert anstarrte. Gleichzeitig merkte sie, dass ihre Hand nach wie vor auf der seinen ruhte. Sie zog sie weg und rückte ein Stück von ihm ab. »Wieder gut, danke.«

Er nahm das in Papier gehüllte Eis von ihrem Nacken und hielt es ihr hin, doch sie schüttelte den Kopf. Also wickelte er es achselzuckend aus, biss davon ab, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und betrachtete das Schaufenster des Ladens. Fast wünschte sie sich, sie hätte das leuchtend orangefarbene Eis genommen, das verführerisch kühl aussah.

»Ich heiße Emily Benedict«, stellte sie sich vor und streckte ihm die Hand hin.

Er wandte sich ihr nicht zu und nahm auch nicht ihre Hand. »Ich weiß, wer du bist.« Er biss noch ein Stück von dem Eis ab.

Emilys Hand sank in ihren Schoß. »Ach.«

»Ich bin Win Coffey. Mein Onkel war Logan Coffey.«

Sie sah ihn verständnislos an. Was wollte er ihr damit sagen? »Ich bin gerade erst hergekommen.«

»Deine Mutter hat es dir nicht erzählt?«

Ihre Mutter? Was hatte die damit zu tun? »Was?«

Endlich wandte er sich ihr zu. »Gütiger Himmel! Du weißt es also nicht.«

»Was?«, wiederholte sie verwirrt.

Er musterte sie ziemlich lange. »Nichts«, antwortete er dann, warf das, was von dem Eis noch übrig war, in den Abfalleimer neben der Bank und stand auf. »Wenn du nicht allein nach Hause gehen möchtest, kann ich unseren Fahrer bitten, dich heimzubringen.«

»Ich komme schon zurecht.« Sie hielt die Dose hoch. »Danke für die Cola.«

Er zögerte. »Tut mir leid, dass ich dir nicht die Hand gegeben habe.« Er streckte sie ihr hin. Als sie sie ergriff, war sie erstaunt über die Wärme, die von ihr ausstrahlte. Sie hatte das Gefühl, von ihm umhüllt zu werden. Das war nicht unangenehm, nur seltsam.

Er ließ ihre Hand los, und sie blickte ihm nach, wie er sich entfernte. Seine Haut schimmerte in der morgendlichen Sommersonne, deren gold-orangefarbene Strahlen die Gebäude erhellten.

»Emily?«

Als sie sich umdrehte, sah sie ihren Großvater mit einer Papiertüte in der Hand auf sich zukommen. Die Menschen machten ihm voller Ehrfurcht Platz. Er gab sich Mühe, nicht aufzufallen; seine gewaltigen Schultern waren gebeugt, als wollte er sich kleiner machen.

Sie stand auf und warf die Coladose in einen Recycling-container. Vance blieb vor ihr stehen.

»Was machst du hier?«, fragte er.

»Ich wollte dich abholen und nach Hause begleiten«, antwortete sie.

Wenn sie ein Wort für seine Miene hätte finden müssen, hätte sie sie als »traurig« bezeichnet. Das erschreckte sie.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich wollte nicht …«

»Hast du gerade mit Win Coffey gesprochen?«

»Du kennst ihn?«

Vance blickte den Gehsteig entlang. Im Gegensatz zu ihrem riesigen Großvater konnte Emily Win nicht mehr sehen. »Ja, ich kenne ihn«, sagte er. »Lass uns nach Hause gehen.«

»Tut mir leid, Opa Vance.«

»Du musst dich nicht entschuldigen, Mädchen. Du hast nichts Unrechtes getan. Hier, ich hab dir ein Eiersandwich aus dem Lokal mitgebracht.« Er reichte ihr die Tüte.

»Danke.«

Opa Vance nickte und legte seinen langen Arm um sie, und so gingen sie schweigend nach Hause.