DREI

Weißt du, wer mir heute über den Weg gelaufen ist?«, fragte Win Coffey, der vom großen Wohnzimmerfenster aus beobachtete, wie der graue Himmel das rosige Abendlicht schluckte.

Win hörte das Klacken von Schritten auf dem weißen Marmorboden des Eingangsbereichs, dann sah er in der Fensterscheibe, wie seine Mutter den Raum betrat, gefolgt von Wins kleiner Schwester. Seine Mutter setzte sich neben seinen Vater aufs Sofa, seine Schwester auf die Couch gegenüber.

Wins Vater Morgan faltete die Zeitung, legte sie beiseite, nahm die Lesebrille ab und blickte Win an, nicht seine Frau. Es war lange her, dass Wins Eltern einander richtig in die Augen gesehen hatten. »Wer?«

Pünktlich auf die Minute begannen sich die Jalousien im Wohnzimmer automatisch zu schließen. Win wartete, bis sie ganz zu waren, bevor er sich umdrehte. In dem mit alten Möbeln – Kommoden im Federal Style und geschmackvoll mit blauen und grauen Blumenmustern bezogene Sofas – eingerichteten Raum roch es nach Orangen. Hier veränderte sich nie etwas. »Emily Benedict.«

Morgans Zorn war fast mit Händen greifbar.

Win erwiderte den Blick seines Vaters schweigend. Das hatte er von Morgan gelernt. In letzter Zeit hatten sie ihre Kräfte so oft gemessen, dass sich der Ablauf solcher Auseinandersetzungen allmählich einspielte.

»Win, du weißt, dass mein Bruder noch leben würde, wenn ihre Mutter nicht gewesen wäre«, erklärte Morgan mit belegter Stimme. »Und keiner würde unser Geheimnis kennen.«

»Niemand im Ort hat je ein Wort über diese Nacht verloren«, entgegnete Win ruhig.

»Aber sie wissen es. Wir sind ihnen wehrlos ausgeliefert.« Morgan deutete mit seiner Lesebrille auf Win. »Dich als Angehörigen der ersten Generation, über die alle Bescheid wissen, sollte es besonders wütend machen, dass sie dich mit anderen Augen sehen.«

Win seufzte. Sein Vater würde es nie begreifen. Win war nicht wütend. Wenn er überhaupt etwas empfand, dann eher Frustration. Warum redete niemand darüber, wenn es allgemein bekannt war? Warum blieb seine Familie nachts nach wie vor im Haus? Warum klammerte sie sich an Traditionen, die keinen Sinn mehr ergaben? Falls die Leute Win mit anderen Augen sahen, dann deswegen, nicht dieser Eigenheit der Coffeys wegen, mit der sie nur ein einziges Mal, mehr als zwanzig Jahre zuvor, konfrontiert gewesen waren. Wieso sollten sich die Dinge nicht ändern können? Bisher hatte ja keiner versucht, sie zu ändern.

»Ich glaube nicht, dass Emily etwas weiß«, sagte Win. »Wahrscheinlich hat ihre Mutter es ihr nicht erzählt.«

»Hör auf damit«, warnte sein Vater ihn. »Lass die Finger von Emily Benedict. Ende der Diskussion.«

Eine Frau in weißem Kleid und Schürze betrat den Raum mit einem Tablett, auf dem sich ein silbernes Teeservice befand. Morgan signalisierte Win mit einem Blick, dass er den Mund halten solle. Sie sprachen untereinander kaum darüber – manchmal glaubte Win sogar, dass seine Mutter es ganz vergessen hatte und so glücklicher war – und schnitten das Thema niemals vor der Haushaltshilfe an.

Win ging zu seiner Schwester Kylie, die auf der anderen Seite des Zimmers per Handy eine SMS schickte. Wenn die Dämmerung hereinbrach, kurz vor dem Abendessen, war im Haushalt der Coffeys traditionell Lesezeit. Es handelte sich um eine alte Familientradition, die Hunderte von Jahren zurückreichte und die Nacht strukturierte, in der sie aufgrund ihres Geheimnisses gezwungen waren, drinnen zu bleiben, sogar an lauen Sommerabenden wie diesem. Win, der den Sinn nicht mehr begriff und der das Haus wie eine schwere Last empfand, drängte es hinauszugehen. Er wollte nicht länger herumschleichen, als hätte er etwas zu verbergen.

Win setzte sich neben seine Schwester, die ihn eine ganze Weile ignorierte. In ihrer Kindheit war sie dem fast zwei Jahre älteren Win auf Schritt und Tritt gefolgt. Jetzt, mit beinahe sechzehn, lief sie ihm immer noch nach – ob um ihn zu ärgern oder zu beschützen, wusste er nicht. Sie vermutlich auch nicht. »Provozier ihn nicht«, riet Kylie ihm. »Ich an deiner Stelle würde mich von dem Mädchen fernhalten.«

»Vielleicht möchte ich aber den Feind kennenlernen.« Seine unerwartete Faszination von Emily, von ihren widerspenstigen blonden Haaren, ihrem schmalen Gesicht und Körper, verunsicherte ihn. Am Vormittag hätte er ihre Hand am liebsten nicht mehr losgelassen, weil sie etwas Verletzliches und Weiches hatte. Er hatte den ganzen Tag an sie gedacht. Bestimmt war es mehr als ein Zufall, dass Dulcie Shelbys Tochter gerade zu der Zeit im Ort auftauchte, als er sich kritisch mit dem Lebensstil seiner Familie auseinanderzusetzen begann. Möglicherweise war es ja ein Zeichen.

Ja. Es musste ein Zeichen sein.

»Ich geh heute Nacht wieder raus«, flüsterte er ihr zu. »Sag’s Dad nicht. Und lauf mir nicht nach.«

Kylie verdrehte die Augen. »Warum versuchst du’s immer wieder? Ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, dass es gar nicht so toll ist.«

»Was?«

»Das Normalsein.«

»Julia! Machst du bitte die Tür auf?«, rief Stella am selben Abend von unten, gerade als Julia das zweite Blech Madeleines aus dem Ofen nahm und die Gebäckstücke stirnrunzelnd betrachtete. Wieder nicht richtig gelungen.

»Julia!«, rief Stella noch einmal. »Es ist Sawyer, und ich liege in der Badewanne!«

Julia seufzte. Einmal Sawyer pro Tag reichte. Wenn sie die Zeit in Mullaby unbeschadet überstehen wollte, musste sie ihm aus dem Weg gehen.

Julia wischte sich die Hände an der Jeans ab und stieg mit laut stapfenden Schritten die Treppe hinunter, um Stella zu ärgern, deren Bad sich direkt darunter befand. Durch die dünnen Vorhänge sah sie im Verandalicht die Umrisse einer Gestalt.

Sie holte tief Luft und öffnete die Tür – und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Emily trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Sie trug dieselbe Kleidung wie am Morgen, schwarze Shorts und ein schwarzes Top, und ihre widerspenstigen blonden Haare glänzten im Licht wie Meringues.

»Hallo, Julia«, begrüßte sie sie. »Störe ich?«

»Aber nein.« Julia winkte Emily herein. Als sie Emily gesagt hatte, dass sie sich jederzeit an sie wenden könne, wenn sie etwas brauche, hatte sie nicht gedacht, dass sie das Angebot so schnell annehmen würde. Sie fand die Verlegenheit des Mädchens anrührend. Es war nie leicht, ein Außenseiter zu sein, am allerwenigsten, wenn man diese Rolle nicht selbst gewählt hatte.

»Hübsches Haus«, stellte Emily fest. Stellas Teil des Gebäudes wirkte dank ihrer Mutter, die Innenarchitektin war, warm und freundlich – goldbraune Holzböden, lebhafte Blumenarrangements, Originalkunstwerke und eine gestreifte Seidencouch, auf der niemand sitzen durfte.

»Es gehört nicht mir, sondern meiner Freundin Stella. Ich habe die Wohnung oben.«

Wie aufs Stichwort brüllte Stella: »Hallo, Sawyer! Ich trage nur ein bisschen Badeschaum. Interessiert?«

»Es ist nicht Sawyer«, rief Julia zurück. »Du wartest in der Badewanne auf ihn? Ist das zu fassen? Komm endlich raus, bevor deine Haut schrumpelig wird.«

Emily hob fragend die Augenbrauen.

»Das ist Stella«, erklärte Julia. »Komm, ich zeig dir meinen Teil des Hauses.« Sie ging Emily voran die Treppe hinauf. »Lass mich nur schnell den Herd ausschalten«, sagte sie oben angelangt und betrat das Zimmer, das als Küche diente und in dem Zuckerkristalle und Mehlschwaden in der Luft hingen. Dazu ein eigentümlicher Duft nach karamellisierendem Zucker und abgeriebener Zitronenschale – der Duft der Hoffnung, der Menschen nach Hause lockt.

Das Fenster in dem Raum stand weit offen, weil der Duft mit seiner Botschaft nach draußen dringen sollte.

»Was bäckst du da?«, fragte Emily von der Tür aus, als Julia den Herd ausschaltete.

»Hier probiere ich Rezepte fürs Lokal aus. Meine Madeleines sind noch nicht so, wie ich sie mir vorstelle.« Julia nahm ein Gebäckstück vom Blech. »Siehst du? Madeleines sollten auf einer Seite eine deutliche Wölbung haben. Die da ist zu flach. Ich glaube, ich hab den Teig nicht lange genug im Kühlschrank gelassen.« Sie legte das kleine, weiche Gebäckstück in Emilys Hand. »So servieren die Franzosen Madeleines, mit der runden Seite nach unten, wie ein kleines Boot. In Amerika machen wir es umgekehrt.« Sie drehte die Madeleine herum. »Probier sie ruhig.«

Als Emily ein Stück probierte, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Mit vollem Mund schwärmte sie: »Du bist eine tolle Bäckerin.«

»Übung macht den Meister. Ich backe seit meinem sechzehnten Lebensjahr.«

»Es muss schön sein, eine solche Gabe zu besitzen.«

Julia zuckte mit den Achseln. »Das ist nicht mein Verdienst. Auf die Gabe hat mich jemand gebracht.« Manchmal ärgerte es sie, dieses Talent nicht selbst entdeckt zu haben, und sie musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass es egal war, wie man eine Fähigkeit erkannte; wesentlich war, was man daraus machte. Als Emily sie fragend ansah, sagte sie hastig: »Wie war dein erster Tag in Mullaby?«

Emily verspeiste den letzten Bissen der Madeleine und schluckte, bevor sie antwortete: »Ich bin ein bisschen verwirrt.«

Julia verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit der Hüfte an den alten, olivfarbenen Kühlschrank. »Worüber?«

»Dass meine Mom von Mullaby weggegangen ist. Warum sie den Kontakt mit den hiesigen Leuten nicht aufrechterhalten hat. Hatte sie Freunde? Wie war sie, als sie hier lebte?«

Julia sah sie erstaunt an. Emily musste noch viel über diesen Ort erfahren, über das Chaos, das ihre Mutter angerichtet hatte. Doch Julia wollte nicht diejenige sein, die es ihr erklärte. »Wie gesagt: Ich kannte sie nicht sonderlich gut«, antwortete sie vorsichtig. »In der Schule haben wir in unterschiedlichen Kreisen verkehrt, und ich hatte damals meine eigenen Probleme. Hast du schon mit deinem Großvater über das Thema gesprochen? Den solltest du fragen.«

»Nein.« Emily schob eine Strähne ihrer kurzen, widerspenstigen Haare hinters Ohr. »Er versteckt sich den ganzen Tag in seinem Zimmer. Haben er und meine Mom sich nicht verstanden? Meinst du, sie ist deswegen nicht mehr hierher zurückgekommen?«

»Das glaube ich nicht. Alle mögen Vance. Komm, setz dich.« Julia legte einen Arm um Emilys Schulter und führte sie von der Küche ins Wohn- und Schlafzimmer. Dort befand sich das einzig schöne Möbelstück in ihrer Wohnung, ein königsblaues Zweisitzersofa, das Stellas Innenarchitektenmutter ihr aus ihren Beständen geschenkt hatte. Außerdem gab es einen Fernseher auf einem alten Beistelltischchen und ein wackeliges Bücherregal voller Töpfe und Pfannen, die in der Küche keinen Platz hatten. Julia hatte den größten Teil ihrer Sachen in Baltimore eingelagert, als sie nach Mullaby gekommen war, und nur ihre Kleidung und Küchenutensilien mitgenommen, was die spartanisch eingerichtete Wohnung erklärte.

Als sie sich setzten, sagte Julia: »Deine Mutter war das hübscheste und beliebteste Mädchen der Schule. Ohne dass sie sich groß anstrengen musste. Sie trug die richtige Kleidung, hatte die richtige Frisur. Ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Und sie war in Sassafras, einer Gruppe von Schülerinnen aus wohlhabenden Familien. Zu denen gehörte ich nicht.«

Emily machte große Augen. »Meine Mom war beliebt? Und Opa Vance hatte Geld?«

Es klopfte an der Tür. »Entschuldige mich kurz«, sagte Julia und stand auf. Da sie Stella erwartete, war sie überrascht, als ihr beim Öffnen der Tür der Duft von frisch gemähtem Heu in die Nase stieg und ihr Blick auf Sawyer fiel.

»Pizza«, erklärte er lächelnd. »Komm doch runter.«

Da war definitiv etwas im Busch. Anderthalb Jahre brachte Sawyer Stella nun schon jeden Donnerstagabend Pizza, doch noch nie zuvor hatte er Julia dazugebeten.

»Danke, aber das geht nicht.« Sie trat einen Schritt zurück, um die Tür zu schließen.

»Bist du etwa verlegen?«

»Verlegen? Weswegen?«

»Weil ich jetzt weiß, dass du Kuchen für mich bäckst.«

Sie stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Ich habe nie gesagt, dass ich sie für dich backe. Ich habe gesagt, ich backe sie deinetwegen

»Dann hast du es also tatsächlich gesagt.«

Sie sah ihn an. Ja, das hatte sie. Leider. In der einen Nacht, die sie miteinander gehabt hatten, hatten sie nebeneinander auf dem Football-Feld der Highschool gelegen und zum Sternenhimmel hinaufgeschaut. Er hatte ihr erzählt, wie seine Mutter an Sommernachmittagen Kuchen buk, und egal, wo er sich herumtrieb: Der Duft hatte ihn angelockt. Er hatte ihn gespürt, ihn gesehen.

Kuchen besaßen die Kraft, jemanden anzulocken. Das hatte sie von ihm gelernt.

»Ich glaub, ich habe gesagt, ich backe Kuchen wegen Menschen wie dir«, erklärte sie. »Schließlich bist du mein Zielkunde.«

»Gute Ausrede.«

»Danke.«

Sein Blick wanderte über ihre Schulter. Er war noch nie in ihrer Wohnung gewesen, und sie würde ihn auch jetzt nicht hereinbitten. Sie stammte, anders als Sawyer, nicht aus einer wohlhabenden Familie. Trotzdem waren ihre Sachen in Baltimore auf unkonventionelle Weise hübsch, ihrer jetzigen Persönlichkeit entsprechend. Deshalb wollte sie nicht, dass er ihre Bleibe in Mullaby sah.

»Riecht gut hier oben«, bemerkte er. »Am liebsten würd ich mich in deiner Küche einnisten.«

»Da ist nicht genug Platz. Außerdem backe ich nur am Donnerstag.«

»Ich weiß. Das hat Stella mir gesagt, als du hier eingezogen bist. Warum, meinst du, komme ich immer donnerstags?«

Das überraschte sie. »Ich habe Besuch. Viel Spaß dir und Stella.« Sie schloss die Tür, lehnte sich dagegen, stieß einen tiefen Seufzer aus und lauschte. War er noch da? Endlich vernahm sie leise Schritte.

Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Entschuldigung.«

»Ich kann auch später wiederkommen«, sagte Emily.

»So ein Quatsch.«

»Meine Mom war also beliebt?«

Bevor Julia antworten konnte, klopfte es wieder an der Tür. »Du musst mich noch mal entschuldigen.«

»Wen hast du da drin versteckt?«, fragte Stella, als Julia die Tür öffnete. Stella hatte ein breites, exotisches Gesicht mit Mandelaugen und geraden dunklen Brauen. Sie trug einen Morgenmantel im Kimonostil und die dunklen Haare zu einem Knoten gefasst. Ein paar Strähnen klebten, feucht vom Bad, an ihrem Nacken. »Sawyer sagt, du hast Besuch. Ein Rendezvous? Warum hast du mir nichts davon erzählt? Wer ist der Glückliche?«

»Das geht dich nichts an«, antwortete Julia, immer noch verärgert darüber, dass sie Sawyer die Sache mit den Kuchen verraten hatte. Außerdem fand Julia Stellas Interesse ziemlich unverfroren, nachdem sie drei Jahre zuvor mit Sawyer geschlafen hatte, ohne ihr davon zu erzählen.

Sie schloss die Tür, doch das Klopfen begann sofort wieder – und hörte nicht mehr auf. Wenn Stella sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nur noch schwer davon abzubringen.

»Sie gibt keine Ruhe, bis sie dich kennenlernt«, erklärte Julia Emily. »Ist das okay für dich?«

Emily nickte und folgte ihr in den Flur.

Als Julia die Tür öffnete, sagte Stella gerade: »Ich gehe erst, wenn …« Da fiel Stellas Blick auf Emily, und sie verstummte.

»Das ist Vance Shelbys Enkelin«, stellte Julia Emily vor. »Emily, das ist Stella Ferris.«

Stella verschlug es die Sprache.

»Emily wollte von mir wissen, wie ihre Mutter früher war.«

Stella erholte sich rasch von ihrer Verblüffung. »Schön, dich kennenzulernen, Emily! Sawyer und ich waren mit deiner Mutter befreundet. Komm doch mit runter, Pizza essen. Dann zeige ich dir meine Jahrbücher.«

Emily hüpfte die Treppe hinunter und wirkte plötzlich trotz ihres Erwachsenengesichts und -körpers wie ein kleines Mädchen.

Bevor Stella ihr folgen konnte, packte Julia sie am Ärmel ihres Morgenmantels. »Erwähn nichts von der Geschichte mit ihrer Mutter.«

Stella sah sie fast ein wenig beleidigt an. »Wofür hältst du mich? Ich bin doch kein Unmensch.«

Emily erwartete sie unten. Stella übernahm die Führung und marschierte mit wehendem Morgenmantel in die Küche.

Sawyer schaute, die Hände in den Taschen, aus dem Küchenfenster. Als er sie eintreten hörte, drehte er sich um und runzelte beim Anblick von Emily die Stirn. »Hallo, wer ist denn diese ausgesprochen hübsche junge Dame?«

»Der Besuch von Julia. Das ist Emily, Dulcie Shelbys Tochter«, fügte Stella mit einem vielsagenden Blick hinzu.

»Schön, dich kennenzulernen.« Sawyer streckte Emily die Hand hin. »Lasst uns die Pizza essen, bevor sie kalt wird. Julia?« Sawyer trat an den Küchentisch und zog einen Stuhl für sie heraus, so dass ihr keine andere Wahl blieb, als sich zu setzen.

Stella deckte den Tisch mit Gläsern und Papierservietten. Sie verzehrten die vegetarische Pizza aus der Pappschachtel. Julia versuchte, ihren Teil schnell zu essen, damit sie bald wieder gehen konnte. Sawyer schmunzelte wissend, und Stella schien sich in dem Morgenmantel genauso wohlzufühlen wie in einem Kostüm von Dior. Emily betrachtete die drei fasziniert.

»Sie haben also meine Mom gekannt?«, fragte Emily.

»Ja«, antwortete Stella. »Dulcie und ich waren in einer Gruppe gut befreundeter Mädchen.«

»Sassafras?«, erkundigte sich Emily.

»Ja. Sawyer ist damals mit Holly gegangen und war somit männliches Mitglied ehrenhalber.«

»Mit Julia waren Sie nicht befreundet?«, fragte Emily, Tomatensauce an der Oberlippe.

»Ich war damals mit niemandem befreundet«, erklärte Julia und reichte ihr eine Serviette.

»Warum nicht?«, wollte Emily wissen und wischte sich den Mund ab.

»Das Teenagerdasein ist hart. Den Mädchen von Sassafras schien alles so leichtzufallen. Ich passte nicht zu ihnen.«

»Was hat Sassafras gemacht?«, erkundigte sich Emily. »Gemeinnützige Arbeit? Spendensammeln?«

Stella musste lachen. »Nein, damit hatte unsere Gruppe nichts am Hut. Ich hole mal die Jahrbücher.« Sie warf den abgenagten Rand der Pizza in die Pappschachtel und verließ die Küche. Kurz darauf kehrte sie zurück. »Da wären wir.« Sie legte ein grün-silberfarbenes Buch mit der Aufschrift HEIMAT DER KAMPFKATZEN! vor Emily auf den Tisch und schlug es auf. »Das ist Sassafras, natürlich mit deiner Mutter in der Mitte. Wir haben jeden Morgen vor dem Unterricht auf den Stufen vor der Schule Hof gehalten. Da ist deine Mutter beim Klassentreffen. Und als Königin des Schülerballs. Hier hätten wir Sawyer in der Fußballmannschaft.«

Sawyer schüttelte den Kopf. »Ich hab selten gespielt.«

Stella sah ihn an. »Weil du dir nicht dein hübsches Gesicht ruinieren lassen wolltest.«

»Ist doch nicht die schlechteste Ausrede, oder?«

Stella blätterte weiter. »Und das ist Julia.«

Auf dem Foto saß sie ganz oben auf den Rängen des Football-Stadions und aß ein Sandwich. Julias Stammplatz. Vor dem Unterricht, in der Mittagszeit oder wenn sie Schule schwänzte, manchmal sogar nachts.

»Wie lang deine Haare waren! Und so pink!«, rief Emily aus und nahm das Bild genauer in Augenschein. »Ist das schwarzer Lippenstift?«

»Ja.«

»Damals wusste keiner so recht, was er von Julia halten sollte«, erklärte Stella.

Julia schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich war harmlos.«

»Für andere vielleicht«, murmelte Sawyer, und Julia zog unwillkürlich ihre langen Ärmel ein Stück weiter hinunter.

»Julias Vater hat sie nach unserem zweiten Highschool-Jahr aufs Internat geschickt«, erklärte Stella Emily. »Sie war lange weg. Als sie wiederkam, hat niemand sie mehr erkannt.«

»Ich schon«, widersprach Sawyer.

Stella verdrehte die Augen. »Natürlich.«

Emily blätterte weiter in dem Jahrbuch und hielt jedes Mal inne, wenn sie auf ein Foto ihrer Mutter stieß. »Schaut!«, rief sie aus. »Da trägt Mom ihr Glücksarmband! Das hier!« Emily hob ihr Handgelenk hoch.

Julia streckte, einem plötzlichen Impuls folgend, die Hand aus, um Emily eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Emily schien das nicht zu bemerken, doch Sawyer und Stella sahen sie mit großen Augen an.

»Wer ist denn das bei meiner Mom?« Emily deutete auf einen dunkelhaarigen Jungen in elegantem Anzug mit Fliege. »Er ist auf vielen Fotos mit ihr.«

»Logan Coffey«, antwortete Julia.

»Ach, den hat er gemeint.« Emily lehnte sich zurück. »Ich bin heute einem Win Coffey begegnet, und der hat seinen Onkel Logan Coffey erwähnt. Er schien sich zu wundern, dass ich ihn nicht kenne.«

Oje, dachte Julia. Das wird übel enden.

»War Logan Coffey ihr Freund?«, fragte Emily.

»Das haben wir uns alle gefragt. Er und Dulcie haben es bestritten«, antwortete Julia. »Logan war ein schüchterner, rätselhafter Junge, den deine Mutter aus seinem Schneckenhaus locken wollte.«

»Lebt er noch hier? Könnte ich mit ihm über meine Mom reden?«

Schweigen.

Am Ende fasste Julia sich ein Herz. »Logan Coffey ist schon lange tot.«

»Oh.« Als Emily die veränderte Stimmung bemerkte, schloss sie zögernd das Buch. »Schätze, ich sollte jetzt gehen. Danke, dass ich mir das Jahrbuch ansehen durfte.«

Stella winkte ab. »Nimm’s mit. Das ist alles lange her. Ich brauche keine Erinnerung an diese Zeit.«

»Echt? Danke!« Emily stand auf, und Julia begleitete sie zur Tür und wünschte ihr eine gute Nacht.

Als Julia zu den anderen zurückkehrte, erwartete Stella sie bereits mit in die Hüften gestemmten Händen. »Also, was ist los?«

»Wie meinst du das?«

»Warum verhältst du dich ihr gegenüber so?«

»Wie verhalte ich mich denn?« Julia runzelte die Stirn. »Warum schaust du mich so an?«

»Ich bin überrascht. Du bist nicht gerade für deine mütterliche Art bekannt.« Stella lachte, hörte aber auf, als sie Julias Miene sah.

Das war der Preis, den man zahlte, wenn man mit sechsunddreißig keinerlei Neigung zeigte, sein Leben mit jemandem zu teilen.

»War nicht böse gemeint.« Das wusste Julia. Auch Julias Freunde in Baltimore meinten es nicht böse, wenn sie sagten: Dir ist deine Unabhängigkeit zu wichtig. Oder: Du könntest gar keine Mutter sein, weil du cooler wärst als dein Kind. »Lass uns auf der Veranda ein Gläschen Wein trinken.«

»Nein danke.«

»Julia …«

»Ich weiß, dass hier drin was Süßes versteckt ist«, rief Sawyer aus der Küche, und gleich darauf war das Öffnen und Schließen von Schranktüren zu hören.

Stella verdrehte die Augen. »Vor diesem Mann ist meine Schokolade nirgends sicher.«

»Gib sie ihm, bevor er auch meine Küche auf den Kopf stellt«, bat Julia, als sie sich auf den Weg zur Treppe machte. »Ich muss noch was tun.«

Zu Hause setzte Emily sich auf den Balkon, das Jahrbuch auf dem Schoß. Am Nachmittag war sie in der Hoffnung, einen Hinweis auf ihre Mutter aufzuspüren, den Schrank und sämtliche Schubladen in ihrem Zimmer durchgegangen. Sie hatte das Gefühl, dass alle ihr etwas verheimlichten. Doch als einziges Indiz dafür, dass Dulcie jemals hier gewohnt hatte, fand sie den Namen ihrer Mutter auf dem verstaubten Schrankkoffer am Fußende des Betts. Abgesehen von ein paar Kleidungsstücken hatte sie nichts Persönliches entdecken können. Keine Fotos, keine alten Briefe, nicht einmal einen Ohrring. Deswegen war Emily zu Julia gegangen. Zum Glück, denn das Jahrbuch war ein richtiger Schatz für sie, auch wenn die neuen Informationen sie verwirrten. Die Roxley School for Girls war ohne Kastensystem, Superlative und Wahlen ausgekommen. Wie hatte ihre Mutter in ihrer Jugend Königin des Schülerballs sein können?

Emily hatte nie ins Einkaufszentrum gedurft, weil sie dort möglicherweise der Versuchung erlegen wäre, sich etwas zu kaufen, um die anderen Mädchen zu übertrumpfen. Ihre Mutter hatte immer gesagt, Mode solle bei der Beurteilung des Charakters keine Rolle spielen. Was bedeutete, dass man in Roxley Schuluniformen trug. Doch in dem Jahrbuch hatte ihre Mutter die trendigsten Klamotten der Zeit an, und ihre Haare waren gestylt.

Vielleicht war ihr ihre Jugend peinlich gewesen, und sie hatte gedacht, ihr bodenständiger Ruf könne durch ihre glamouröse Vergangenheit Schaden nehmen.

Was für ein merkwürdiger Grund, nie mehr zurückzukehren, dachte Emily.

Als sie Stimmen von der hinteren Veranda des Nachbarhauses hörte, hob sie den Blick. Frauenlachen. Das Geräusch von Gläsern.

Emily lehnte sich von dem alten Verandatisch, den sie von Laub befreit hatte, zurück. Zwischen den Ästen der Bäume blinkten die Sterne verschwommen wie Christbaumkerzen. Sie war mit zu großen Erwartungen hergekommen. Die Dinge waren nicht perfekt, aber immerhin schienen sie besser zu werden. Sie hatte sich sogar schon mit den Nachbarn angefreundet.

In der süßen, schwülen Abendluft wurde Emily schläfrig, und obwohl sie die Augen nur kurz schließen wollte, döste sie ein.

Als sie aufwachte, war es nach wie vor dunkel. Blinzelnd versuchte sie herauszufinden, wie viel Uhr es war und wie lange sie geschlafen hatte.

Das Jahrbuch war von ihrem Schoß gerutscht. Sie bückte sich mit steifem Rücken danach. Beim Aufrichten prickelte ihre Haut.

Das Licht war wieder da! Das Licht, von dem Julia behauptete, die Leute würden es für einen Geist halten.

Fasziniert beobachtete Emily es am Waldrand jenseits der alten Laube hinter dem Haus. Es verschwand nicht wie in der Nacht zuvor, sondern huschte von Baum zu Baum und hielt dazwischen inne.

Beobachtete es sie?

Sie schaute zum Nachbarhaus hinüber. Dunkel. Also bemerkte niemand außer ihr das Licht.

Emily wandte sich wieder dem Licht zu. Was war das?

Sie stand auf, ging in ihr Zimmer, legte das Jahrbuch aufs Bett und lief mit nackten Füßen, die auf dem Holzboden ein tappendes Geräusch verursachten, hinunter. Auf der Treppe wurde sie einen Moment langsamer, um Opa Vance nicht zu wecken, und beschleunigte ihre Schritte draußen wieder.

Das Licht war noch da! Sie folgte ihm in den bewaldeten Bereich hinter der Laube. Als es sich hastig entfernte, hörte sie Schritte im Laub.

Geister und Schritte?

Nachdem sie dem Licht fünf Minuten lang durch den nur vom Mond erhellten Wald nachgelaufen war, die Hände zum Schutz vor herabhängenden Ästen vor dem Gesicht, wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand oder wo dieser Wald endete. Als das Licht verschwand, bekam sie es mit der Angst zu tun. Doch ein paar weitere Schritte führten sie zwischen den Bäumen heraus. Emily blieb keuchend stehen, hob einen Fuß und bemerkte Blut daran. Sie hatte sich an der Ferse verletzt.

In der Stille hörte sie das Zuschlagen einer Tür.

Emily hob den Blick und schaute sich um. Sie befand sich an dem Ende der Main Street mit den Wohnhäusern, in dem Park gegenüber den alten Ziegelgebäuden. Der Wald hinter Opa Vance’ Haus endete offenbar bei dem Musikpavillon mit der halbmondförmigen Wetterfahne. Emily blickte die Straße entlang und wieder in den Wald. Sie hatte das Licht doch hier verschwinden sehen, oder?

Als sie durch den Ort zurück nach Hause humpelte, schwirrte ihr der Kopf. Hatte sie wirklich gerade mitten in der Nacht im Wald einen angeblichen Geist verfolgt? Sie?

Hinter Opa Vance’ Haus entdeckte sie einen Lichtschimmer.

Das Verandalicht brannte.

Anscheinend hatte Opa Vance sie hinausrennen hören und wartete auf sie. Sie seufzte. Man musste also in der Nacht herumlaufen, um ihn aus seinem Zimmer zu locken. Wie sollte sie ihm ihren Ausflug erklären? Auf der Veranda vor der Küche wäre sie fast über etwas gestolpert.

Emily bückte sich und hob eine Packung Pflaster auf.

Da hörte sie in der Stille das Rascheln von Blättern, und als sie sich umdrehte, sah sie das weiße Licht wieder im Wald verschwinden.

Schon bald sollte sie herausfinden, dass Opa Vance von alldem nichts mitbekommen hatte.