SECHS

Da Emily am Nachmittag nichts Besseres zu tun und niemanden zum Reden hatte – Opa Vance war wieder einmal in seinem Zimmer und Julia nicht zu Hause –, begann sie zu putzen. Sie staubte ab, bis sie wie mit Raureif überzogen aussah. Als Erstes machte sie in ihrem Zimmer alles bis auf den Kronleuchter sauber, zu dem sie nicht hochkonnte, weil sie keine Leiter fand, und öffnete dann in den anderen Räumen die Jalousien, so dass Licht in Ecken drang, die lange keine Sonne mehr gesehen hatten. Anfangs war es noch ein Abenteuer – die Jagd nach dem nächtlichen Licht hatte ihre Neugier geweckt –, das Unbekannte und die Geschichte des Hauses zu erforschen. Doch schon bald wurde ihr klar, dass es sich um eine traurige Geschichte handelte. Es gab ein Zimmer, das wohl einmal einem kleinen Jungen gehört hatte. Die Tapete war mit blauen Segelbooten geschmückt und das Bett mit einem Sicherheitsgitter versehen. Vielleicht war das das Kinderbett von Opa Vance gewesen. Oder hatte er einen Bruder? Wenn ja, was war aus ihm geworden? Außerdem entdeckte sie einen Raum mit einem Bett, doppelt so lang wie normal, und einem Frisiertisch. Offenbar hatte Opa Vance dieses Zimmer mit seiner Frau geteilt. Wo war sie? Und wo waren all die Leute, die einmal hier gewohnt hatten?

Emily beschlich ein klaustrophobisches Gefühl. Sie wäre gern Teil der Geschichte dieses Orts gewesen, aber ihre Mutter hatte ihr nichts darüber verraten. Warum?

Sie trat auf den Balkon ihres Zimmers, um frische Luft zu schnappen, wirbelte das Laub mit den Füßen auf, beschloss, es zu beseitigen. Sie fegte es zu einem Haufen zusammen, stellte den Besen weg und warf einen Armvoll über das Geländer. Die Blätter rochen mulchig und sahen aus wie aus Bastelpapier herausgeschnitten. Emily warf eine zweite Ladung Blätter hinunter. Als sie ihnen nachschaute, entdeckte sie jemanden auf den Stufen zur vorderen Veranda.

»Julia!«, rief sie hinunter. »Hallo!«

Julia hob, Blätter in den Haaren, den Kopf und erwiderte lächelnd ihre Begrüßung. »Dir ist langweilig, was?«

»Schön, dass du da bist! Ich muss dir was erzählen.«

Emily rannte begeistert zu Julia hinunter, die mit zwei großen braunen Papiertüten auf dem Arm und Laub im Haar auf der Veranda wartete.

»Heute Nacht hab ich das Licht wieder gesehen!«, berichtete Emily aufgeregt. »Das ist kein Geist, Julia. Ich bin ihm nachgelaufen, und ich habe Schritte gehört.«

Zu Emilys Verwunderung reagierte Julia bestürzt. »Du bist ihm nachgelaufen?«, wiederholte sie.

»Ja.«

»Emily, bitte tu das nicht«, sagte Julia mit sanfter Stimme. »Die Lichter von Mullaby sind harmlos.«

Bevor Emily fragen konnte, warum Julia nicht überrascht war, knarrte die Fliegenschutztür hinter ihr, und Opa Vance duckte sich darunter durch.

Er trug andere Kleidung als am Morgen, als hätte er unterschiedliche Sachen für den Vormittag, den Nachmittag und den Abend. Emily hatte nach der Jagd auf das Licht kaum geschlafen und vorgehabt, ihn wieder vom Lokal nach Hause zu begleiten. Doch dann hatte Win sie abgelenkt. Anschließend war sie heimgegangen und hatte dort auf Opa Vance gewartet, der sich jedoch gleich in sein Zimmer verkroch, nachdem er ihr ein Eiersandwich auf die Arbeitsfläche in der Küche gelegt hatte.

»Julia«, sagte er. »Hab ich mich also doch nicht getäuscht. Ich hab deine Stimme gehört.«

»Ich hab euch was mitgebracht.« Julia gab Vance die Tüten, die sie in der Hand hielt. Er strahlte, als hätte sie ihm den Heiligen Gral überreicht. »Bei der Hitze wollt ihr wahrscheinlich nicht selber kochen. Vielleicht könntet ihr zwei miteinander essen«, schlug sie mit einem vielsagenden Blick in Richtung Emily vor. Diese wusste ihre Bemühungen zu schätzen, glaubte aber nicht, dass sie etwas fruchten würden.

Doch zu ihrer Überraschung steckte Opa Vance die Nase sofort in die Tüten. »Du kannst dich auf was freuen, Emily! Julia macht die besten Grillgerichte im Ort. Das liegt an ihrer Räucherkammer. Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Leistest du uns Gesellschaft, Julia?«

»Nein danke. Ich muss weiter.«

»Du bist wirklich eine tolle Nachbarin. Danke.« Vance ging ins Haus und ließ Emily mit Julia auf der Veranda zurück.

»Das war das erste Mal, dass er seit heute Morgen aus seinem Zimmer gekommen ist«, erklärte Emily erstaunt.

»Mit Sachen vom Grill kann man ihn immer locken.«

»Das muss ich mir merken.«

»Hättest du Lust, am Samstag mit mir zum Piney Woods Lake zu fahren?«, fragte Julia. »Das ist im Sommer der Treffpunkt für junge Leute wie dich. Vielleicht lernst du da ein paar von deinen künftigen Mitschülern kennen.«

Es war ein schönes Gefühl, einbezogen zu werden. Die alten Damen am Morgen hatten sich bestimmt getäuscht. Emily passte durchaus hierher. »Ja, gern.«

»Prima. Dann bis morgen. Und red jetzt mit deinem Großvater.« Ohne ein weiteres Wort über die Lichter zu verlieren, verabschiedete sich Julia mit einem Winken von ihr und lief die Verandastufen hinunter.

Emily ging ins Haus zurück. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, in ihr Zimmer zu gehen und Opa Vance in Ruhe essen zu lassen, doch dann beschloss sie, noch einen Versuch zu starten. In der Küche hörte sie, wie sich die Tür des Wäschetrockners schloss, und sah Vance aus dem Waschraum kommen. Er hatte wieder in den Trockner geschaut. Emily fand das merkwürdig, weil der Reinigungsdienst am Nachmittag einen großen Sack Schmutzwäsche abgeholt hatte.

Als Vance sie bemerkte, hielt er inne. »Emily.« Er räusperte sich. »Hat sich die Tapete in deinem Zimmer schon verändert?«

»Verändert?«, fragte sie verwirrt.

»Das macht sie manchmal. Von selber.«

Es klang, als würde er mit einem kleinen Kind reden: Der Mond ist aus Käse. Eine Sternschnuppe – wünsch dir was. In deinem Zimmer befindet sich eine magische Tapete. Wahrscheinlich war sie für ihn ein kleines Mädchen, dachte Emily, und er wollte ihr ein Lächeln entlocken. »Nein, sie hat nach wie vor das Fliedermuster. Aber ich behalte sie im Auge«, versprach sie.

Er nickte mit ernster Miene. »Gut.«

Emily sah, dass er die Tüten auf den Tisch in der Frühstücksnische gestellt hatte. »Willst du gleich essen?«, fragte sie.

»Ja, schon«, antwortete er. »Leistest du mir Gesellschaft?«

»Wenn du nichts dagegen hast.«

»Aber nein. Setz dich.« Er nahm Teller und Besteck aus den Schränken und deckte den Tisch. Dann setzten sie sich und leerten die Tüten, in denen sich Styroporbehälter unterschiedlicher Größe, Hamburger-Brötchen und zwei Stück Kuchen befanden.

Vance öffnete die Behälter ungeschickt mit seinen langen Fingern, die ein wenig zitterten.

»Was ist das?«, fragte Emily nach einem Blick in den größten Behälter.

»Grillfleisch.«

»Das ist doch nichts vom Grill«, widersprach Emily. »Vom Grill kommen Hotdogs und Hamburger.«

Vance lachte. »Ha! Das ist Blasphemie! In North Carolina grillt man Schweinefleisch, Mädchen. Hotdogs und Hamburger auf dem Grill, das heißt bei uns ›draußen kochen‹«, erklärte er ungewöhnlich lebhaft. »Es gibt zwei Arten von Barbecuesauce in North Carolina – Lexington und Eastern North Carolina. Schau.« Er holte einen Behälter mit Sauce aus der Tüte, um sie ihr zu zeigen, und verschüttete dabei etwas auf den Tisch. »Lexington ist eine süße Sauce auf Zucker-Tomaten-Basis; manche sagen rote Sauce dazu. Julias Lokal ist auf den Lexington-Stil spezialisiert. Aber wir haben auch jede Menge Lokale im Eastern-North-Carolina-Stil. Die verwenden eine dünne, scharfe Sauce auf Essig-Pfeffer-Basis. Egal, in welchem Stil gekocht wird: Maisküchlein und Krautsalat gibt’s überall. Wenn ich mich nicht täusche, ist das Milky Way Cake. Julia bäckt den besten Milky Way Cake der Gegend.«

»Wie der Schokoriegel?«

»Ja. Die Schokoriegel kommen geschmolzen in den Teig. Das ist ein Willkommenskuchen.«

Emily schaute zu dem Kuchen auf der Arbeitsfläche, den Julia am Morgen des vergangenen Tages gebracht hatte. »Ich dachte, Apfelschichtkuchen bedeutet ›Willkommen‹.«

»Jeder Kuchen bedeutet ›Willkommen‹«, erklärte er. »Außer Kokoskuchen. Kokoskuchen und Brathähnchen bringt man bei Todesfällen.«

Emily sah ihn fragend an.

»Manchmal auch eine Brokkolikasserolle«, fügte er hinzu.

Emily verfolgte, wie Vance mit der Gabel geschnetzeltes Grillfleisch aus dem Behälter auf die untere Hälfte des Hamburger-Brötchens legte, Sauce und Krautsalat sowie die obere Hälfte des Brötchens daraufgab und Emily alles auf einem Teller reichte. »Ein Grillsandwich im North-Carolina-Stil.«

Emily bedankte sich. Vance war wirklich ein netter Kerl. Sie war gern mit ihm zusammen, weil er ihr das Gefühl vermittelte, dass es auf der Welt wichtigere Probleme als die ihren gab. »Ich finde es nett von Julia, die Sachen zu bringen.«

»Julia ist ein wunderbarer Mensch. Ihr Vater wäre sehr stolz auf sie gewesen.«

»Ich habe ihr von den Mullaby-Lichtern erzählt«, sagte Emily. »Die habe ich in der Nacht gesehen.«

Vance verharrte in der Bewegung. »Tatsächlich? Wo?«

»Im Wald hinter dem Haus«, antwortete sie und nahm ihm den Behälter aus der Hand.

»Ich möchte dich während deiner Zeit hier nur um eines bitten, Emily«, erklärte er mit ernster Miene. »Halte dich von ihnen fern.«

»Meiner Ansicht nach ist das kein Geist. Da schleicht jemand herum, der etwas vorhat«, entgegnete sie.

»Glaub mir, hier hat niemand was vor.«

Obwohl durch ihre Mutter an hitzige Debatten gewöhnt, war Emily kein streitlustiger Mensch. Doch nun musste sie sich sehr zurückhalten, um Opa Vance nicht zu sagen, dass ihr die Sache mit dem Pflaster auf der Veranda sehr nach einem Plan aussah.

»Deine Mutter hat als kleines Mädchen genauso dreingeschaut wie du jetzt«, bemerkte er. »Sie war ein richtiger Sturkopf, meine Dulcie.« Er wandte den Blick ab, als hätte er zu viel verraten. Plötzlich war da wieder diese merkwürdige Unsicherheit.

Emily spielte mit den Maisküchlein auf ihrem Teller. »Warum willst du nicht über sie reden?«

Nach wie vor ohne ihr in die Augen zu sehen, antwortete er: »Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll.«

Emily nickte, obwohl sie nichts begriff. Vielleicht war seine Trauer wie alles an ihm übergroß. Vance’ Beziehung zu seiner Tochter musste kompliziert gewesen sein. Die Beziehungen ihrer Mutter zu Menschen hatten sich samt und sonders komplex gestaltet, weil sie niemanden wirklich an sich heranließ. Mit ihrem Temperament und ihrer Launenhaftigkeit war sie flüchtig gewesen wie der Duft von Parfüm. Um ein wenig davon zu erschnuppern, musste man Geduld haben. Und leider verflog er schnell wieder.

Emily würde ihn nicht drängen und versuchen, sich von seiner ausweichenden Art nicht verletzen zu lassen. Schließlich hatte er sie bei sich aufgenommen, und dafür war sie dankbar. Sie würde sich bemühen, von Leuten im Ort etwas über ihre Mutter zu erfahren. Vielleicht gelang es ihr, andere Mitglieder von Sassafras ausfindig zu machen oder Win Coffey nach der Beziehung seines Onkels zu ihrer Mutter zu fragen. Er hatte ihr ja versprochen, ihr bei ihrem nächsten Treffen mehr über ihre gemeinsame Vergangenheit zu erzählen.

Emily freute sich schon auf Win.

Sie aßen schweigend. Nach dem Essen schaute Opa Vance wieder in den Wäschetrockner, fand auch diesmal nichts darin und zog sich in sein Zimmer zurück. Emily hingegen ging nach oben und fegte weiter, bevor sie sich auf den Balkon setzte und auf die Lichter wartete.

So endete ihr zweiter Tag in Mullaby.

Später am Abend, als Vance sich aus seinem Zimmer schlich, um vor dem Schlafengehen ein letztes Mal in den Wäschetrockner zu schauen, blickte er die Treppe hinauf. Von oben hörte er keine Schritte und auch kein Fegen mehr. Emily lag wohl schon im Bett.

Merkwürdig, dachte er, wieder jemanden im Haus zu haben. Er hatte fast vergessen, wie das war. Emily veränderte die Luft, versetzte sie in Schwingungen, als würde irgendwo in der Nähe Musik gespielt, die er eher erspürte als hörte. Es erstaunte ihn, dass sie ihn zu ergänzen schien, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Gebraucht zu werden war so ähnlich, wie so groß zu sein – es wurde nur zum Problem, wenn andere Menschen da waren.

Vance hatte im Kindergarten alle überragt. Dort war ihm seine Größe zum ersten Mal bewusst geworden. Bis dahin war er, obwohl eindeutig hochgewachsen für sein Alter, das kleinste Mitglied seiner Familie gewesen. In der Schule neckten ihn die Kinder anfangs noch, doch irgendwann merkten sie, dass es keine gute Idee war, jemanden zu provozieren, der sie problemlos umpusten konnte.

Vance hatte als einziger Verbliebener der Shelbys das Familienvermögen geerbt. Er wusste, dass ihm dieses Erbe und der Name der Shelbys eigentlich nicht zustanden. Es hätte Geschwister geben müssen, die Großes leisteten, normale Kinder. Und eine Weile hatten die auch existiert. Aber seine ältere Schwester, für die die Tapete in ihrem Zimmer immer aus pinkfarbenen Bonbonringeln bestanden hatte, war mit sieben Jahren im Piney Woods Lake ertrunken und sein kleiner Bruder mit sechs bei einem Sturz aus dem Baumhaus im Garten gestorben. Danach hatten seine Eltern erfolglos versucht, weitere Kinder zu bekommen. Nur Vance war ihnen geblieben. Vance, der so groß war, dass er im See stehen und somit nicht darin ertrinken konnte. Vance, dessen Arme bis zu den Ästen in den Bäumen reichten, so dass er niemals hinaufklettern musste und nicht herunterfallen konnte.

Seine Eltern waren gestorben, als er etwas über zwanzig gewesen war. In ihren letzten Minuten hatte er geglaubt, Enttäuschung in ihren Gesichtern zu lesen. Ihr gesamtes Erbe würde an den Riesen gehen. Was sollte Vance damit anfangen?, hatten sie vermutlich gedacht. Er würde nie heiraten. Wer würde ihn schon wollen?

Er war zweiunddreißig gewesen, hatte allein gelebt und sich kaum jemals aus dem Haus gewagt, als er Lily kennenlernte. Sie war mit den Sullivans am anderen Ende der Straße verwandt und eines Wochenendes von der State University zu Besuch bei ihnen. Wäre sie eine Farbe gewesen, hätte er sie als Leuchtend-Grün bezeichnet. Und sie hätte nach frischem Papier gerochen. Sie war selbstbewusst und intelligent und fürchtete sich vor nichts. Die Sullivan-Jungs, die als Mutprobe Bälle in den Garten des Riesen von Mullaby warfen, erzählten ihrer Cousine von Vance. Lily war entsetzt und zog sie an den Ohren die Stufen seiner Veranda hinauf, damit sie sich entschuldigten. Als Vance die Tür öffnete, war sie so verblüfft, dass sie die Jungen losließ, die sofort wegrannten. Weil Lily Stunden später immer noch nicht zu Hause war, erzählten sie ihrer Mutter, der Riese von Mullaby habe sie gefressen. Und als diese hinüberging, saßen Lily und Vance auf den Stufen zur vorderen Veranda und tranken lachend Eistee. Da die Mutter der Jungen ahnte, dass da etwas Wunderbares im Gange war, entfernte sie sich. Niemand hatte Vance je so zum Lachen gebracht.

Nach Lilys Uniabschluss heirateten Vance und Lily, und Lily unterrichtete die zweite Klasse der Grundschule von Mullaby, bis sie mit Dulcie schwanger wurde. Es war eine glückliche Zeit. Lily lockte ihn aus dem Haus, ging mit ihm einkaufen, ins Kino oder zu Baseballspielen. Die Leute waren immer nur neugierig auf ihn gewesen, weil er sich verkroch. Sobald er sich ihnen zeigte, hatten die Bewohner von Mullaby keine Probleme mehr, ihn zu akzeptieren. In einem Ort voller Absonderlichkeiten war er nur eine von vielen Merkwürdigkeiten. Für diese Erkenntnis war Vance so dankbar, dass er Geld für Spielplätze, Kriegsdenkmäler und Stipendien spendete.

Lilys Tod hätte ihn vor Kummer fast selbst ins Grab gebracht. Dulcie war damals zwölf. Es schien, als hätte sich eine Schneedecke über ihre Welt gelegt und alles erkalten und verstummen lassen. Nur Vance’ Erinnerung an Lilys leuchtend grüne Aura, ihre Lebensfreude und Intelligenz sowie ihr Urvertrauen, besonders in ihn, hielt ihn am Leben. Wie Dulcie das überstand, wusste er nicht. Und das bedauerte er.

Vance glaubte, dass ein Mensch so etwas nur einmal überstehen konnte.

Dann erfuhr er vom Tod seiner Tochter.

Als Dulcies Freundin Merry ihm am Telefon mitteilte, dass Dulcie einen Autounfall gehabt habe, brachte Vance kein Wort heraus. Er legte auf und schlich zu Dulcies altem Zimmer hinauf. Eine ganze Woche lang war er nicht in der Lage, wieder hinunterzugehen. In der Zeit wurde die Tapete dort grau und feucht wie der Himmel bei einem Gewitter. Am liebsten wäre er selbst gestorben. Welchen Grund hatte er denn noch weiterzuleben? Er hatte alles, was ihn in dieser Welt verankerte, verloren.

Als seine Nachbarin Julia ihn schließlich fand, hatte er so lange nichts gegessen, dass sie ihn stützen musste. Er verbrachte eine Woche im Krankenhaus, wo seine Beine über das Fußende des Betts hinausragten und sie drei Laken benötigten, um ihn zuzudecken.

Bei seiner Heimkehr aus dem Krankenhaus waren mehrere Nachrichten von Merry auf dem Anrufbeantworter. Dulcie habe eine Tochter, teilte sie ihm mit, die eine Bleibe brauche. Merry selbst könne sie nicht bei sich aufnehmen, weil sie zurück nach Kanada gehe.

Er hatte sein Leben lang nur reagiert. Seine Körpergröße machte ihn scheu, das war sein Grundproblem. Seine Eltern hatten ihm ein Vermögen hinterlassen. Seine Frau war zu ihm gekommen. Lily hatte sich immer um alles gekümmert. Und Dulcie war seit ihrem zwölften Lebensjahr im Wesentlichen auf sich gestellt gewesen. Jetzt musste er selbst die Initiative ergreifen.

Bisher hatte er sich im Umgang mit Emily nicht allzu geschickt angestellt. Dulcie hatte Emily nichts über Mullaby erzählt, über das, was geschehen war, und Vance fürchtete, ihr etwas zu verraten, was Dulcie ihrer Tochter verheimlichen wollte. Bei ihrem Abschied hatte Dulcie ihm das Versprechen abgenommen zu schweigen. Red nicht darüber, hatte sie gesagt. Dann gerät es vielleicht in Vergessenheit. Er hatte seine Tochter auf so vielfältige Weise im Stich gelassen, dass er entschlossen war, wenigstens in dieser Sache Wort zu halten. Und das hatte er zwanzig Jahre lang getan. Jetzt wusste er nicht, was er machen sollte. Emily zog bereits die Lichter von Mullaby an. Sie erwartete Antworten.

Er ging im Dunkeln in die Küche. Doch statt wie üblich im Waschraum einen Blick in den Trockner zu werfen, öffnete er die hintere Tür. Und wie Emily gesagt hatte, sah er am Waldrand ein Licht, das sich nicht bewegte, als beobachtete es das Haus.

Vance trat auf die Veranda. Sofort verschwand das Licht. Als er ein Seufzen, dann Schritte auf dem Balkon über sich hörte, verließ er die Veranda und schaute hinauf.

Emily starrte von oben hinüber in den Wald.

Da sie ihn nicht bemerkte, entfernte er sich leise.

Er würde seinen Fehler von damals nicht wiederholen.