Füllhorn der Träume
Grelle violette Funken stoben zum Nachthimmel auf, als Fi das letzte der alten Zauberbücher gemeinsam mit der Marionette des Minnesängers auf den brennenden Holzstoß warf. Die Flammen leckten über Holz und Buchseiten, die in der Hitze grässlich zu quietschen begannen. Fi lief ein Schauer über den Rücken. Das Geräusch klang wie dünne Schreie, die allmählich verwehten.
»Von Murguraks Büchern wird nie wieder eine Gefahr ausgehen«, sagte sie mit eisiger Stimme. »Und auch nicht von den Marionetten.« Sie starrte finster auf den großen Haufen verkohlter Bücher und Gliederpuppen, von denen sie unter Tandarins Protest so viele mitgenommen hatte, wie sie tragen konnte. Auch den Rest würde sie verbrennen, sobald sie Zeit dazu fand. »Wenn wir aufbrechen, werde ich die Asche im Meer verstreuen.«
Fi konnte immer noch nicht fassen, dass sich ausgerechnet ein Elf der Finsternis verschrieben hatte. Andererseits hatten sie mit Tandarin einen Kronzeugen der eintausend Jahre zurückliegenden Schattenkriege aufgespürt. Ob ihnen seine Kenntnisse dabei helfen würden, Morgoya zu bekämpfen? Bevor die Nebelhexe in Erscheinung getreten war, galt Murgurak der Rabe als Inbegriff des Bösen. Der Schwarzmagier hatte einst einen ganzen Kontinent ins Unglück gestürzt und Fi war sicher, dass sich die Nebelkönigin Morgoya an ihm ein Beispiel nahm. Tandarin war also gewissermaßen mit dafür verantwortlich, dass die Elfen Albions heute ihrer Auslöschung entgegenblickten. Das würde sie ihm nie verzeihen.
»Ich helfe dir«, sagte Nikk leicht ungeduldig. »Aber dann machen wir uns endlich auf den Weg zur Grotte.«
Fi blickte hinaus auf den See. Die Wasseroberfläche glitzerte im Feuer, das sie am Ufer entfacht hatten, und noch immer schallte aus der Ortschaft muntere Festtagsmusik herüber.
»Müsste Tandarin nicht längst eine Puppe von Finsterkrähe angefertigt haben, wenn die beiden so verfeindet sind?«, fragte sie, ohne auf Nikks Einwand einzugehen. »Ich hätte das an seiner Stelle getan.«
»Ja, vielleicht.« Nikk zuckte die Schultern. »Aber wenn Morbus Finsterkrähe von Tandarin ausgebildet wurde, versteht er sich vielleicht ebenfalls auf die Kunst des Marionettenbaus. Und dann weiß er womöglich auch, wie man den Zauber umgeht.«
»Und was nutzt es uns dann, wenn Tandarin jetzt eine Marionette von Finsterkrähe anfertigt?«
»Du kannst Fragen stellen«, schimpfte der Meermann. »Dystariel wird schon dafür sorgen, dass er sich Mühe gibt. Jetzt müssen wir los!«
Fi war noch immer nicht wohl bei dem Gedanken an ihr Vorhaben. »Aber vorher werde ich auch das hier vernichten.« Wütend warf sie Tandarins Narrenstab ins Feuer. Der verdrehte Stab mit den Bändern und dem Harlekinkopf landete in den Flammen und abermals wirbelten Funken empor. Doch zu Fis Ärger bot der Stab den Flammen ebenso wenig Nahrung wie die verzauberten Buchschlösser aus Mondeisen. So wie sie lag er unberührt in der Glut, nicht einmal die Bänder wurden versengt.
»Das habe ich befürchtet«, seufzte Nikk. »Ein Zauberstab lässt sich nicht so leicht zerstören. Wir werden uns später darum kümmern, in Ordnung? Das Füllhorn ist erst einmal wichtiger.« Er reichte Fi die Hand.
»Warte.« Mit einem Stock schob sie den Narrenstab und die Buchschlösser aus den Flammen. Die verzauberten Mondeisenobjekte verbarg sie unter einer Lage Erdreich, das sie rasch wieder feststampfte. Tandarins Zauberstab verpasste sie einen Tritt, sodass er unter die Bühne rollte. Dort würde er hoffentlich nicht so schnell gefunden werden. Anschließend ließ sie sich von Nikk zum Wasser führen.
»Bist du bereit?«, fragte der Meermann. Fi nickte und schloss die Augen. Nikk umfasste liebevoll ihren Kopf und küsste sie. Es war wie vor wenigen Tagen im Meer. Fi spürte im ganzen Körper ein berauschendes Prickeln. Ohne sich dessen bewusst zu sein, drängte sie sich gegen Nikks muskulösen Leib und gab sich seinen Lippen hin. Er schmeckte köstlich nach Meerschaum. Ihre Hände wühlten sich wie bei einer Ertrinkenden in seine Haare und sie erwiderte den Kuss immer leidenschaftlicher. Die Berührungen seiner Hände auf ihrer erhitzten Haut fühlten sich wie kühle Gischtspritzer in einer heißen Sommernacht an. Fi vergaß alles um sich herum – bis sich Nikk ihr plötzlich entzog.
Aufgewühlt öffnete Fi die Augen und begriff erst jetzt, dass Nikk sie längst ins Wasser gezogen hatte. Über ihnen glitzerte die Oberfläche des Sees im ersterbenden Schein des Feuers und sie atmete das Wasser wie Luft. Nikk hatte wieder seine Meermanngestalt angenommen und befand sich unmittelbar vor ihr. Die Kiemenspalten hinter den Ohren öffneten und schlossen sich ruhig und zärtlich streichelte er mit dem Daumen über Fis Lippen.
Solltest du dich dazu entschließen, mit mir zu kommen, erklang seine Stimme in ihrem Kopf, könntest du das jeden Tag haben.
Ich denke darüber nach, antwortete Fi aufgewühlt. Nikks Nähe fühlte sich gut an. Am liebsten hätte sie sich ihm noch einmal an den Hals geworfen. Sollte er je sein Versprechen vergessen und sie endgültig mit seinem Meermanncharme bezirzen, wäre sie verloren. Sie würde ihm vermutlich bis in den Schlund eines Riesenhais folgen – mit einem seligen Lächeln auf den Lippen.
Nikk fasste ihre Hand und mit einem kräftigen Flossenschlag zog er sie tiefer in den See hinein. Dank des Mondlichts waren die Sichtverhältnisse weitaus besser als im Meer vor der Sireneninsel. Fi sah sich um und entdeckte, dass die Undinen im See einen faszinierenden Lustgarten aus Wasserpflanzen und verspielt wirkenden Säulenbauten und Statuen geschaffen hatten. Sie glitt hinter Nikk eine Allee aus Marmorsäulen entlang, die mit Fischen und Flusskrebsen bemalt waren. Zwei im Mondschein schimmernde Karpfen ruderten träge vorbei. Inmitten eines lichten Waldes aus Tausendblatt und grünen Froschbissgewächsen, deren lange Stängel bis zur Seeoberfläche reichten, standen zu ihrer Rechten marmorne Statuen von Musikanten aus allen Völkern. Unter ihnen befanden sich Elfen mit Leiern, menschliche Minnesänger, Kobolde mit Flöten und sogar kleine Wichtel mit Klangschalen in den Händen. Die ganze Szenerie strahlte etwas Heiteres aus.
Nikk schien das alles nicht zu beachten. Er schwamm unbeirrt auf die künstliche Felseninsel zu, von der aus die Undinen am Nachmittag dem Treiben auf der Bühne zugesehen hatten. Der Sockel der Insel war ringsum mit Skulpturen geschmückt, die tanzende und singende Undinen darstellten.
Wo vermutest du den Zugang?, ertönte Nikks Stimme in Fis Kopf.
Fi wandte den Blick von einem mit Schneckenhäusern geschmückten Becken am Seegrund ab, von dem unentwegt Luftblasen zur Oberfläche des Sees aufstiegen. Sicher kribbelte es, wenn man durch die Blasen schwamm.
Wie bitte?, fragte sie kichernd.
Fi, du musst dich konzentrieren, erwiderte Nikk ernst.
Entschuldige. Fi riss sich zusammen. Instinktiv deutete sie zu einer Erhebung, die der Wasserburg als Fundament diente. Ich glaube, wir sollten dort suchen.
Nikk legte den Kopf schief. Vermutlich hast du Recht. Er zog Fi in Richtung Burg und sie suchten den Sockel ab, der aus dicken Quadern und schroffem Felsgestein bestand. Fis Verdacht, dass bei der Entstehung der Burg und des Sees mit magischen Mitteln nachgeholfen worden war, bestätigte sich.
Wir sollten vorsichtig sein, sandte Nikk in Gedanken. Wachsam hielt er nach den Undinen Ausschau. Doch von den Flussnixen war nichts zu sehen. Dafür gestaltete sich die Suche nach dem Zugang zur Grotte langwieriger als gedacht. Fi wollte Nikk bereits eingestehen, dass sie sich wohl geirrt hatte, als ihr eine im Schatten des großen Wehrturms liegende Felsformation auffiel, die dem Gesicht eines freundlich dreinblickenden Wassermanns mit Flossenohren und weit geöffnetem Mund nachempfunden war.
Tatsächlich, die Mundöffnung erwies sich als überflutete Felsröhre, die unter die Burg führte. Nikk zwinkerte Fi aufmunternd zu und schwamm mit kräftigem Flossenschlag in den dunklen Tunnel hinein. Fi tauchte ihm mit einem gedanklichen Seufzer hinterher.
Zu ihrem Erstaunen blieb es nicht lange dunkel, denn von den Wänden des Tunnels ging ein mattes Leuchten aus. Fi folgte Nikk und sah, dass sich der Tunnel gabelte. Der Meermann tastete sich vorwärts und sie gelangten zu einer weiteren Kreuzung. Das hier ist offenbar ein Sicherungssystem, erklang Nikks Stimme in Fis Kopf. Luftatmer dürften spätestens hier aufgeben.
Sie schwammen weiter durch das Tunnelgewirr, bis sich einer der Gänge weitete und sie in ein großes, halbmondförmiges Becken kamen, dessen Seitenwände mit dunkelblauem Schiefer ausgekleidet waren. Über ihnen tanzten blaue, goldene und silberne Lichtreflexe auf dem Wasser. Am Beckenrand wurde das Wasser von zahlreichen Luftblasen aufgewirbelt und ein dumpfes Rauschen war zu hören.
Fi durchstieß die Wasseroberfläche und erblickte einen künstlichen Wasserfall, der aus fast drei Metern Höhe herabstürzte. Sie hatten die Undinengrotte gefunden. Würgend spie Fi einen Schwall Wasser aus und schöpfte keuchend Atem. Doch der Anblick, der sich ihr nun bot, entschädigte sie für all die Mühen.
Von der Decke baumelten auf unterschiedlichen Höhen silberne Laternen in Forellengestalt, die wie ein Fischschwarm angeordnet waren. Ein geheimnisvolles Dämmerlicht ging von den unzähligen Fischaugen aus, die mit Aquamarinen besetzt waren. In jedem Edelstein glühten kleine und große Funken in allen Blauschattierungen. Fi entdeckte auch die große Harfe aus Flussgold, mit der Loreline ihre Zuhörer am Nachmittag verzaubert hatte. Ihr Blick wanderte langsam weiter zu einer mit goldenen Einlegearbeiten überzogenen Liege und blieb schließlich an einem muschelförmigen Wasserbecken hängen, an dessen Rand hohe Vasen aus reinstem Bergkristall mit Sträußen aus weißgelben Wasserfedern, gelbem Fieberklee und roten Wasserrosen aufgestellt waren.
»Na, habe ich zu viel versprochen?«, flüsterte Nikk neben ihr. Er nahm wieder seine elfische Gestalt an und zog sich am Beckenrand empor. Fi tat es ihm nach und trat tropfnass zwischen die Kostbarkeiten. Die Grottenwände waren mit Nischen versehen, in denen wunderschön gestaltete Kristall- und Goldpokale ruhten. Unmittelbar neben Fi erhob sich ein aus grünem Flussspat gefertigtes Podest, auf dem eine fast kürbisgroße Muschel lag. Aus ihrem Innern hallte beständig ein rhythmisches Glucksen und Plätschern, das sich mit dem Rauschen des Wasserfalls zu einer sanften Melodie vereinte. Ehrfürchtig passierte Fi die große Harfe aus Flussgold und entdeckte im matten Licht der Forellenlaternen eine gepolsterte Schaukel, die von der Höhlendecke hing. Wer darauf saß, konnte sich in einem großen Silberspiegel an der Grottenwand betrachten, dessen geschwungener Rahmen aus kristallisiertem Salz gefertigt war. Oben lief der Rahmen in einem imposanten Froschkopf aus, dessen Glupschaugen ebenfalls mit leuchtenden Aquamarinen besetzt waren. Die Schaukel und der Spiegel gehörten zu einem Ankleide- oder Schminkplatz, denn daneben standen Kleiderständer, an denen transparente Gewänder aus gesponnenem Seegras hingen. Fis Finger glitten über die kostbaren Gold- und Silberborten der Stoffe, bis sie eine mit Perlmutt überzogene Kommode erblickte. Sie bot gleich mehreren großen Muschelschalen Platz, die bis zum Rand mit goldenen Haarspangen in Form von Schmetterlingen, Libellen und Blüten gefüllt waren. Dazwischen lagen goldene Ringe, Ketten aus Schneckengehäusen und verspielte Muschelkränze. Fi hob eine der Perlenketten an und betrachtete sie fasziniert. Mit schlechtem Gewissen legte sie sie wieder zurück in die Schmuckschale und verzichtete darauf, die vielen Kämme und Bürsten, weichen Schwämme und Salbentöpfe näher in Augenschein zu nehmen.
Nikk beugte sich derweil über eine Truhe, die über und über mit rund geschliffenen Flusskieseln gefüllt war. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch einer Harpune mit mondeiserner Spitze, die quer darüberlag. Schließlich lief er an einigen Marmorplatten entlang, die beiden schräg gegen die Höhlenwand lehnten. Sie zeigten Wassermänner mit Flossenohren und verführerische Undinen im Wellenspiel. Fi wollte sich gerade einem mit Wasser gefüllten Kristallgefäß zuwenden, in dem orangefarbene Goldwelse gründelten, als Nikk vor einer geräumigen Nische in der Grottenwand stehen blieb und ihr hektisch zuwinkte. Sie eilte zu ihm und atmete scharf ein. Sie hatten das magische Füllhorn der Träume gefunden!
Das trichterförmige Gefäß ruhte in einem eigens dafür gefertigten Ständer aus Silber und war eines der faszinierendsten Objekte, die Fi je zu Gesicht bekommen hatte. Von der verdrehten Spitze am unteren Ende bis hin zu der mit goldenen Schmuckbändern umfassten Öffnung maß das Füllhorn etwa drei Ellen. Es bestand aus einem bläulichen Material, das Fi unwillkürlich an schimmernden Mondstein erinnerte. Je nachdem, wie man den Kopf neigte, zeichneten sich auf der Oberfläche des Füllhorns wolkenartige Licht- und Schattenspiele ab. Fi spürte mit jeder Faser ihres Körpers den Zauber, der von dem Füllhorn ausging. Als Nikk nach dem Behältnis greifen wollte, hielt Fi ihn zurück. »Nein, das dürfen wir nicht. Es ist falsch, das fühle ich!«
»Was?«, rief Nikk fassungslos. »Muss ich dir noch einmal erklären, wie viel von diesem Füllhorn abhängt?«
»Trotzdem, es ist falsch.« Fi sah Nikk gequält an. »Die Feenkönigin hat uns auch geraten, auf unsere Herzen zu hören. Und genau das tue ich jetzt. Dass wir auf eine Gargyle gehört haben, war schon schlimm genug. Und das Eindringen in die Grotte …« Sie schüttelte den Kopf. »Es kommt mir wie ein Verrat an Loreline und Egbert vor. Wir sind ihre Gäste!«
»Und was, wenn uns der Feind zuvorkommt, nur weil du so zögerlich bist?«, herrschte Nikk sie an. »Wir müssen das Füllhorn mitnehmen.« Nikk schüttelte Fis Hand ab. »Du hast deine Entscheidung getroffen, Fi. Ich treffe meine.«
Er wollte abermals nach dem Füllhorn greifen, als inmitten des Rauschens, das die Grotte erfüllte, ein Plätschern zu hören war. Die beiden fuhren herum und Fi wurde blass. Im Wasserbecken hinter ihnen waren Loreline und ihre Dienerinnen aufgetaucht. Die nassen Haarsträhnen der Undinen begannen ein seltsames Eigenleben zu entwickeln und reckten sich wie zum Biss bereite Schlangen aus dem Wasser.
»Rührt das Füllhorn nicht an, Prinz Nikkoleus!«, rief Loreline mit scharfer Stimme. »Ihr bringt damit nur Unglück über uns!«
»Euer Wohlgeboren, ich …« Nikks Blick wanderte zwischen den Undinen und Fi hin und her. »Wir sind hier, weil …«, er schluckte, als wäre er gerade erst zur Besinnung gekommen, »weil wir ein solches Unglück abwenden wollen.«
»Nein, Ihr beschwört es geradezu herauf!« Kalte Wut sprühte aus Lorelines grünen Augen.
Fi wagte kaum, die drei Nixen anzusehen, so sehr schämte sie sich.
»Loreline, bitte.« Nikk sah die Undine flehend an. »Hier in Rüstringen sind finstere Kräfte am Werk, die den Wettbewerb, den ihr ausgerufen habt, hintertreiben. Dunkle Zauberer versuchen sich des Füllhorns zu bemächtigen.« Er beschrieb den Undinen mit verzweifelten Worten, was sie herausgefunden hatten. Doch weder Loreline noch ihre Begleiterinnen wirkten beeindruckt.
»Königliche Hoheit!« Lorelines Worte klangen, als habe sie ein unflätiges Wort in den Mund genommen. »Ihr seid nicht besser als jene, die den Wettbewerb auf unsaubere Weise zu gewinnen hoffen, denn Ihr seid unerlaubt in die Grotte eingedrungen.« Sie schwamm näher an den Beckenrand heran und die beiden Dienerinnen folgten ihr mit bösen Blicken. »Glaubt Ihr wirklich, mir wäre entgangen, dass bei dem Wettbewerb mit unlauteren Mitteln gespielt wird? Doch auf diese Weise lässt sich das Füllhorn nicht gewinnen. Es geht nicht nur darum, als Sieger aus dem Wettbewerb hervorzutreten, man muss auch seine reine Gesinnung beweisen. Weder mein Gatte noch ich entscheiden über den künftigen Besitzer des Füllhorns, es trifft selbst seine Wahl. Ihr, Prinz Nikkoleus, seid jedoch ausgeschieden!«
Nikk sah die Undine bestürzt an und Fi bemerkte, wie jede Hoffnung in seinem Blick erlosch. »Es tut mir leid«, wisperte er.
»Und wenn es Morbus Finsterkrähe gelingt, hier einzudringen?«, fragte Fi.
»Elfenmädchen, glaubst du wirklich, wir würden es einem Dieb so leicht machen?«, antwortete die Undine kalt. »Nur der rechtmäßige Besitzer des Füllhorns vermag das magische Gefäß von diesem Ständer zu heben. Jeder andere stirbt auf der Stelle!«
Fi und Nikk warfen sich erschrockene Blicke zu. Nikk wollte etwas erwidern, als ein lautes Brüllen durch die Grotte hallte und eine dunkle Kreatur mit großen Schwingen durch den Wasserfall brach. Das Wasser im Becken spritzte auf und Lorelines Begleiterinnen kreischten. Auch Loreline wirbelte herum, doch es war zu spät. Schon tauchte aus den Fluten Dystariels Gargylenkopf auf. Geifernd und mit erhobenen Flügeln, von denen das Wasser in Sturzbächen floss, packte sie eine der Dienerinnen und schloss die Krallen um ihren Hals.
»Dystariel, nein!«, brüllte Fi.
Doch die Gargyle reagierte nicht. Im Gegenteil, sie bleckte die Reißzähne und wollte der Undine offenbar das Leben nehmen. Da begann die Wasseroberfläche zu brodeln, als würde das Wasser kochen. Ein gutes Dutzend durchscheinender Nereiden wirbelten das Becken auf und in den Blicken der elementaren Wassergeister blitzte es zornig.
»Lass Bachelia los, Kreatur der Finsternis!«, zischte Egberts Gemahlin. »Oder die Nereiden meines Gefolges werden dich zerreißen.«
»Das wäre ein interessanter Kampf, auf dessen Ausgang ich zu gern wetten würde«, ertönte hinter dem Wasserfall eine Stimme. Tandarin! Der hagere Elf im bunten Narrenkostüm humpelte durch den Wasserschleier und fixierte seine Gegner. »Nur befürchte ich, dass Ihr mich um das Leben eurer Dienerin bitten müsst. Denn die Gargyle gehorcht nur mir!« Tandarin schlug sich das nasse Haar zurück und blieb lauernd stehen. In seinen erhobenen Händen hielt er ein Holzkreuz, von dem eine Marionette baumelte. Die Puppe aus Golderlenholz trug vage menschliche Züge, doch sie besaß Schwingen, die keinen Zweifel ließen, wen er damit kontrollierte. Bei allen Schattenmächten, Tandarin hatte Dystariel mit seiner Magie überrumpelt!
Der Puppenmacher bemerkte Fis entsetzten Blick und verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Oh, ich muss leider gestehen, dass ich vorhin gelogen habe. Die nötigen Änderungen an der Marionette haben nur ein Stündchen gedauert.«
Fi sah aus den Augenwinkeln, wie Nikk nach seinem Jagdmesser tastete, doch sie hielt ihn mit einem warnenden Blick zurück.
»Wer bist du?«, fauchte Loreline.
»Habt Ihr Seiner Königlichen Hoheit nicht zugehört?« Der Elf zog höhnisch an einem der Fäden und die Marionette legte die Hand hinter das Ohr. Dystariel folgte der Bewegung ruckartig mit ihrer Klaue und wirkte jetzt so, als würde sie lauschen. »Man könnte sagen, dass ich zu jenen finsteren Kräften gehöre, vor denen Euch der Prinz gewarnt hat. Dabei bin ich auf das, was ich hier tue, wahrlich nicht stolz. Aber ich muss es tun.« Tandarin musterte Dystariel, deren Körper reglos wie eine Statue aus Basalt im Wasser stand. Die Undine in ihrer Klaue wimmerte.
»Dann bist du dieser Morbus Finsterkrähe?«, wollte Loreline wissen.
»Nein, Finsterkrähe war einst mein Schüler«, antwortete der Elf. »Und Ihr glaubt mir besser, wenn ich Euch sage, dass er mich an Verschlagenheit noch weit übertrifft.« Tandarin schürzte verbittert die Lippen. »Ich tue Euch einen großen Gefallen, wenn ich das Füllhorn vor ihm in Sicherheit bringe. Denn meine Träume sind im Vergleich zu seinen harmlos.« Tandarin beäugte das Füllhorn, das noch immer verheißungsvoll hinter Fi und Nikk in der Nische ruhte.
»Wenn du uns schon belauscht hast«, brauste Egberts Gemahlin auf, »dann sollte dir bewusst sein, dass dir dein Eindringen hier nichts nützt. Weder bist du dazu in der Lage, das Füllhorn aus der Grotte zu entfernen, noch wird es ausgerechnet dir seine Kräfte offenbaren.«
»Nun, beides sind sehr interessante Thesen, von denen ich mich gern selbst überzeugen würde. Ihr solltet wissen, beste Loreline, dass mein einstiger Meister und ich uns dereinst ganz speziell der Traummagie gewidmet hatten. Ja, ich denke, das kann man so sagen.« Er lachte freudlos und Fi fragte sich, was Tandarin damit meinte. Doch der Elf ließ sich nicht weiter in die Karten blicken. »Ich habe also durchaus die Hoffnung«, fuhr er unbeirrt fort, »dass ich dieses Füllhorn dazu bringen kann, seine Kraft zu entfalten. Ich bin jetzt eintausendzweihundertsechzehn Jahre alt. Ich habe leider keine andere Wahl. Schaffe ich es nicht, mein Leben noch einmal auf magische Weise zu verlängern, werde ich bald sterben.«
»Ich zerfließe vor Mitleid.« Loreline und ihre Dienerin machten ihm Platz. »Also gut, nimm dir das Horn.«
Tandarin lachte heiser und sah fast belustigt auf seine nasse Gauklerkleidung herab. »Lasst Euch von meinem Äußeren bitte nicht täuschen, Euer Wohlgeboren. Ich bin in Wahrheit alles andere als ein Narr. Wie sagtet Ihr vorhin so schön? Nur der rechtmäßige Besitzer vermag das Füllhorn unbeschadet von hier zu entfernen. Und noch seid Ihr das!« Er zwinkerte Loreline zu. »Wenn ich Euch also um eine kleine Handreichung bitten dürfte? Ich möchte Eure lauschige Grotte nur ungern mit Undinenblut besudeln.«
»Dafür wirst du büßen!«, erwiderte Loreline eisig.
»Ja, ich weiß«, antwortete Tandarin müde. »Nach meinem Tod. Und nicht nur dafür, sondern auch für viele andere schändliche Taten. Das ist ja der Grund, warum ich so an meinem armseligen Leben hänge. Und jetzt bewegt Euch, wenn Ihr Eure Dienerin retten wollt.«
Loreline nickte den Nereiden zu. Die Wasserelementare vereinten sich zu einer hohen Welle, die die Undine aus dem Becken hob und von dort aus gurgelnd in Richtung Nische spülte. Fi und Nikk traten hastig beiseite, als sie wütend das Füllhorn von dem Ständer nahm. »Wie kann ich sicher sein, dass du meine Dienerin am Leben lässt?«, wollte Loreline wissen.
»Gar nicht«, antwortete Tandarin. »Ihr müsst den Worten eines alten Mannes vertrauen, der kein Interesse hat, sein Gewissen weiter zu belasten. Und jetzt übergebt das Füllhorn der Elfe.«
»Wie bitte?« Fi schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts mit dir zu schaffen, du widerliches Scheusal!«
Tandarin funkelte sie verärgert an und hob die Marionette. »Im Augenblick muss ich mich zwischen meiner kleinen Spielerei und dem Füllhorn entscheiden. Du solltest also besser gehorchen.«
Loreline drückte Fi das magische Füllhorn in die Arme und sah sie beschwörend an. Doch Fi hatte nur Augen für das magische Gefäß, das ihr so unverhofft anvertraut wurde. Es war etwa so schwer wie ein gefüllter Pfeilköcher und im Innern schwappte ein silbriger Nektar, der köstlich nach Honig roch. Fi warf Nikk, der nur auf eine Gelegenheit zu warten schien, sich die mondeiserne Harpune zu schnappen, einen hilflosen Blick zu, dann stieg sie mit dem Füllhorn ins Wasser. Prustend schwamm sie hinüber zum Wasserfall, wo das Becken flacher war und sie wieder stehen konnte.
»Na siehst du, geht doch!«, sagte Tandarin. »Und jetzt hinter den Wasserfall mit dir. Wenn uns jemand folgt, stirbt die Undine!«
Tandarin hob warnend die Gliederpuppe und trat neben Fi durch den Wasserfall. Auch Dystariel setzte sich mit ihrer Gefangenen in Bewegung. Wasser prasselte auf Fi nieder, doch das Füllhorn blieb so schwer wie zuvor. Kein Tropfen drang ins Innere. Als Fi wieder sehen konnte, fand sie sich in einer blau gekachelten Säulenkammer wieder. Der Raum war über und über mit Einlegearbeiten aus Muscheln verziert und mit Wasser geflutet, das ihr bis zur Hüfte reichte. Zwei Baldachinbetten aus weißem Meerschaum erhoben sich zwischen Säulen, von denen halb transparente Vorhänge fielen.
Tandarin bewegte die Fäden der Gargylenmarionette und Fi musste mit ansehen, wie Dystariel die gefangene Undine bewusstlos schlug und neben sich ins Wasser warf.
»Bitte«, hub Fi an. »Keine weiteren …«
»Halt den Mund!«, fauchte Tandarin. »Nur eine falsche Bewegung und ich sorge dafür, dass sich die Gargyle deiner annimmt.« Er zog abermals an den Fäden der Marionette. Dystariel stapfte mit leerem Blick zurück zum Portal hinter dem Wasserfall und schloss die schweren Flügeltüren. Der Elf hob die Linke und summte angestrengt eine Zaubermelodie, woraufhin sich die Fuge zwischen den Flügeltüren schloss.
»So, das sollte unsere Gastgeberin eine Weile davon abhalten, uns zu verfolgen. Und jetzt Beeilung!« Er nickte in Richtung eines Treppenaufgangs mit abgerundeten Stufen, über die beständig Wasser sprudelte. »Wenn wir oben sind, will ich die Bücher, die Puppen und meinen Stab zurück!«
Fi antwortete nicht. Sie watete mit dem Füllhorn im Arm zur Treppe und stieg nach oben. Sie erreichten einen weiteren Gang, der ebenfalls unter Wasser stand und hinter einem Vorhang direkt in das große Becken im Thronsaal führte. Die Säulenhalle lag völlig verlassen vor ihnen.
Tandarin trieb Fi aus dem Undinenbecken und auf den Ausgang zu, während hinter ihnen die dröhnenden Schritte der Gargyle hallten. Sie marschierten an einer dicken Holztür vorbei, hinter der gedämpfte Hilferufe erklangen. Fäuste hämmerten von innen dagegen. Sie musste etwas unternehmen! Fi wog alle Möglichkeiten ab, wie sie den verräterischen Elf überrumpeln könnte. Doch mit Dystariel würde sie es keinesfalls aufnehmen können.
»Wie hast du überhaupt den Zugang zur Grotte gefunden?«, fragte Fi über die Schulter. Da Tandarin noch immer mit seiner Beinverletzung zu kämpfen hatte, war er leicht zurückgefallen.
»Als ob das schwer gewesen wäre«, höhnte der Elf. »Ich habe nur eurer Unterhaltung aufmerksam zugehört. Bis heute Morgen dachte ich noch, das Füllhorn sei irgendwo im Fluss versteckt, was sich glücklicherweise als Irrtum herausstellte. Und jetzt raus mit dir!« Tandarin brachte Dystariel dazu, Fi unsanft durch eine Tür zu stoßen, und sie stolperte in den kleinen Burghof. Vor dem Stall lagen drei gefesselte und geknebelte Wachen, die sich beim Anblick der Gargyle entsetzt krümmten.
»Du hast die Männer verschont?«, fragte Fi erstaunt.
»Stirbt hier jemand, spürt das der Hausherr«, knurrte Tandarin. »Ich wollte Egbert lieber weiterfeiern lassen, bis ich von hier weg bin. Ich habe bereits alles vorbereitet.« Der Elf sah sich lauernd zu den Mauerkronen um, während er hinter Fi und Dystariel durch die Nacht humpelte. »Das hindert mich aber nicht daran, dir hässliche Schmerzen zuzufügen, wenn du mir nicht gehorchst.« Er trieb Fi mit Dystariels Hilfe durch das Tor auf die Zugbrücke hinaus. »Und jetzt zeige mir, wo du meine Besitztümer versteckt hast!«
Fi blieb stehen. »Und wenn nicht?«
Die Marionette klapperte. Ruckartig packte Dystariel sie am Hals und schnürte ihr die Luft ab. Fi japste und ihre Augen traten hervor.
»Noch weitere dämliche Fragen?«, fauchte der Puppenmacher.
Fi würgte und schüttelte angestrengt den Kopf. Daraufhin ließ die Gargyle sie wieder los. »Am … See«, keuchte Fi. Sie deutete mit dem Füllhorn zu jener Stelle neben der Bühne, wo sie die Bücher und Puppen verbrannt hatte. Der Dreckskerl würde eine Überraschung erleben.
»Dann schnell jetzt!«, kommandierte Tandarin. Fi entging nicht, dass sich der Puppenmacher besorgt umsah und trotz der schmerzhaften Beinverletzung seinen Gang beschleunigte.
Noch immer wehten aus dem Ort die Klänge festlicher Musik herüber und sie hatten die Wiese schon fast überquert, als sie ein kalter Windstoß streifte.
»Was sehe ich denn da, mein alter Freund«, flüsterte eine Männerstimme wie aus weiter Ferne. »Du hast es tatsächlich geschafft, das Füllhorn an dich zu bringen, und dann bist du so unvorsichtig?«
Fi sah, dass jede Farbe aus Tandarins Gesicht wich. Gehässiges Gelächter hallte durch die Luft. »Dann wird es wohl Zeit für einen Höflichkeitsbesuch!«, wisperte die geisterhafte Stimme.
»Los!« Tandarin zog an den Fäden der Marionette und Dystariel verpasste Fi einen groben Stoß. Fi taumelte voran und sah unglücklich zum Nachthimmel auf.
»Sag schon, wo hast du die Puppen gelassen?«, schrie der Elf. »Und ich brauche meinen Zauberstab!«
Von Dystariels Schlägen angetrieben, stolperte Fi weiter auf die Bühne am Seeufer zu und ließ sich mit dem Füllhorn im Arm vor der noch rot glühenden Feuerstelle auf die Knie fallen. Tandarin riss beim Anblick der verkohlten Bücher und Puppen entsetzt die Augen auf.
»Du hast sie verbrannt?«, fuhr er Fi an. Im Norden grummelte es und Fi sah, wie vom Meer her eine schwarze Sturmfront den Sternenhimmel verfinsterte. »Du wirst mit den Puppen nie wieder Unheil anrichten«, schrie sie ihm zornig entgegen.
Tandarin holte aus und schlug Fi hart ins Gesicht. Stöhnend kippte sie zur Seite. »Du Närrin!«, brüllte er und sah entsetzt nach Norden. »Unter den Puppen war die Marionette Finsterkrähes! Sie allein hat ihn all die Jahre von mir ferngehalten. Wäre er je in ihren Einflussbereich geraten, wäre er verloren gewesen. Jetzt stehen wir ohne Waffe gegen ihn da!«
Fis Herzschlag setzte einen Moment aus, denn ihr wurde die Tragweite ihres Zerstörungswahns bewusst. »Warum hast du nichts gesagt?«, stöhnte sie.
»Das konnte ich nicht!«, herrschte sie der Puppenmacher an, während er mit der Fußspitze fahrig die Asche durchsuchte. »Wie hätte ich denn sonst die verdammte Gargyle überrumpeln sollen? Schnell, mein Stab. Wo ist er?«
»Denkst du wirklich, ich werde …«
»Fang an, deinen Verstand zu benutzen!« Am Himmel rumpelte es und der kalte Wind wurde immer stärker. »Auch Finsterkrähe besitzt eine Marionette, mit der er mich kontrollieren kann. Doch auf meinem Stab liegt ein Gegenzauber.« Fast panisch beugte er sich über sie. »Wenn du ihn mir nicht sofort aushändigst, wird Rüstringen gleich zwei Zauberern gegenüberstehen, deren Macht niemand hier auch nur annähernd gewachs…!«
Tandarins Bewegungen erstarrten und sein Blick trübte sich. Ohne weiter nachzudenken, hetzte Fi hinüber zur Bühne und zog den Narrenstab darunter hervor. In diesem Moment erhob sich Tandarin ruckartig und blickte gespannt zur Sturmfront auf, als erwarte er von dort Befehle. Fi stemmte sich gegen den Wind, der jetzt mit orkanartiger Stärke über das Seeufer fegte, und riss Tandarin die Gargylenmarionette aus den Händen. Die Glieder der Holzpuppe schlugen im Sturm gegeneinander, die Fäden hatten sich längst verdreht. Hastig drückte sie Tandarin den Stab zwischen die Finger. Keinen Augenblick zu spät, denn über dem See türmte sich die Sturmfront zu einem wallenden Wolkengebirge auf, aus dem sich ein riesiges Gesicht mit herrischen Zügen herausschälte. Aus den frostig dreinblickenden Augen blitzte es und der weiße Wolkenbart war mit glitzernden Eiskristallen durchsetzt. Das musste der Nordwind sein! Der eisige Sturmwind fegte Fi von den Beinen und sie fiel zum zweiten Mal hin.
Plötzlich schraubte sich ein monströser Wolkenarm vom Himmel herab. Auf seiner Hand stand fast winzig klein eine Gestalt in einem schwarzen Umhang mit hoher Halskrause. Morbus Finsterkrähe! In der Linken hielt der Hexenmeister eine Gliederpuppe, mit der Rechten umfasste er einen schlanken Stab, der violett leuchtete. Tandarin kam ächzend wieder zu sich und hob kampfbereit den Narrenstab.
»So sieht man sich wieder, alter Mann!«, peitschte der Nordwind die Stimme Finsterkrähes zu ihnen ans Ufer. »Es ist mir eine Freude, dir endlich wieder persönlich gegenüberzutreten. Das ist viel besser, als dich immer nur mit einer Kristallkugel zu überwachen.« Der Hexenmeister lachte und hob die Marionette Tandarins in die Höhe. »Es ist wirklich befriedigend, dich mit deinen eigenen Mitteln zu schlagen.«
»So leicht kommst du nicht gegen mich an!«, rief Tandarin. »Ich habe dir noch immer mehr als eintausend Jahre voraus.«
»Du bist vor allem alt«, giftete der Hexenmeister. »Ich habe dagegen noch nicht einmal den Höhepunkt meiner Macht erreicht.«
»Nein, Morbus, du wirst genau wie alle anderen scheitern.« Der Sturmwind schüttelte Tandarin leicht hin und her. »Sieh dir die Marionette nur gut an. Vielleicht begreifst du dann, dass du längst selbst an Fäden hängst. Deine neue Lehrmeisterin wird dich fallen lassen, sobald du ihr nicht mehr von Nutzen bist.«
»Woher weißt du von meiner Verbindung zu ihr?«, fragte Finsterkrähe verärgert.
»Deine Gier nach Macht musste dich eines Tages in ihre Arme treiben.«
»Vielleicht bin ich es ja, der eines Tages über Morgoya triumphiert«, geiferte der Hexenmeister. »Doch das wirst du nicht mehr erleben. Es sei denn, du überlässt mir das Füllhorn freiwillig.«
»Das musst du dir schon holen!«
»Wie du willst!« Aus Finsterkrähes Faust brach ein greller Feuerstrahl hervor, der in weitem Bogen auf Tandarin zujagte. Der Puppenmacher hob den Narrenstab über den Kopf und die elementare Glut prasselte gegen eine silbrige, wie von Mondlicht gewobene Spiegelfläche, die den Feuerstrahl auf den Hexenmeister zurückschleuderte. Finsterkrähe zerschlug den Strahl mit einem raschen Hieb seines Zauberstabs und prasselnde Flammen regneten auf den See.
»Los, Nordwind, hol ihn dir!«, gellte Finsterkrähes Stimme über das Ufer. Grollend setzte sich das Wolkengebirge in Bewegung, als Loreline den Kopf aus dem Wasser streckte. »Du wirst den Nordwind nicht missbrauchen, Hexenmeister!«, rief sie und ließ eine mächtige Fontäne aufsteigen. Mit der Kraft einer Springflut jagte die Wassersäule zum Himmel empor, bohrte sich in die Wolkendecke und hielt den Nordwind über dem See fest. Wütend heulte er auf. Ein weiterer Wolkenarm brach aus seinem Leib hervor und er schlug damit auf die Wassersäule ein.
Tandarin stürzte sich auf Fi, die dem Kampf der Urgewalten wie gelähmt zusah, und versuchte ihr das Füllhorn abzunehmen. Doch der Hexenmeister kam ihm mit einer ganzen Salve aus Feuerkugeln zuvor, die fauchend auf den silbrigen Schutzschild des Puppenmachers einprasselten und ihn zurücktrieben. Tandarin schrie auf. Er ballte die Faust und neben Fi explodierte die Bühne. Dutzende Holzteile und Splitter wirbelten durch die Luft auf Finsterkrähe zu, der sich gegen die Geschosse mit einem Fächer aus Flammenstrahlen zur Wehr setzte.
Fi kam wieder auf die Beine und rannte in Richtung Ortschaft, wo der Sturmwind das erste Stroh von den Dächern fegte.
»Kadavror!«, hallte die gebieterische Stimme des Hexenmeisters durch die Nacht. »Bring mir das Füllhorn!« Während hinter Fi noch immer das Duell der Magier tobte, tat sich am Himmel ein dunkler Sphärenriss auf, der das letzte Sternenlicht verschluckte. Bei allen Schattenmächten, was war das? Eine pechschwarze Krallenhand schob sich durch den Dimensionsspalt. Finsterkrähe hatte einen Dämon gerufen!
Fi hetzte verängstigt weiter, bis sie beinahe über einen hölzernen Gegenstand stolperte, den der Wind weit über die Wiese geblasen hatte: die magische Marionette Dystariels! Über ihr am Himmel brachen drei weitere Klauen aus dem Sphärenriss hervor und zogen ihn weit auseinander. Sogleich zwängte sich eine von roten und schwarzen Flammen umwaberte Kreatur ins Diesseits. Sie sah aus wie die grässliche Parodie einer gewaltigen Heuschrecke mit Glutaugen und Krallenbeinen. Der Dämon plusterte sich auf und richtete die Facettenaugen auf Fi. Fi ließ das Füllhorn fallen, zog ihr kleines Messer und schnappte sich die Marionette. Sie hasste die Gargyle, aber sie hatte keine andere Wahl. Panisch durchtrennte sie die zu Bändern geflochtenen Haarsträhnen der Gliederpuppe.
»Dystariel!«, brüllte sie verzweifelt in die Nacht.
Über ihr sprang der Dämon aus dem Dimensionsspalt und rauschte mit schwirrenden Flügeln auf sie zu. Fi spürte bereits die gewaltige Hitze, die von ihm ausging. Doch da wurde das Monstrum von einem heftigen Schlag getroffen und aus der Flugbahn gewirbelt. Dystariel brüllte hasserfüllt auf und stieß dem Dämon die Krallen in den Feuerleib. »Lauf Spitzohr!«, dröhnte ihr Ruf vom Himmel.
Hastig wich Fi den Funken aus, die auf sie herabfielen. Kreischend schlugen die Gargyle und der Dämon aufeinander ein und trudelten mit wilden Flügelschlägen durch die Luft. Das Füllhorn! Fi musste das Füllhorn in Sicherheit bringen. Fi hob das magische Gefäß auf und rannte weiter auf Rüstringen zu, während die Nacht hinter ihr von brausenden und donnernden Kampfgeräuschen erfüllt war.
Hufgetrappel kam auf sie zu. Fi sah drei Reiter mit blitzenden Schwertern heranpreschen, von denen sie den vordersten erkannte: Egbert! Als der Ritter sie erblickte, trieb er sein Pferd noch mehr an. Ein grelles Kreischen schnitt durch die Nacht und Fi sah aus den Augenwinkeln, dass sich Dystariel tief im Hals des Dämons verbissen hatte. Im nächsten Augenblick explodierte der Dämonenleib und die Gargyle trudelte vor Schmerzen brüllend und von schwarzen Flammen umzüngelt zu Boden, wo sie schwer aufschlug.
Doch die Gefahr war noch nicht vorüber. Aus der Glutwolke, die von dem Dämon übrig geblieben war, lösten sich sieben Feuerheuschrecken, die der besiegten Schattenkreatur bis in die Klauenspitzen ähnelten und von denen jede so groß wie ein ganzer Arm war. Sie schwärmten aus und nahmen die Verfolgung auf. Fi hörte bereits den Flügelschlag einer dämonischen Heuschrecke hinter sich, als Egbert unerschrocken an ihr vorbeigaloppierte und mit Trollzwinger zuschlug. Die magische Klinge hieb die Heuschrecke in zwei Teile und sie zerplatzte in einem Funkenregen.
»Zum Fluss!«, brüllte der Ritter. »Schaff das Füllhorn zum Fluss!«
Auch seine beiden Begleiter preschten jetzt an Fi vorbei und warfen sich den Feuerdämonen entgegen. Doch gegen die fliegenden Schattenkreaturen hatten sie keine Chance. Ihre Schwerter trafen zwar, vermochten den Heuschrecken jedoch keinen Schaden zuzufügen. Die Biester rissen einen der Männer aus dem Sattel und verwandelten ihn unter hässlichen Kreischlauten in eine lebende Fackel. Seine Todesschreie waren entsetzlich. Der andere wich ihnen aus und floh in Richtung Stadt.
Egbert zerschlug eine weitere Dämonenheuschrecke, während Fi mit dem Füllhorn im Arm auf das Gauklerlager zurannte. Hinter sich hörte sie ein bedrohliches Schwirren. Abermals spürte sie die Hitze der Dämonen im Nacken, doch ihr wurde überraschend Hilfe zuteil. Lupura, die alte Frau, die ihr den Käse für die Mäuse gegeben hatte, sprang vom Kutschbock ihres Wagens und riss beschwörend die Hände in die Höhe. »Dreckige Schattenmächte!« Ein feiner grüner Lichtstrahl jagte aus ihrer Handfläche. Die Heuschrecke jaulte getroffen auf und krachte in ein Zelt, das sofort in Flammen aufging. Die Alte war eine Zauberin? Fi rannte ebenso überrascht wie dankbar weiter in Richtung Ufer und sah, dass der Platz, auf dem wenige Stunden zuvor noch Tandarins Gauklerwagen gestanden hatte, verwaist war. Stattdessen senkten sich dort gleich drei Heuschrecken vom Nachthimmel herab und versperrten ihr den Weg. Fi stoppte schwer atmend und die Dämonen schwirrten brummend auf sie zu. Irgendwo in Rüstringen loderten hohe Stichflammen auf und hinter ihr war Hufgetrappel zu hören. Was sollte sie tun?
»Fi, schnell!«, tönte es plötzlich vom Fluss her.
Fi konnte Nikk nicht sehen, doch jetzt schnitt die mondeiserne Harpune aus der Undinengrotte durch die Luft und durchbohrte eine der lodernden Kreaturen. Die Heuschrecke löste sich in Funken auf, die sich durch Fis Kleider brannten. Fi schlug einen Haken und wäre beinahe von einer anderen Heuschrecke erwischt worden, wenn ihr nicht Lupura zur Seite gestanden hätte. Gemeinsam mit Ritter Egbert stürzte sie auf den Platz und traktierte einen der Flammendämonen mit ihren grünen Lichtstrahlen. Das Wesen kreischte gepeinigt auf, trudelte über den Fluss und fiel schmauchend in die Fluten, wo es in einer heißen Gischtwolke verging. Egbert sprang an Fis Seite und rammte die magische Klinge in den Leib des letzten Flammendämons. Der Funkenregen, mit dem der Dämon explodierte, schlug dem Ritter heiß ins Gesicht. Egbert schrie auf und hielt sich schützend die Hand vor die Augen. Aber es war zu spät. Röchelnd und mit halb verbranntem Gesicht ging er neben Fi in die Knie. Fi rannte weiter auf den Fluss zu, doch sie schaffte es nur bis kurz vor die Baumgrenze.
»Beiseite, elende Hexe!«, brauste die Stimme des Hexenmeisters über den Platz. Ein eiskalter Wind fegte Fi von den Füßen und wirbelte die alte Frau durch die Luft. Lupura krachte gegen einen Gauklerwagen und blieb bewusstlos liegen. Begleitet vom tosenden Geheul des Nordwinds, sank Morbus Finsterkrähe vom Nachthimmel herab. Drohend richtete er den Zauberstab auf Fi. Hinter ihr wuchs am Seeufer eine prasselnde Flammenwand empor, die sie endgültig vom Fluss abschnitt. Sie war verloren!
Mit Tränen in den Augen sah die Elfe zum Hexenmeister auf. Finsterkrähes schwarzer Umhang mit dem hohen Kragen bewegte sich nicht einmal leicht im Wind. Ein kurzer Spitzbart zierte sein Kinn und in den Augen über der Hakennase blitzte hochmütiger Spott. »Schlimm genug, dass sich mir eine Hexe in den Weg stellt. Jetzt muss ich auch noch erleben, dass mich ein weiteres Spitzohr um den Preis meiner Anstrengungen bringen will.«
Immer mehr Häuser in Rüstringen gingen in Flammen auf, während Ritter Egbert erblindet am Boden lag und hilflos das Schwert umklammerte.
Fi richtete sich erschöpft auf. Hatte Finsterkrähe Tandarin besiegt? Wo war der Puppenmacher? Sie presste das Füllhorn fest an ihre Brust.
»Du stammst nicht aus den Elfenwäldern, habe ich Recht?« Finsterkrähe näherte sich neugierig und seine Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln. »Nein, warte, du musst nicht antworten. Du musst diese junge Elfe sein, hinter der Morgoya her ist. Fiadora, die Tochter der Elfenregentin von Albion. Habe ich Recht?«
»Du weißt, wer ich bin?«, keuchte Fi überrascht.
»Sicher!« Finsterkrähe lachte dröhnend. »Ich hätte gleich darauf kommen können, dass Tandarin dich findet. Wenn ich dich Morgoya ausliefere, wird sie mir auf ewig dankbar sein. Andererseits, warum sollte ich das tun?« In die Augen des Hexenmeisters stahl sich ein gieriges Funkeln. »Immerhin kursiert das Gerücht, dass du eine Waffe hütest, die Morgoya so sehr fürchtet, dass sie dich schon seit vier Jahren quer durch Albion jagt. Vielleicht könnte diese Waffe mir sogar nützlich sein.«
Eine Waffe gegen Morgoya? Fi schwindelte angesichts der ungeheuerlichen Enthüllung. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Fi wich zurück, bis sie den Stamm eines Baums im Rücken spürte. Die Hitze der Flammenwand dahinter war so groß, dass sich die Rinde bereits schwarz färbte und einige kleine Zweige in Flammen aufgingen.
»Soso, du gibst dich also unwissend«, erwiderte Finsterkrähe kalt. »Egal. Du gibst mir jetzt das Füllhorn und auch dieses Amulett – und ich werde vielleicht ein Wort bei der Nebelkönigin einlegen, damit sie deinen Freund verschont.«
»Welchen Freund?«
»Welchen Freund wohl?«, fauchte der Hexenmeister. »Dieses verdammte Spitzohr, mit dem du aus der Mondeisenmine entkommen bist. Wenn du mir nicht gehorchst, droht ihm ein Schicksal, das du dir nicht einmal vorstellen kannst.«
Fi sah den Hexenmeister erschrocken an. Er musste Gilraen meinen, der ihr im Traum erschienen war. »Ihn kennst du auch?«
»Natürlich!« Gebieterisch streckte Finsterkrähe die Linke aus. »Ihr habt Ihre Nebelkönigliche Majestät lange genug an der Nase herumgeführt. Und jetzt her mit dem Füllhorn, solange du mir lebend nützlicher erscheinst als tot. Sonst verwandle ich dich Stück für Stück in einen Haufen Asche. So wie den da!« Er schwenkte den Zauberstab und schoss eine Flammenlohe auf Egbert ab, ohne den Ritter auch nur anzusehen. Der Schwertarm des Verletzten wurde plötzlich von dunklen Flammen verzehrt und er schrie gellend auf. Alles in Fi vereiste – und mit einem Mal wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie wirbelte herum und schlug das Füllhorn der Träume mit aller Kraft gegen den Baumstamm.
»Neiiiin!«, kreischte Finsterkrähe, als das Füllhorn splitternd zerbarst und der magische Nektar durch die Luft spritzte.
»Dafür stirbst du!«, brüllte er. Ein Glutball raste heran und die Welt um Fi herum versank in Flammen.