Kampf & Vergessen
Fi stieß durch die Wasseroberfläche und sofort war sie vom Dröhnen der Geschütze umgeben. Direkt vor ihr, auf dem von Nebelschwaden bedeckten Meer, lieferten sich Mort Eisenhand und Koggs Windjammer ein erbittertes Seegefecht. Die Stückpforten des Fliegenden Albioner waren hochgeklappt und aus den Luken ragten Speerschleudern, die das Klabauterschiff wüst unter Beschuss nahmen. Doch Koggs zahlte Eisenhand die Attacke mit gleicher Münze heim. Immer wieder fauchten die Aeols-Bombarden auf und die Geschosse rissen hässliche Löcher in die Verkleidung des Geisterschiffes. Ganze Lawinen aus splitternden Holzteilen prasselten auf das Meer nieder. Am schwefelgelben Himmel donnerte es und ein gleißender Blitz jagte auf Koggs’ Schiff hinab. Er schlug mit einem grellen Funkenregen am Heck des Schiffs ein, richtete aber keinen Schaden an. Hatte Magister Chrysopras dort nicht eine Apparatur aufbauen lassen, die er als Blitzableiter bezeichnet hatte? Sie schien zu funktionieren, denn Fi sah am Steuer des Geisterschiffs den vor Wut schäumenden Mort Eisenhand, der zornig die mondeiserne Faust ballte.
Es war dennoch ein ungleicher Kampf. Auf der anderen Seite von Koggs’ Schiff ragte turmhoch die Hydra aus den Wellen. Aus gleich zwei Drachenköpfen spie sie ihren Brodem auf die Schiffsbesatzung. Dass überhaupt noch jemand am Leben war, hatte Koggs allein den Wettermagiern zu verdanken, die die kochend heißen Dampfstrahlen mit brausenden Luftschilden ablenkten. Jetzt konnte Fi auch Nikk ausmachen. Er hing immer noch am Hals des dritten Hydrakopfes und klammerte sich verzweifelt an den Dreizack, während das Ungetüm versuchte ihn mit heftigen Schlenkerbewegungen abzuschütteln. Da flackerte es auf dem Bugkastell des Geisterschiffs grell auf und ein gewaltiger Flammenstrahl raste auf Koggs’ Schiff zu. Das musste der Hexenmeister gewesen sein! Ebenso plötzlich bäumte sich zwischen den Schiffen eine Welle auf, die sich wie eine Mauer vor Koggs’ Segler stellte. Feuer und Wasser prallten zischend aufeinander, fielen in sich zusammen und hüllten die Schiffe in Nebel. Fi war sich sicher, dass die Wasserwand das Werk von Magistra Wogendamm gewesen war. Wie lange vermochten sie dem Hexenmeister noch die Stirn zu bieten? Abermals krachten die Geschütze und beide Schiffe erbebten unter den Einschlägen. In diesem Moment gelang es der Hydra, Nikk abzuschütteln. Mit dem Dreizack der Wogen in den Händen wirbelte er hilflos durch die Luft und stürzte weit hinten ins Meer. Mort Eisenhand lachte rau und wollte wieder zum Angriff übergehen, als der Fliegende Albioner von einer Geschosssalve getroffen wurde, die aus einer anderen Richtung kam. Der vordere Mast splitterte und schlug krachend auf das Deck. Die Reling barst und zahlreiche Trümmer landeten in hohem Bogen im Meer. Fi sah, wie sich ein drittes Schiff aus dem Dunst schälte: Bilger Seestrands Seefalke!
Koggs’ Mannschaft jubelte und ließ einen Hagel aus zischenden Brandpfeilen auf das Geisterschiff niederregnen. Doch die Geräusche gingen im Kreischen der Hydra unter, die nun umso wütender auf das Klabauterschiff losging.
Fi nutzte einen weiteren Entlastungsangriff Bilger Seestrands aus und kraulte auf Koggs’ Schiff zu. Abermals rumpelte es am dunklen Himmel und diesmal fand der Blitz sein Ziel. Er schlug im Hauptmast der Seefalke ein und setzte Takelage und Segel in Flammen. Fi kämpfte prustend gegen die Wellen an, stieß eine treibende Holzplanke aus dem Weg und wäre fast von Koggs’ Schiff gerammt worden, das den Nebel dazu nutzte, um sich dichter an den Fliegenden Albioner heranzuschieben. Hinter ihr tauchten überraschend zwei Meernymphen auf, die sie packten und von der Bordwand wegzogen.
»Ich muss da rauf!«, schrie Fi gegen den Kampflärm an. Die Nixen tauchten unter und drückten sie mit kräftigen Flossenschlägen aus dem Wasser. Fi griff nach einem Tau, das von der Reling baumelte, und zog sich ächzend nach oben. An Bord herrschte das blanke Chaos. Das Hauptdeck war mit Trümmerteilen übersät. Einige Matrosen waren damit beschäftigt, Verletzte aus dem Weg zu ziehen, andere schleppten Steine und Feenkristallflaschen zu den Geschützmannschaften. Eine der Aeols-Bombarden war bereits zerstört worden. Doktorius Gischterweh lag bewusstlos neben einem Segelkasten und überall war Geschrei zu hören.
»Haltet durch!«, gellte Koggs’ Stimme vom Heckkastell.
Fi kletterte klatschnass über die Reling und rannte inmitten des Durcheinanders zur Bugtreppe, wo sie Pfeile und Bogen verstaut hatte, bevor sie mit Nikk ins Meer getaucht war. Auf der Backbordseite war das Fauchen der Hydra zu hören. Als die drei Drachenköpfe weit über ihnen die Schlünde aufrissen, schoss Fi den ersten Gorgonenpfeil ab. Eine dünne Schmauchspur hinter sich herziehend, schlug der Pfeil im Maul eines der Köpfe ein. Die Hydra brüllte. Der nächste Pfeil bohrte sich tief in den Kiefer des zweiten Kopfes. Für einen weiteren Schuss blieb Fi jedoch keine Zeit. Der dritte Kopf senkte sich rasend schnell auf sie herab. Doch bevor die Hydra zuschnappen konnte, wehrte Magister Chrysopras die Attacke ab und stieß das Ungetüm mit einigen Luftelementaren vom Schiff fort.
Jetzt kam am Himmel ein windiges Brausen auf. Aus den Wolken schälte sich ein herrisches Gesicht mit Wolkenbart und frostigen Zügen, während ein bitterkalter Wind über das Deck fegte. Der Nordwind wehte das bösartige Gelächter Morbus Finsterkrähes heran. »Verabschiedet euch von der Welt, ihr Narren! Der Nordwind wird euch zu Kleinholz verarbeiten!«
»Sei dir dessen nicht so sicher, Finsterkrähe!«, hallte eine vertraute Stimme über die See. »Denn die übrigen fünf Winde des Nordmeers sind nicht bereit, die Versklavung ihres Bruders weiter hinzunehmen!«
»Endlich, Magister Eulertin!«, keuchte Chrysopras, der sich nicht weit von Fi entfernt an der Reling festhielt. Zu ihrem Erstaunen jagten aus dem Süden, dem Westen und dem Osten kämpferisch dreinblickende Wolkengesichter mit aufgeblasenen Backen und fransigen Nebelhaaren heran. Eine weitere Wolkengestalt mit weiblichen Zügen näherte sich dem brüllenden Nordwind von oben, während das Meer unter dem Nordwind plötzlich spiegelglatt wurde. Eine Flaute? Lahm und scheinbar kraftlos langte von dort ein Schemen mit Triefaugen nach dem Nordwind, der sich mit Macht in Richtung Schiff warf. Doch er kam nicht weit. Von allen Seiten fielen jetzt auch die übrigen Winde über ihn her und klammerten sich an ihm fest.
Über dem Hauptmast war nun Möwengeschrei zu hören. Kriwa stob zu Koggs hinab. Offenbar überbrachte sie ihm Weisungen des kleinen Magiers, denn er hörte ihr aufmerksam zu und nickte. Der Däumling selbst befand sich noch immer am Himmel. Fi entdeckte Tandarins Narrenstab, der über ihren Köpfen schwebte. Der kleine Magister ritt den Stab des Puppenmachers wie eine Hexe ihren Besen. Plötzlich flammte ein blaues Blitzlichtgewitter auf, dessen Lichtbogen weit über die See zuckten und prasselnd am Heck des Fliegenden Albioners einschlugen. Der Angriff des Däumlings wurde von einem Fächer aus Flammenlanzen beantwortet, die vom Geisterschiff aufstiegen. Eulertin und Finsterkrähe lieferten sich jetzt einen erbitterten Zweikampf, während es Fi, Magister Chrysopras und den Geschützmannschaften nur noch unter Mühen gelang, die wutschnaubende Hydra abzuwehren. Magistra Wogendamm torkelte mit dampfenden Kleidern an die Reling und versuchte ihre Kollegen nach besten Kräften zu unterstützen.
»Wir haben keine Windphiolen mehr!«, rief Bootsmann Rob ihnen zu. Noch tobte der Kampf zwischen dem Fliegenden Albioner und Bilgers Seefalken. Aber wie lange noch? Fi wusste, dass sie sich etwas einfallen lassen mussten.
In diesem Augenblick sah sie Nikk unter sich im Meer. Ihm folgten fast ein Dutzend Meernymphen. Mit dem Mut der Verzweiflung schwärmten sie gegen die Hydra aus. Doch Fi ahnte, dass der Angriff in einem fürchterlichen Gemetzel enden würde. So wie unten im Palastgemach, als sie das Mosaik mit Elfenkönig Avalaion und Nikks Ururgroßvater Poseleion betrachtet hatte, wurde der Glyndlamir mit einem Mal warm. Natürlich! Plötzlich wusste Fi, was zu tun war. »Magistra Wogendamm, schafft mir Prinz Nikkoleus her. Schnell!«
Die Wettermagierin sah sie irritiert an, doch sie wob ohne ein Wort einen Zauber, der eine Welle heraufbeschwor. Nikk wurde jäh aus dem Wasser gehoben und gegen seinen Willen zum Schiff getragen. Die überraschten Nixen brachen den Angriff ab, während Fi zur Reling rannte.
Der Meermann warf ihr einen aufgebrachten Blick zu. »Was soll das, Fi? Ich bin vielleicht der Einzige, der die Hydra besiegen kann!«
»Aber nicht so, Nikk.« Hastig kramte sie den Glyndlamir hervor und hob ihn in die Höhe. »Der Dreizack wird dir so lange den Dienst verweigern, bis du den Schwur geleistet hast. Verstehst du?«
»Nein, ich verstehe nicht.«
»Hast du in Rüstringen nicht selbst von einem Übergabezeremoniell gesprochen, bei dem der alte Herrscher dem Thronfolger den Eid abnimmt, treu und ergeben über das Reich unter den Wogen zu wachen?« Nikks Blick verriet, dass er allmählich begriff, was Fi meinte. »Du hast den Eid bis jetzt nicht geleistet. Ebenso wenig, wie ihn dein Vater damals leisten konnte, als dein Großvater einem Unfall anheimfiel. Verstehst du jetzt, warum Aqualonius die Elfen im Sonnenrat Albions aufsuchte? Mein Volk hütete den Glyndlamir, den Schwurstein. Er musste den Eid erneut auf ihn ablegen.«
»Beim Blau des Meeres, natürlich!«
Fi besann sich auf Nikks Worte aus Jada’Maar. »Also, schwörst du beim Unendlichen Licht, bei der Macht der Träume und bei der Königsehre, dass du weiterhin Buße tust und das Meer frei von allen Einflüssen der Schatten hältst?«
»Ich schwöre es bei meinem Leben!«, antwortete Nikk feierlich. Das Mondeisenamulett erstrahlte in silberhellem Licht. Ein singender Laut, als würde ein Glas von einer Stimmgabel angeschlagen, schwebte über dem Wasser und das Licht glitt hinüber zum Dreizack der Wogen, der jetzt wie aus Mondlicht geschmiedet wirkte. Nikk wirbelte zu der Hydra herum, die sich abermals aufbäumte. »Halte ein!«, rief er. Der Dreizack erstrahlte ebenfalls und die Drachenhäupter starrten gebannt auf das Licht. Nikk konnte sein Glück kaum fassen. Magistra Wogendamm ließ ihn wieder zurück ins Wasser gleiten und sah Fi bewundernd an. »Und jetzt das verdammte Geisterschiff!«, zischte sie.
Während die sechs Winde heulend und tobend miteinander rangen, hielt Magister Eulertin mit seiner verstärkten Zaubermacht den Hexenmeister in Schach. Koggs nutzte derweil die Gelegenheit, sein demoliertes Schiff näher an den Fliegenden Albioner heranzusteuern. »Bereit machen zum Entern!«, brüllte er. Doch das Meervolk kam ihm zuvor. Nikk und die Meernymphen waren längst unter dem Segler hindurch zum Geisterschiff getaucht. Mit ihnen schoss nun die Hydra aus den Fluten. Ein von Eisenhand gesandter Blitz schlug im Seeschlangenleib ein. Der untote Pirat konnte jedoch nicht verhindern, dass das Meeresungetüm zum Angriff überging. Brüllend stießen die drei Drachenköpfe herab und verbissen sich in den Aufbauten. Auf den zwei Klabauterschiffen erhob sich lautes Freudengeschrei – als Finsterkrähe seinen letzten Trumpf ausspielte.
»Mutter ist angekommen!«, kreischte eine Stimme auf dem Geisterschiff. »Mutter wird es richten!« Mit einem Mal lag lieblicher Frauengesang in der Luft. Die lockende Melodie der Sirene trieb wie von leichter Hand gelenkt zu ihnen herüber. Fi und Magistra Wogendamm sahen entsetzt dabei zu, wie die Blicke der Seeleute um sie herum glasig wurden. Die vielen Männer gerieten immer tiefer in den Bann des Zaubergesangs und die Kampfhandlungen auf den Klabauterschiffen kamen zum Erliegen.
»Oh nein!«, rief Fi. Auch Magister Eulertin oben am Himmel blieb von dem Sirenengesang nicht verschont. Tandarins Zauberstab trudelte durch die Luft und stürzte mit der winzigen Gestalt in die Tiefe. Fi sprang vor und fing den Magier in letzter Sekunde auf. Der Stab schlug polternd auf dem Deck auf.
Beim Anblick des Däumlings hatte Fi eine kühne Idee. Eine Idee, wie sie nicht nur die Sirene ausschalten, sondern auch all die Männer wieder zum Erwachen bringen konnte. Denn noch immer verfügte sie über das überzählige Kürbiskernfläschchen mit dem Verkleinerungstrunk, das ihr Magister Eulertin kurz vor dem Angriff in Jada’Maar gegeben hatte. »Kriwa«, rief sie in Richtung Heckkastell. »Her zu mir, schnell!«
Die Möwe kam angeflattert und sah sie besorgt an. »Was hast du vor?«
Rasch erläuterte Fi Kriwa und Magistra Wogendamm ihren Plan.
»Ich hoffe, du weißt, was du tust«, krächzte die Möwe.
Über dem Geisterschiff züngelten grelle Blitze vom Himmel und der Schein von Flammen war zu sehen. Was ging dort vor sich?
Beim Traumlicht! Fi bemerkte erst jetzt, dass das Gebrüll der Hydra längst verstummt war. Das Ungeheuer war wieder im Meer versunken, denn auch Nikk war dem Gesang der Sirene zum Opfer gefallen und nicht mehr bei Bewusstsein. Sein schlaffer Körper hatte sich mit dem Dreizack in einem Netz verfangen, das die Skelette über die Reling des Geisterschiffes geworfen hatten. Stück für Stück zogen sie ihn an der Bordwand hinauf. Unterdessen hielten Mort Eisenhand und Morbus Finsterkrähe mit ihren magischen Gewalten die Nixen im Wasser davon ab, den Prinzen zu befreien.
Fi packte Tandarins Zauberstab, fischte hastig das winzige Kürbiskerngefäß aus ihrer Gürteltasche und zerbiss es. Ein unangenehmer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus und schon setzte der Schrumpfungsprozess ein. Magistra Wogendamm legte den schlafenden Däumlingszauberer vorsichtig auf den Möwenrücken und Fi hockte sich hinter ihn. »Los!«, rief sie.
Die Möwe hob ab und jagte über die Reling. Im Tiefflug sauste sie auf den Fliegenden Albioner zu, während Magistra Wogendamm nach Kräften versuchte, den Meernymphen beizustehen. Noch immer schwebte der liebliche Gesang der Sirene über dem Meer.
Kriwa jagte am Heckkastell des Geisterschiffes wieder nach oben und setzte Fi auf den Planken ab. »Weck Eulertin, wenn er nicht von allein wieder zu sich kommt!« Längst hatte sie dem Däumling den magischen Ring abgezogen, der die Stimme des kleinen Mannes verstärkte. Hoffentlich wirkte seine Zauberkraft auch bei ihr. Sie steckte den Ring an den Finger, konzentrierte sich und wuchs wieder zu ihrer normalen Größe heran. Überrascht sah sie, dass abgesehen von Finsterkrähe und Eisenhand nur drei Skelette das Schiffsgefecht überstanden hatten. Direkt unter ihr wälzte sich die Sirene über das Deck. Das Scheusal mit den wirren Haaren hatte ihren Gesang inzwischen eingestellt. »Mutter hat den Kampf für Euch entschieden«, hechelte sie. »Mutter verdient eine Belohnung!«
»Mutter bekommt ihre Belohnung vom Töchterlein!«, donnerte Fis magisch verstärkte Brüllstimme über das Deck – dann begann sie zu kreischen. Ihr schriller Schrei fegte mit der Macht eines Wirbelsturms über das Geisterschiff. Die Scheiben der Schiffslaternen barsten, während Eisenhand und der Hexenmeister von der Lautstärke in die Knie gezwungen wurden. Fis Geschrei war so durchdringend, dass die Männer auf den Klaubauterschiffen wieder zu sich kamen. Am schlimmsten traf der fürchterliche Lärm jedoch die Sirene. Sie blutete aus den Ohren und fiel heulend auf die Seite. Sofort schoss Fi die Gorgonenpfeile ab. Schon nach kurzer Zeit war der fette Wanst des Ungeheuers mit gefiederten Geschossen gespickt, die hässliche Wunden geschlagen hatten. Die Sirene bäumte sich noch einmal auf, dann wich der letzte Funke Leben aus ihr.
Inzwischen hatte sich der Hexenmeister wieder erhoben. »Schnappt sie euch. Macht sie fertig!«, schallte seine wütende Stimme über das Deck. Mort Eisenhand und die drei Skelette stürmten auf Fi zu. Finsterkrähe langte hastig nach dem Netz, um Nikk, der gerade wieder zu sich gekommen war, den Dreizack der Wogen zu entreißen. Fi schoss ihre letzten Pfeile auf die untoten Piraten ab und verwandelte die Skelette zu Knochenstaub – bis auf Mort Eisenhand. Die Geschosse warfen ihn zwar um mehrere Schritte zurück, doch die meisten konnte er mit dem mondeisernen Panzerarm abwehren. Mit dem letzten Pfeil zielte Fi auf sein Gesicht, doch Eisenhand schlug auch diesen ungerührt beiseite.
»Jetzt bin ich dran!«, rief er zornig. Er ballte den Panzerarm und am Himmel grollte es. Doch in diesem Augenblick peitschte Koggs Windjammers laute Schnarrstimme über das Wasser. »He, Eisenhand!«
Der Geisterkapitän ruckte herum und wurde im selben Moment von einer Steinkugel aus einer Aeols-Bombarde von den Füßen gerissen. Er schlitterte über das Deck, durchbrach die Reling und versank mit fuchtelnden Armen in den Fluten. Finsterkrähe ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Triumphierend hielt er den Dreizack der Wogen in die Höhe.
Da stieß Kriwa einen Schrei aus und schlug heftig mit den Flügeln. Fi wusste, was das zu bedeuten hatte. Hastig streifte sie den magischen Ring ab, der sofort wieder kleiner wurde, und warf ihn Kriwa zu. Neben der Möwe war Magister Eulertin wieder zu sich gekommen. Die Möwe schob ihm den Ring mit dem Schnabel zu, der Däumling steckte ihn sich an den Finger und kletterte auf Tandarins Narrenstab.
»Es ist aus, Finsterkrähe!«, rief er, während er sich mit dem Stab in die Luft erhob.
Der Hexenmeister lachte. »Ach ja?« Er verzog hochmütig das Gesicht. »Mit Euch, kleiner Magister, werde ich allemal fertig! Und auch mit den verdammten Klabautern. Die Hydra wird die Drecksarbeit für mich übernehmen.« Er schwenkte den Dreizack, doch die Waffe zeigte keine Wirkung.
»Ich sagte doch, es ist aus!«, rief Magister Eulertin beherrscht. »Und jetzt überreicht mir Euren Zauberstab und ergebt Euch der Gerichtsbarkeit Hallas!«
»Sollen Euch doch die Schatten verschlingen!« Mit einem Aufschrei schwenkte er den Dreizack erneut in Richtung Hydra – und diesmal nutzte er seine Kräfte. Magisches Feuer leckte über das Mondeisen, ganz so, als wollte Finsterkrähe den Dreizack dazu zwingen, ihm zu Willen zu sein. Doch es geschah etwas völlig anderes. Nikk bäumte sich hinter ihm auf und begann zu schreien. Über seinen Körper züngelten plötzlich grünliche Flammen und auch aus dem Meer drangen unzählige spitze Schreie herauf. Die Meernymphen gebärdeten sich wie rasend, denn auch sie waren von den geisterhaften Flammen erfasst worden.
Der Hexenmeister starrte verblüfft in die Tiefe, dann lachte er. »Sieh an, die Seele des Meervolks ist offenbar tatsächlich an den Dreizack der Wogen gebunden. Und zwar nicht bloß sprichwörtlich!« Lauernd sah er sich um.
Jetzt begriff Fi, was Effreidon gemeint hatte, als er von dem letzten Geheimnis sprach, das den Dreizack der Wogen umgab. Damit ergab auch die Warnung der Klabauterin Kiela Schotbruch einen Sinn.
»Seht alle her!«, brüllte Finsterkrähe den Mannschaften der beiden Klabauterschiffe zu. »Ich gebiete über den Dreizack der Wogen! Wenn ihr nicht sofort eure Waffen streckt, werde ich ihn mit meinem Feuer vernichten und mit ihm das ganze Meervolk! Es liegt allein an euch!« Er trat dicht an die Reling heran und hielt den von Flammen umwaberten Dreizack mit ausgestrecktem Arm über das Wasser. Höhnisch lachend wandte er sich wieder Magister Eulertin zu. »Das gilt auch für Euch, Winzling. Also, runter von Tandarins Stab und her damit, auch mit Eurem Stab.«
»Armseliger Wicht!« Jenseits der Bordwand schoss plötzlich ein tropfnasser Schatten mit breiten Fledermausschwingen aus den Fluten. Dystariel! Die Gargyle packte den ausgestreckten Arm des Hexenmeisters und biss zu. Finsterkrähe brüllte vor Schmerz und richtete einen mächtigen Flammenstrahl auf die Gargyle. Wie eine lebende Fackel wurde Dystariel zurück ins Meer geschleudert und riss den Dreizack mit sich. Fis Augen weiteten sich, als sie den blutenden Armstumpf des Hexenmeisters sah. Dystariel hatte ihm die Hand abgebissen.
Finsterkrähe wimmerte. Er hob die Linke mit dem Zauberstab, fuhr herum und ließ das Geisterschiff in Flammen aufgehen. Tandarins Narrenstab zischte wie ein Speer auf ihn zu, doch der Hexenmeister hüllte auch ihn in Feuer und stieß ihn über die Bordwand. »Und jetzt seid Ihr dran, Eulertin!«, schrie er. »Ich werde Euch wie eine elendige Hexe verbrennen!«
»Oh nein, das war bloß eine kleine Ablenkung!«, tönte die Stimme des Däumlings irgendwo zu seinen Füßen. »Ich verurteile dich hiermit im Namen der Universität Hallas zur Erzenen Verdammnis!«
Ein scharfes Knacken war zu hören und der Hexenmeister richtete sich mit einem ungläubigen Blick auf. Im selben Moment nahmen Haut, Kleider und Stab eine dunkle Färbung an. Finsterkrähes Züge erstarrten und er verwandelte sich bis hinauf zum Spitzbart in eine Statue aus dunklem Basalt.
Eulertin glitt zu einem Edelsteinsplitter, der zu Füßen Finsterkrähes lag. Der Splitter schimmerte grünlich im Licht des Feuers. Er tippte ihn mit seinem Zauberstab an und der Splitter schrumpfte, bis Eulertin ihn sich auf seinen Zauberstab stecken konnte. Dann stieg er über den lodernden Flammen zum bewölkten Himmel auf. »Nordwind«, rief er mit lauter Stimme. »Zieh deiner Wege und sei frei!«
Kaum hatte er geendet, sauste er zu Fi hinüber und nickte ihr anerkennend zu. »Und jetzt weg von hier!«
Das Feuer auf dem Geisterschiff war längst bis zu den Masten vorgedrungen. Mithilfe von Luftelementaren stieß der Däumling Nikk ins Meer, der immer noch im Netz verheddert war, und glitt mit Finsterkrähes versteinertem Leib in die Höhe. Auch Kriwa stieg vom Geisterschiff auf. Fi setzte zu einem beherzten Strecksprung an und stürzte sich in die Fluten. Es dauerte nicht lange, bis Koogs’ Männer sie wieder aus dem Meer gefischt hatten.
»Das war ein guter Schuss eben, was?« Koggs trat grinsend auf Fi zu. »Das musst du erst mal mit deinem Bogen nachmachen!«
Fi lächelte und verzichtete darauf, etwas zu erwidern. Gemeinsam mit den Seeleuten sahen sie dabei zu, wie die Flammen den Fliegenden Albioner verschlangen. Schließlich hallte ein grässliches Quietschen über das Meer und das Geisterschiff versank gurgelnd in den Fluten.
Die Matrosen johlten, doch für diesen Sieg hatten sie einen hohen Preis gezahlt. Beide Klabauterschiffe waren schrecklich zugerichtet und es gab viele Tote und Verletzte. Bilger Seestrand ruderte mit ein paar seiner Männer zu Koggs’ Schiff. An Deck fielen sich die beiden Klabauter in die Arme. Die drei Wettermagier stürmten unterdessen aufgeregt zum Bugkastell, wo die Luftelementare Finsterkrähes Statue abgestellt hatten. Kriwa flog ihnen hinterher.
Fi trat erschöpft an die Reling und starrte ins Meer, auf dem noch immer brennende Holzteile schwammen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass die Nacht hereingebrochen war. Dystariel hätte ihnen sonst nicht helfen können. Für einen Moment glaubte sie, die geflügelte Silhouette der Gargyle am Himmel zu sehen. Doch wo war Nikk?
Als hätte das Meervolk ihre Frage gehört, reckten jetzt zahlreiche Nixen die Köpfe aus dem Wasser. In ihrer Mitte befand sich der Prinz. Er schwamm an die Bordwand heran und Fi warf ihm erleichtert eine Strickleiter zu. Wie viele Male zuvor nahm er wieder seine Elfengestalt an und kletterte mit dem Dreizack der Wogen in der Hand zu ihr hinauf. Nikk sah blass aus, doch er strahlte sie an. »Ich danke dir, Fi! Unsere Legendenweber werden noch in hundert Jahren von dir erzählen. Was du heute für uns getan hast …«
»Lass gut sein, Nikk«, fiel Fi ihm ins Wort. Sie lächelte, doch es war ein Lächeln voller Wehmut. »Wenn man es genau nimmt, hat dich Dystariel gerettet. Nicht ich.«
»Dieses Eingeständnis aus deinem Mund?« Nikk zwinkerte ihr zu und griff nach ihrer Hand.
»Dann heißt es jetzt, Abschied nehmen?«, fragte Fi.
»Ja, so ist es. Der Zyklus endet heute Nacht. Ich kann dich nicht länger begleiten. Doch ich wünsche dir, dass es dir gelingt, dein Volk zu befreien. Und du weißt doch: Wünsche haben eine große Kraft.« In Nikks Miene spiegelte sich neben dem Abschiedsschmerz noch ein anderer Ausdruck: Sorge.
»Sorgst du dich meinetwegen?«, fragte Fi. »Das musst du nicht. Du hattest Recht. Ich bin hier gut aufgehoben.«
»Das ist es nicht.« Nikk seufzte. »Ich sehe vielmehr auch auf mein Volk unheilvolle Zeiten zukommen.«
»Warum?«
»Weil unser Leben nicht mehr so sein wird, wie es einmal war. Zu viele haben heute miterlebt, was geschieht, wenn der Dreizack der Wogen in falsche Hände gerät.« Nikk sah zu den feiernden Matrosen hinüber. »Die Männer werden darüber reden. Nicht einmal Koggs und Bilger werden sie davon abhalten können. Das Gerücht wird die Runde machen und eines Tages wird das kostbarste Geheimnis meines Volkes auch an Morgoyas Ohren dringen. Die heutigen Ereignisse haben alles verändert.«
Entgeistert starrte Fi den Meermann an. Sie wollte ihm widersprechen, doch sie konnte es nicht. Nikk küsste ihre Hand. »Also, viel Glück, liebe Fi. Das ist mein Abschiedsgeschenk.« Er drückte ihr sein Jagdmesser mit dem delfinförmigen Perlmuttgriff in die Hand. »Ich habe es einst von meinem Vater Aqualonius bekommen und jetzt soll es dir gehören. Möge es dich an unsere gemeinsame Zeit erinnern. Und in sieben Jahren, das hoffe ich sehr, sehen wir uns wieder.« Nikk wandte sich zum Gehen, doch Fi hielt ihn zurück. »Warte Nikk!« Aufgewühlt sah sie zu Koggs’ Männern und dann zu Bilgers Schiff hinüber. »Ich glaube, ich kann etwas dagegen tun.«
»Wogegen?«
»Dass sich die Sache mit dem Dreizack herumspricht.« Sie zog den Glyndlamir unter dem Hemd hervor. »Du weißt, wovon ich spreche.«
Nikk sah ungläubig zu ihr auf. »Du willst doch nicht etwa versuchen ihnen allen die Erinnerung an das Geschehene aus dem Gedächtnis zu löschen?«
»Warum nicht?« Fi schluckte. »Allerdings könnte dasselbe wie beim letzten Mal geschehen. Ich kann nur hoffen, dass ich es diesmal besser mache.«
»Fi, du weißt doch gar nicht, was dann passiert. Die Magie dieses Amuletts ist völlig unberechenbar.«
»Bitte, Nikk. Lass es mich tun. Morgoya besitzt Mittel und Wege, alles aus einem herauszupressen, was sie wissen will. Und davon nehme ich mich auch selbst nicht aus. Ich muss diese Gefahr im Keim ersticken.«
Nikk betrachtete sie immer noch mit einem Ausdruck aus Unglaube und Dankbarkeit. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Er küsste noch einmal ihre Hand. »Aber eines verspreche ich dir: Dies ist kein Abschied für immer.« Nikk sah sie ein letztes Mal an, lächelte und kletterte zurück ins Meer. Er winkte ihr zu, dann tauchte er mit den Meernymphen ab.
Mit tränenverschleiertem Blick griff Fi nach dem Glyndlamir an ihrem Hals. Dann schloss sie die Augen. »Traumlicht«, flüsterte sie, »lass nicht zu, dass dem Meervolk etwas geschieht!« Der Glyndlamir erstrahlte silberhell. Das Licht breitete sich wellenförmig aus und legte sich über Meer und Schiffe. Fi dachte an den Dreizack. An den Dreizack und das Meervolk. Doch ihre Sorge galt vor allem dem Meervolk.
Als Fi die Augen öffnete, kam es ihr vor, als wäre sie aus einem Traum erwacht. Es war ein sonderbares Gefühl, als hätte sie im Stehen geschlafen. Hinter ihr war der Lärm der Matrosen zu hören und sie sah, wie sich eine Gestalt mit Holzbein näherte. Koggs hielt eine Flasche Schnaps in der Hand. »Was machst du hier ganz allein?« Er starrte über die Bordwand. »Du stehst da, als würdest du nach Nixen Ausschau halten.« Er lachte. »Die gibt es hier übrigens tatsächlich. Es ist wirklich schade, dass Mort Eisenhand sie in Jada’Maar mit seinem Überfall vertrieben hat. Aber der ist Geschichte und in sieben Jahren darfst du mich gern wieder in die alte Elfenstadt begleiten. Wenn wir dann noch leben.«
Der Klabauter zwinkerte. »Und jetzt komm rüber zu uns und feiere mit. Du gehörst immerhin zur Mannschaft.« Koggs nickte ihr aufmunternd zu und lief zurück zum Hauptdeck, wo die Seeleute und Zauberer den Sieg über Mort Eisenhand und den Hexenmeister feierten, dessen versteinerter Leib noch immer auf dem Vorderkastell stand.
Fi folgte dem Klabauter und bemerkte plötzlich, dass sie ein prachtvolles Jagdmesser in den Händen hielt. Der Griff bestand aus Perlmutt und war einem Delfin nachempfunden. Es war wunderschön. Von wem hatte sie das Messer nur?
Fi steckte es kopfschüttelnd in ihren Gürtel.
Sie konnte sich einfach nicht erinnern.