Kapitel 3

»Hi, Febe.« Damien hebt kurz eine Hand in meine Richtung und wendet sich wieder der Flasche Rotwein zu, die er an der offenen Küchentheke stehend entkorkt.

»Hi, Damien«, erwidere ich nicht weniger spröde und streiche mir fröstelnd über die Oberarme.

Joss missdeutet die Geste als Unsicherheit und taucht mit ihrem breiten Grinsen an meiner Seite auf. »Du siehst super aus.«

Ich verdrehe nur die Augen und lasse mich auf einen der Stühle am Esstisch fallen. Joss hat mich den ganzen Nachmittag telefonisch mit Styling-Ratschlägen gequält. Falls ich es wage, in einem meiner grauenhaften Schlabberpullis aufzutauchen, dann – so hat sie gedroht – würde sie ihn mir eigenhändig vom Leib reißen. Stattdessen habe ich mich also für einen eng anliegenden blauen Kaschmirpullover entschieden, der zwar wunderbar weich, aber in Sachen Wärmeisolierung ein Versager ist. Eine schimmernde dunkle Leggins und ein kurzer dunkelgrüner Seidenrock komplettieren mein Outfit. Noch immer kann ich nicht glauben, dass ich mich darauf eingelassen habe, Liam kennenzulernen. Ich fühle mich wie in einer Verkupplungsshow. Wenn von vorneherein feststeht, dass man sich gegenseitig aufs Partnerpotenzial abchecken wird – auch wenn es hier nur um eine Fake-Beziehung geht –, wirkt zwangsläufig alles steif und unnatürlich. Schließlich hat es gleichzeitig etwas zu Intimes und zu Distanziertes, wenn jedes Detail durch die Kompatibilitätsbrille beurteilt wird. Verkupplungsshows bedeuten für mich vor allem eins: Fremdschämen auf höchstem Niveau. Nur dass ich jetzt mittendrin stecke. Ich ahne, dass Joss’ Penetranz nur eine unzureichende Erklärung dafür ist, warum ich hier bin. Die Wahrheit ist: Ich will diesen Skiurlaub. Ich habe ihn mir verdient – ein bisschen Erholung nach der harten Arbeit in diesem Jahr, ein bisschen Auszeit vom Schmerz über Nanas Verlust. Aber darüber hinaus wird eines mit jedem Tag, den Weihnachten näher rückt, klarer: Ich will nicht allein sein in diesen Tagen, in denen sich alle mit ihren Familien um den Tannenbaum versammeln.

Als es an der Tür läutet, zucke ich zusammen. Joss saust in ihrer üblichen Hektik an mir vorbei und droht mir schon halb im Flur mit dem Zeigefinger. »Wag es nicht, Shakespeare zu zitieren. Denk daran, was ich dir gesagt habe.«

Unsexy – das ist das Wort, das Joss dafür gebraucht. Und ich weiß, dass sie recht hat. Bewusst entknote ich meine Hände, die ich ineinander verschränkt habe, und atme tief durch. Damiens Blick lasse ich an mir abprallen, indem ich mich schon mal in Richtung Tür wende. Ihm gegenüber will ich mir meine Unsicherheit bestimmt nicht anmerken lassen. Joss’ ausgelassenes Kichern im Flur mischt sich mit einem warmen Lachen, das sofort ein leises Vibrieren in meinem Bauch auslöst. Ich werde diesen Abend schon überstehen. Letztlich geht es ja nur um so eine Art Ferienjob.

Mit einem ganzen Arm voll Astern, Dahlien und Hortensien kommt Joss zurück in die Küche geflitzt. Ich erhebe mich vom Stuhl und erblicke in der Tür einen zweiten identischen Herbststrauß. Mein Lächeln fühlt sich sperrig in meinem Gesicht an, als ich auf den Strauß zugehe. Dann sinken die Blumen ein Stück tiefer und ich bleibe abrupt stehen, schnappe nach Luft. In diese funkelnden grünen Augen habe ich schon einmal geblickt. Diesmal sind seine blonden Haare ordentlich zurückgekämmt. Die dunklen Brauen konturieren sein perfekt symmetrisches Gesicht. Statt des missmutigen Ausdrucks von unserer unglücklichen Begegnung im Hausflur formen seine sinnlichen Lippen ein zugewandtes Lächeln.

»Du musst Febe sein. Freut mich, dich kennenzulernen.« Er streckt mir seinen Zweitstrauß entgegen. Seine Augen huschen über mein Gesicht, tun sich schwer, meinen Blick festzuhalten – der einzige Hinweis, dass er vielleicht auch nervös ist. Erkennt er mich etwa nicht wieder? Ich muss meine Hände überreden, nach dem verdammten Strauß zu greifen. Warum bringt er mich so dermaßen aus der Fassung? Wahrscheinlich ein Kurzschluss in meinem Kopf. Dieser Typ sieht aus wie ein Male Model, das mit laszivem Blick von einer gigantischen Werbetafel am Piccadilly Circus auf einen runterblickt. Mit meinem Klischee eines Programmierers ist dieser Anblick so wenig vereinbar, dass meine Synapsen einfach überfordert sind. Er könnte der Titelheld des neuesten Saga-World- Action-Games sein. Nicht jemand, der Ahnung von den Algorithmen hinter der Grafik hat.

Fasse dich! Nichts mehr von Schreck! Sag deinem weichen Herzen: Kein Leid geschah . Die vertrauten Worte reißen mich aus meiner Starre. Ich nehme Liam den Strauß ab und reiche ihm meine freie Hand. »Hi, Liam.«

Sein Griff ist fest und warm. Die Berührung verweilt auf meiner Haut.

»Hey, Mann, kriege ich keine Blumen?« Damien lehnt mit verschränkten Armen an der Küchenanrichte, während Joss in einem der Oberschränke nach einer zweiten Vase sucht.

»Du schuldest mir noch einen Bierdeckel vom letzten Kneipenabend«, entgegnet Liam, während er Damien mit Handschlag begrüßt. »Solange gibt es keine Blumen.«

»Du immer mit deinen Bierdeckeln.« Damien verdreht die Augen und weist zum Tisch. »Setzt euch.«

Erst mal muss ich diese Blumen loswerden. Ich geselle mich zu Joss und stopfe die Stiele in die Vase, die sie vorbereitet hat. Pro Strauß muss Liam an die vierzig Pfund ausgegeben haben. Diese Sache scheint ihm echt wichtig zu sein. Oder er hat genug Geld, sich so einen Blödsinn ohne zweiten Gedanken zu leisten. In diesem Moment stößt Joss mir ihren Ellbogen in die Seite und wackelt mit den Augenbrauen. Vorwurfsvoll rempele ich zurück. Hätte sie mich vielleicht mal vorwarnen können, dass Liam mit Typen wie Ben nicht das Geringste zu tun hat? Weil Damien drängelt, damit wir zu essen beginnen, schiebt Joss mich energisch zum Tisch. Die Vorspeise besteht aus Baguette, Oliven und selbst gemachtem Peperoni-Feta-Aufstrich. Ich habe noch nicht mal den ersten Bissen im Mund, als Damien mich auffordert: »Dann erzähl doch mal ein bisschen von dir, Febe, damit Liam beurteilen kann, ob du als Alibi-Freundin taugst.«

Ich schieße ihm einen vernichtenden Blick zu, überspiele mein Unwohlsein jedoch mit einem Lächeln in Liams Richtung. »Klingt nach Bewerbungsgespräch. Wobei mir nicht klar ist, wer sich bei wem bewirbt.« Auf keinen Fall will ich als Bittstellerin dastehen. Was für eine absurde Situation dieses Abendessen ist! Ich bin verdammt froh, dass zu Hause eine riesige Portion Kekse auf mich wartet. Die werden meine Nerven hoffentlich beruhigen, wenn ich zurückkomme.

Das Aufblitzen in Liams grünen Augen lässt mein Herz stolpern. »Ich glaube, Joss hatte diese verrückte Idee, oder?« Sein Lächeln lässt seine Augen silberhell aufblitzen und das macht ihn plötzlich irritierend nahbar. »Überlassen wir ihr doch das Ganze und entspannen uns.«

Ich muss lachen. Steckt hinter Liams perfekter Fassade vielleicht ein netter Kerl?

»Na ja, Febe ist diejenige, die Geld braucht«, schneidet Damiens Stimme dazwischen.

Ich ignoriere ihn, aber Joss lässt ihm den Seitenhieb nicht durchgehen. »Und Liam ist derjenige, der eine Freundin braucht.«

Ihr Kommentar ist Liam sichtlich unangenehm. Er senkt zwar rasch den Blick auf seinen Vorspeisenteller, aber eine leichte Röte habe ich doch in seine Wangen huschen sehen.

Das hier ist nicht nur peinlich, begreife ich in dem Moment. Das Ganze wird schlimmer dadurch, dass sich eine aggressive Grundstimmung zwischen uns schleicht. Wie eine lauernde Katze hockt sie auf dem Tisch. Damien und Joss haben die Fronten klargemacht. Ich aber will das hier so ungezwungen wie möglich durchziehen.

»Ich dachte, wir sitzen hier erst mal ein bisschen gemütlich zusammen. Liams Liebesleben und meinen Kontostand können wir ja vielleicht später noch diskutieren.« Ich bemerke, dass Liam seinen Blick wieder zu mir hebt, sehe jedoch Damien an. »Es sei denn, du willst von deinem Essen ablenken. Dieser Aufstrich ist echt lecker, aber hattest du mir nicht letztes Mal versprochen, nicht wieder eine ganze Knolle Knoblauch in deinem Essen zu verbraten?«

Damien funkelt mich an. Restaurantbesuche mit ihm sind eine Qual. Sätze wie »Ein Steak zu garen ist eine Kunst, die dieser Koch definitiv noch nicht gemeistert hat«, kann ich schon mitsprechen. Er ist der Meinung, ein brillanter Koch zu sein, der nur aus einem Grund eine juristische Karriere eingeschlagen hat: weil er ein noch brillanterer Anwalt ist.

Liam scheint ihn ebenso gern mit seiner Selbstüberzeugung aufzuziehen wie ich, denn er steigt direkt mit in den Ring. »Richtig! Was wird denn im Hauptgang serviert? Letztes Mal war mir dein Roastbeef ein wenig zu durch – fast schon zäh.«

Joss kichert los. »Ihr habt euch aber schnell verbündet.«

»Im richtigen Moment seine Verbündeten zu kennen kann über Sieg und Niederlage entscheiden«, bemerkt Liam.

Neugierig hebe ich die Augenbrauen. »Stammt diese Erkenntnis aus deinen Videospielen?«

Mit einem jungenhaften Grinsen wirft er sich eine Olive in den Mund. »Möglich.«

Völlig ungewollt verfängt sich mein Blick in seinem. Das helle Grün schießt mir wie Sonnenlicht durch die Adern.

»Wer ihn nicht braucht, dem wird ein Freund nicht fehlen, Und wer in Not versucht den falschen Freund, verwandelt ihn sogleich in einen Feind. « In der Millisekunde, bevor Joss’ Fußtritt mich schmerzhaft unter dem Tisch trifft, begreife ich, dass es doch passiert ist. Liam zieht irritiert die Augenbrauen zusammen.

»Moment! Haben wir uns neulich schon mal hier unten im Hausflur gesehen? Da hast du auch schon so was Komisches gesagt. Was soll das heißen?«

Joss’ zweiter Fußtritt gegen meinen Knöchel lässt mich aufstöhnen. Natürlich versucht Joss verzweifelt, mich zum Schweigen zu bringen, doch die Treterei machte mich ärgerlich. Bisher läuft es doch gut mit Liam.

»Das ist Shakespeare«, erkläre ich ungerührt.

Er gibt einen Laut wie ein Husten von sich und greift rasch nach seinem Wasserglas. »Wie kommst du denn auf den?«

»Ich studiere Linguistik und Literatur am Hertford College«, verkünde ich und füge mit einem beinahe trotzigen Gesichtsausdruck in Joss’ Richtung hinzu: »Shakespeare ist mein Schwerpunkt.«

Joss’ gequältes Seufzen untermalt den fragenden Blick, den Liam Damien zuwirft. Damien greift feixend nach seinem Weinglas.

»Das meinte ich damit, dass Febe noch tiefer in der Vergangenheit lebt als du. Deiner Charlotte hängst du ja erst ein Jahr nach. Sie lebt in einer Beziehung mit einem Typen, der seit über vierhundert Jahren tot ist.«

Mit einem Ruck schiebt Joss ihren Stuhl zurück. »Zeit für den Hauptgang.« Sie lässt sich die Vorspeisenteller anreichen und wirft mir einen warnenden Blick zu. Ich habe jedoch keineswegs vor, Damien seine dummen Witze auf meine Kosten machen zu lassen.

»Shakespeare ist mein Forschungsobjekt, Damien, keine Beziehung.«

»Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht ganz, warum irgendwelche lange in die ewigen Literaturgründe eingegangene Dichter heute noch interessant sein sollen.« Liams Kommentar lässt jegliche Sympathien, die ich für ihn hatte, in sich zusammenfallen. »Die sind vielleicht gut, um Schüler im Literaturunterricht zu quälen«, fährt er ungeachtet meiner verengten Augen fort, »aber ehrlich gesagt hatte ich nach einer Stunde das Gefühl, es sei alles zum Thema gesagt.«

Und da ist er: der Beweis, dass sich hinter Liams perfekter Fassade doch nur ein trauriges Nichts verbirgt. Ganz abgesehen davon, dass er offensichtlich nicht den Hauch einer Ahnung von der Vielfalt und Finesse hat, die Shakespeare bietet, ist er ignorant und rücksichtslos.

Kämpferisch blitze ich ihn an. »Wer nur die Oberfläche sehen will, ist eben schnell zufrieden.«

Liams Lächeln wird von einem spöttischen Zug um seinen Mund eingefärbt. »Auch Shakespeare?«

»Den brauche ich nicht für jeden klugen Satz.«

Mit beiden Ellenbogen stützt Liam sich auf dem Tisch ab. »Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin glaubt ans eigene Fach. Aber die Frage ist doch, welche Relevanz das für uns normale Leute hat.«

Ich hebe die Augenbrauen. »Welche Relevanz hat denn irgendwelches Online-Geballer für uns?«

»Online-Geballer?« Offenbar belustigt schüttelt er den Kopf. »Du hast keine Ahnung von Videospielen, oder?«

»Ungefähr so viel wie du von Shakespeare.«

»Febe, kannst du mir mit dem Essen helfen?« Joss’ Ruf aus der Küche ist ein kläglicher Versuch, unsere Diskussion zu ersticken.

Liam sieht mich herausfordernd an. »Was gibt es denn Relevantes über den Typen zu wissen?«

»Die meisten Theorien, wer der Autor Shakespeare gewesen ist, stammen nicht aus der Wissenschaft. Sie verraten uns mehr über die Gesellschaft, in der sie entstanden sind, als über Shakespeare.«

Liams Augenbrauen wandern nach oben. »Das ist mir zu hoch.«

»Das wundert mich nicht. Mich würde trotzdem interessieren, welche Relevanz Videospiele für uns haben, wenn dir Relevanz so wichtig ist.«

Liam gibt ein Schnaufen von sich, als hielte er die Frage für eine Zumutung. »Du lebst wirklich in einem anderen Jahrhundert, oder?«

»Damien.« Joss’ Stimme wird drängender. Kurz fliegt mein Blick zu ihm. Mit genüsslichem Lächeln und Weinglas in der Hand hat er sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Bei Joss’ Ruf erhebt er sich jedoch widerwillig.

»Videospiele sind Entertainment«, erklärt Liam. »Gamer mögen mal in abgedunkelten Räumen gehockt haben, aber heutzutage ist Gaming schick und liegt voll im Trend. Jeder spielt. Überall. Das allein macht es relevant. Wer hingegen liest heute noch Shakespeare?«

Mein Zeigefinger schnellt empor. »Shakespeare wurde erst lange nach seinem Tod zum Literaten verklärt. Zu seiner Zeit war er das Entertainment für die Massen schlechthin. Und zwar auf der Bühne! Lesen konnten seinerzeit die wenigsten.«

Liam zuckt mit den Schultern. »Und heute hat man seine Bühne überall dabei – auf dem Smartphone. Nur auf dieser Bühne kann man direkt ins Geschehen eingreifen.«

»Das haben die Zuschauenden damals auch getan. Wenn die Leute fanden, die Schauspieler taugten im Schwertkampf nichts, sprangen sie auf die Bühne und mischten mit.«

»Echt?«

Ist das Blitzen in seinen Augen Interesse oder Spott? Ich bekomme keine Gelegenheit, es herauszufinden, weil Joss und Damien geräuschvoll die Hauptspeise servieren.

»Rückwärts gegartes Steak vom Galloway-Rind – auf den Punkt«, preist Damien seine Kreation an. »Ofenkartoffeln mit Sour Cream und karamellisierte Möhren.«

»So.« Mit Nachdruck stellt Joss ihren Teller vor sich ab und setzt sich wieder. »Themenwechsel. Erzähl uns von Charlotte und deinem Bruder, Liam.«

Liams Hand, die mit der Gabel auf dem Weg zum Mund war, verharrt mitten in der Luft.

»Ihr kennt euch schon seit der Highschool, nicht wahr? Und dann hat sie sich einfach so für deinen Bruder entschieden?«

Zögernd nickt Liam. »Vor einem Jahr etwa.«

Damien schnaubt abfällig. »Ich verstehe nicht, warum du sie nicht endlich in den Wind schießt.«

»Damien«, tadelt Joss. »Das nennt man Liebe.« Sie legt mir kurz den Arm um die Schultern. »Febe ist total einfühlsam, Liam. Sie ist die perfekte Alibi-Freundin.«

Peinlich berührt schüttele ich ihren Arm ab. Joss schafft es, dass ich mich wie das neue Designprodukt eines Start-ups fühle. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, gibt Damien einen abschätzenden Laut von sich.

»Um Charlotte eifersüchtig zu machen, wäre sexy deutlich besser als einfühlsam.«

»Eifersüchtig?« Sofort alarmiert lasse ich meine Gabel sinken.

Auch Joss blickt mit erhobenen Augenbrauen zwischen Liam und Damien hin und her. »Ich dachte, es geht um moralische Unterstützung.«

Damien verdreht die Augen. »Charlotte soll kapieren, dass Liam die bessere Partie ist und sie einen Fehler macht.«

Ungläubig ziehe ich die Augenbrauen hoch. Was soll diese Charlotte für eine Frau sein, wenn Liam davon ausgeht, dass sie ihn erst für seinen Bruder sitzen lässt, um es sich dann bei nächster Gelegenheit wieder anders zu überlegen?

Joss hingegen scheint die neue Sachlage rasch zu verarbeiten. »Febe ist total sexy.«

Ich stoße sie in die Seite. Dieses Abendessen befindet sich auf einer Steilfahrt in die Katastrophe.

»Sie weiß nicht, was für eine Braut Charlotte ist«, kommentiert Damien mit vollem Mund. In der darauffolgenden Stille gewinnen seine Worte unangenehm viel Gewicht. Liams Weinglas landete zu laut auf der Tischplatte.

Joss schnaubt aufgebracht und starrt Damien herausfordernd an. »Und was für eine Braut ist Charlotte?«

Ungerührt zuckt Damien mit den Schultern. »Eine glatte Zehn.« Als ihm Joss’ gefährlich verengte Augen auffallen, beugt er sich tiefer über seinen Teller. »Früher zumindest. Ich habe sie ja länger nicht gesehen.«

Obwohl Alkohol und mein Stoffwechsel keine gute Kombination sind, greife ich beherzt nach meinem Weinglas und leere es in wenigen Schlucken. Das war ja zu erwarten. Jemand mit einem ›Cover Magazine‹-Gesicht wie Liam würde sich nicht mit weniger als einer glatten Zehn zufriedengeben.

»Ich will ja nur sagen, dass Charlotte super aussieht. Und sie weiß es«, verteidigt sich Damien, der noch immer im Fadenkreuz von Joss’ Blick grillt. »Da muss man sich etwas mehr einfallen lassen als ein nettes Lächeln.«

Hitze steigt mir in die Wangen. Vielleicht ist der Wein schuld oder die Unverfrorenheit, mit der Damien zum Ausdruck bringt, was er von mir hält. Natürlich habe ich immer geahnt, wie er mich sieht: eine harmlose, leicht verschrobene, aber weitestgehend langweilige Leseratte, der er hin und wieder in seinem Wohnzimmer begegnet.

»Lass das mal Febes Sorge sein«, weist Joss ihn zurecht.

»Febe muss wissen, worauf sie sich einlässt. Liam gibt doch nicht so viel Geld aus und am Ende hat er gar nichts von der Sache.« Zustimmungsheischend sieht er Liam an. »Erklär du es ihnen.«

Liam fasst sein Besteck fester. Sein Blick streift mich. Dann wendet er sich mit einem Grinsen an Damien. »Wieso? Sie sieht doch voll in Ordnung aus.«

Damien beugt sich über seinen Teller. »Eine Zehn ist sie nicht.«

Ich habe eine verdammte Lust, ihm einen Tritt vors Schienbein zu verpassen. Dazu müsste ich jedoch eine enorme Treffsicherheit diagonal unter dem Tisch unter Beweis stellen und die traue ich mir nicht zu. Joss übernimmt das augenblicklich für mich. Zumindest, wenn ich ihren empörten und Damiens schmerzverzerrten Gesichtsausdruck richtig deute. Trotzdem bin ich kurz davor, einfach aufzustehen und zu gehen. Damiens idiotische Attraktivitätsskala ist einfach nur demütigend. Ich presse die Lippen zusammen. Doch Liam muss noch einen draufsetzen: »Eine Acht schafft sie.« Jetzt grinst er in meine Richtung.

Damiens Feixen ist ein Schlag ins Gesicht. »Mag sein.«

»Alles klar.« Sorgsam lege ich meine Gabel auf den Teller, den ich nicht mal halb leer gegessen habe. »Ich denke, dieses Gespräch könnt ihr auch ohne mich fortsetzen.«

»Febe!«, ruft Joss erschrocken.

Doch ich wende mich mit nur scheinbar kühler Gelassenheit an Damien: »Da du so scharf auf Blumen warst, wirst du dich freuen, dass ich dir den Strauß hierlasse.«

»Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt«, versucht er, mich aufzuhalten. »Das war doch nur Spaß.«

»Mit zweien, die lachen, und einer, die sich einfach dumm vorkommt.« Mein Blick richtet sich auf Liam, dessen Miene eingefroren wirkt. Seine Augen schimmern in hellem Grün. »Nichts für ungut, aber hätte ich gewusst, dass es nur darum geht, ob mein BMI stimmt, meine Körbchengröße überzeugt und ich meinen Arsch in Szene zu setzen verstehe, hätten wir uns das hier sparen können.« Kurz klopfe ich auf die Tischplatte. »Einen schönen Abend noch.«

Und Abgang. Wow! Shakespeare wäre stolz auf mich gewesen. Ich bin bereits an der Tür, als Joss mich einholt. Sie findet mich auf einem Bein hüpfend, während ich versuche, in meine Stiefel zu gelangen.

»Febe, warte doch.« Ihre blauen Augen sind geweitet vor Bestürzung. »Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in Damien gefahren ist.«

Mir tut es nicht weniger leid für Joss. Ich weiß, sie ist bereit, alles zu tun, damit es mir gut geht – auch wenn sie dabei manchmal übers Ziel hinausschießt. Ich erwidere ihre Umarmung. »Mach dir keine Sorgen. Ich muss mir nur nicht alles gefallen lassen.«

Ich werfe ihr ein beruhigendes Lächeln zu. Als ich die Tür öffne, wirbelt sie herum und stürmt zurück in die Küche.

»Damien, du hast dich wie ein Riesenarsch aufgeführt!«, höre ich sie schimpfen, ehe der dunkle Hausflur mich schluckt. Ich schlinge meinen Schal ein weiteres Mal um meinen Hals und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Die tiefe Traurigkeit, die mir kalt in den Knochen steckt und gegen die kein Schal der Welt ankommt, hat nichts mit dem zu tun, was Damien gesagt hat. Sondern damit, dass jetzt tatsächlich gar nichts mehr zwischen mir und meinem einsamen Weihnachten steht. Schließlich steige ich an der Haltestelle Park Town aus dem Bus und freue mich richtig darauf, von Hamlet begrüßt zu werden. Ich freue mich auf Nanas gemütliches Häuschen mit den geblümten Sofas, den Bücherregalen und den Fotos aus über achtzig Jahren Lebenszeit. Weihnachten werde ich mit Hamlet und der Erinnerung an Nana verbringen. Vielleicht kaufe ich sogar einen kleinen Weihnachtsbaum. Und ein Geschenk für Hamlet. Ans Alleinsein bin ich gewöhnt. Und jetzt geht es nur um ein paar Tage, in denen es noch stiller ist.