Wie alles in der Weihnachtswoche von Liams Familie ist das Weihnachtsessen extrem. Ich muss mir bald den Bauch halten. Nicht nur, weil ich wahrscheinlich noch nie in meinem Leben so viel gegessen habe, sondern auch, weil ich nicht mehr kann vor Lachen. Flora sitzt mit knallrotem Kopf, einem dicken Eierlikör-Schwips und hochzufrieden über ihr Essen am Tisch und schimpft mit jedem, der den Eindruck erweckt, eine Pause einlegen zu wollen. Ich bin keine große Fleischesserin, muss aber zugeben, dass Flora ihren Truthahn ziemlich perfekt hinbekommen hat: saftig und mit goldfarbener Kruste. Dazu gibt es riesige Schalen mit Bergen von Kartoffeln, gerösteten Pastinaken und Rosenkohl mit Johannisbeeren und Pinienkernen. Auch nachdem wir alle unsere Teller vollgeschaufelt haben, sehen die Platten noch überladen aus. Dazu gibt es eine Cranberry- und eine Brotsoße. Dass die helle Tischdecke bald mit beiden ziemlich vollgekleckert ist, liegt bestimmt auch daran, dass Christopher großzügig den Wein ausschenkt. Er ist dabei der Einzige, der über Floras Überdrehtheit immer wieder den Kopf schüttelt. Alle anderen lachen über ihre Kabbeleien mit Matt, der behauptet, ohne ihn hätte sie ihren Küchenkrisenmarathon niemals bewältigt. Ich bin geneigt, ihm zu glauben. Zumal Joan mehrmals betont, wir alle seien ohne Matt verloren an Weihnachten, wobei sie ihm liebevoll durch die Locken wuschelt. Sie hat den Esstisch mit Stechpalmenzweigen, goldenen Kugeln, roten Schleifen und stilvollen cremefarbenen Kerzenleuchtern geschmückt. Die Christmas Cracker – und damit wiederum den Spaßfaktor – hat Matt beigesteuert. Nach kurzer Zeit sind nicht nur der Tisch und der Fußboden, sondern auch wir und das Essen von Konfetti übersät. Wir tragen Papierkronen auf den Köpfen und lachen uns kaputt über die saudummen Witze, die von den Knallbonbons ausgespuckt werden. Joan sorgt dafür, dass wir pünktlich um 15 Uhr vor dem Fernseher sitzen, um die Weihnachtsansprache der Queen zu hören. Sie ist, glaube ich, die Einzige, der dieser Programmpunkt wichtig ist. Aber alle anderen akzeptieren ihre Begeisterung, reißen sich zusammen und hören ausnahmsweise in aller Stille zu, bis die Queen ihren Weihnachtsgruß beendet hat.
»Das war der Höhepunkt«, neckt Matt seine Mum. »Jetzt kann es nur noch abwärtsgehen.«
»Vor allem, weil Granny gleich ihren Christmas Pudding serviert«, stichelt Liam.
Flora nennt ihn einen schlimmen Jungen, steht aber sofort auf – wahrscheinlich, um besagten Pudding zu holen. Ein kollektives Stöhnen geht durch die Familie. Alle sind so vollgestopft, dass sich keiner mehr rühren kann.
Der Nachmittag vergeht mit noch mehr Essen. Floras Christmas Pudding steckt voller Nüsse und getrockneter Früchte, ist wahnsinnig lecker, liegt mir aber tonnenschwer im Magen. Trotzdem kann ich nicht aufhören, Kekse zu futtern. Obwohl ich bald wie eine Stopfgans in einer Sofaecke lungere, fühle ich mich rundum wohl. Ich kann es nicht leugnen: Weihnachten mit Liams Familie macht mich glücklich – ein Gefühl wie funkelnde Lichterketten in meinem Bauch. Liams ausgelassenes Lachen über die Kabbeleien mit seinen Brüdern macht mich glücklich. Und dann ist da dieses Gefühl, dass sich irgendetwas zwischen uns verändert hat. Vielleicht liegt es daran, dass wir den Vormittag zusammen verbracht haben, weil wir es wollten – nicht, weil wir es mussten. Wenn ich jetzt seinen Blick auffange, wenn er mir sein schalkhaftes Lächeln zuwirft, wenn wir uns flüchtig berühren, dann habe ich das Gefühl, etwas habe sich verselbstständigt. Die Show, die wir abliefern wollten, verflüchtigt sich zunehmend in den Hintergrund. Was stattdessen wächst, fühlt sich echt an – gefährlich echt. Zumindest für mich. Und für Liam? Auch wenn er Zweifel hat, ob Charlotte noch ist, was er will, bedeutet es nicht, dass er stattdessen mich will. Während des Vormittags habe ich diese verwirrend schöne Verbundenheit mit ihm gespürt. Aber ich habe keine Ahnung, was dieses Gefühl bedeutet. Ist die Zeit bei seiner Familie vielleicht einfach eine Episode, die ich mehr genieße, als ich mir vorstellen konnte, weil sie mich über meine Einsamkeit hinwegtröstet?
Ich bedanke mich bei Christopher, der neben mir auf dem Sofa sitzt und Tee nachschenkt. Kurz puste ich in die Tasse und nippe vorsichtig daran. Wie Christophers Schachspiel mit Nelson ausgegangen ist, habe ich nicht mitbekommen. Als ich plötzlich fröstle, sehe ich mich um. Die Terrassentür steht zum Lüften weit offen. Dunkelheit hat sich im Garten verdichtet, lungert auf der Terrasse herum, als warte sie nur darauf, mit der eisigen Abendluft ins Haus zu strömen. Liam lehnt wie ein Wächter neben der offenen Tür und Charlotte lacht hell über irgendetwas, das er gesagt haben muss. Ich sehe, dass er weiterspricht, verstehe aber seine Worte nicht. Anscheinend verpasse ich etwas, denn Charlotte lacht nun so sehr, dass sie mit der Hand Halt an seinem Arm suchen muss. Ich stelle meine Teetasse zurück auf den Porzellanuntersetzer auf dem Couchtisch und atme seufzend aus. Lüften mag in dem überhitzten Raum eine gute Idee sein, aber ich glaube, ich brauche mal eine richtige Abkühlung. Außerdem sollte ich endlich Joss zurückrufen, was ich immer noch nicht geschafft habe.
»Ich gehe mal mit Hamlet vor die Tür«, verkünde ich.
»Alles klar.« Nelson sucht sein Weinglas zwischen den anderen auf dem Tisch und steuert mit starrem Blick auf Liam und Charlotte zu. Offensichtlich gefällt ihm ihre Vertraulichkeit nicht und er will die beiden nicht zu lange sich selbst überlassen. Ich suche mein Telefon, das ich irgendwo zwischen Servietten und Knallbonbon-Resten auf dem Esstisch finde, und rufe Hamlet zu mir. Eifrig folgt er mir in den Eingangsbereich und wartet wedelnd, während ich mir Stiefel und Jacke überziehe.
»Stört es dich, wenn ich ein paar Schritte mitkomme?« Matt taucht im Flur auf.
»Nein, gar nicht.« Unauffällig lasse ich das Telefon in meiner Tasche verschwinden. Matt ist mit seiner unkompliziert direkten, manchmal frechen Art viel zu sympathisch, um ihn abzuweisen.
»Super, ich brauche dringend Bewegung, bevor ich vollkommen versumpfe.« Matt schnappt sich seine Jacke, verzichtet aber, anders als ich, auf Schal und Mütze und folgt mir nach draußen. »Ich liebe Weihnachten«, erklärt er mir. »Aber manchmal, glaube ich, all die Kilometer, die ich im Verlauf eines Jahres jogge, sind nur dazu da, diese Völlerei zu überstehen.«
Beim Lachen verschlucke ich mich fast an der eisigen Luft, die mir auf den Treppenstufen draußen in die Lunge dringt. Mein Atem steigt in Wolken auf und zeichnet sich im Licht der Straßenlaternen als helles Gespinst vor der Dunkelheit ab. Während Hamlet mit der Nase am Boden zum Bürgersteig strebt, vergrabe ich mich tiefer im Schal.
»Ich habe nichts gegen Weihnachten, aber dem Winter kann ich nicht viel abgewinnen.«
»Nein?« Matt folgt mir auf die Straße. »Was hast du gegen den Winter?«
Über die Schulter sehe ich ihn an. »Zu kalt.«
Flüchtig muss ich an Liams Worte denken, im kalten Winter werde ihm warm ums Herz.
»Verstehe.« Matt klimpert mit seinem Schlüssel. »Wollen wir in den Park?«
Hamlet und ich lassen uns von ihm auf der anderen Straßenseite das schmiedeeiserne Tor aufhalten. Es ist still und dunkel im Park. Matt lässt sein Handylicht aufleuchten.
»Was ist für dich denn eine adäquate Temperatur?«
Ich hauche ein helles Wölkchen in das Handylicht. »Wenn meine Atemluft nicht gefriert und mir der Wind nicht quer durch die Ohren pfeift, ist es für mich akzeptabel.« Kies knirscht unter unseren Schuhen, während wir langsam über einen der Wege schlendern. Hamlet verschwindet schnüffelnd im dunklen Gebüsch am Wegesrand. Das Handylicht geistert über verlassene Wege, eine von Raureif überzogene Wiese und kahle Baumkronen. Der Wind lässt die Zweige der Bäume frostig gegeneinanderklappern.
»Aber ich finde nicht alles schrecklich am Winter«, räume ich ein. »Ich mag die Lichter, den Moment, wenn man aus der Kälte nach drinnen ins Warme komme. Kakao vorm Kamin schmeckt garantiert zu keiner anderen Jahreszeit so gut. Und ich mag die Farbe des Sonnenlichts.«
»Die Farbe des Sonnenlichts?«, wiederholt Matt überrascht.
Ich erinnere mich an den Sonnenschein von heute Vormittag – mein Gesicht im Licht am Albert Memorial , Liam und ich in den Kynance Mews, die Sonne auf Liams Haut.
»Das Winterlicht ist weich – eine Mischung aus Rosa und Gold.« Alles an dir ist goldfarben . Die Nervenfasern in meinem Bauch leuchten auf wie ein Kurzschluss in einer Lichterkette.
»Bei nächster Gelegenheit werde ich darauf achten«, verspricht Matt. »Aber morgen soll es schneien.«
Ich sehe ihn von der Seite an. Er ist nicht mehr als ein dunkler Schatten neben mir. »Das glaubst du doch selber nicht.«
»Der Wetterbericht hat es gesagt.«
»Es hat seit Jahren keinen Schnee an Weihnachten gegeben.«
»Wenn es morgen schneit, baust du mit mir einen Schneemann.«
»Wenn es morgen nicht schneit, singst du mir einen deiner Songs vor«, entgegne ich.
Ich höre Matt leise lachen. »Das mache ich auch ohne Gegenleistung.«
»Aber einen von deinen eigenen.« Der Wind ist so kalt, dass meine Finger steif frieren. Ich puste darauf und ziehe die Ärmel darüber. »Liam hat mir erzählt, dass du eigene schreibst.«
»Das stimmt. Ich bin es gewohnt, im Pub zu spielen, auf Hochzeiten oder einfach auf der Straße. Da kenne ich niemanden. Das ist anonym. Jemandem aus der Familie vorzusingen ist etwas anderes.«
»Ich bin ja nicht deine Familie«, entgegne ich grinsend. »Und ich würde mich freuen.«
»Okay, ist versprochen.« Matt stößt mich mit dem Ellenbogen in die Seite. »Ich muss mich noch bei dir für euer Geschenk bedanken. Ihr seid die Einzigen, die mir nichts Nützliches geschenkt haben und ich rechne es euch hoch an.«
»Das war ja Liams Geschenk.«
»Liam hat mir jahrelang Gutscheine zu sämtlichen Anlässen des Jahres geschenkt«, gibt Matt mit einem Schnauben zurück. »Also erzähl mir nichts.«
»Liam brauchte vielleicht einen kleinen Anstoß«, gebe ich zu. »Aber er war derjenige, der wusste, dass du Passenger magst.«
»Er hat mich ja auch schon öfter spielen gehört. Meine Eltern wüssten das gar nicht.« Die plötzliche Bitterkeit in seiner Stimme lässt mich aufhorchen.
»Deine Eltern haben dich noch nie spielen gehört?«
Sein Schatten neben mir hebt die Schultern. »Meine Mum ist mal in einen Klub gekommen, um mich zu sehen. Sie fand mich natürlich großartig. Da habe ich schon jahrelang auf der Straße gespielt – anfangs noch während der Schulzeit. Liam und Granny haben mich oft besucht. Die anderen haben, glaube ich, keine Ahnung, dass ich mittlerweile Fans habe, die mir überallhin folgen. Ich werde gebucht. Ich nehme Musikclips auf. Aber die Straßenkonzerte mag ich am liebsten.«
»Interessiert das deine Eltern denn nicht?« Joan mit ihrer Aufgeschlossenheit und Herzlichkeit wirkt ihren Söhnen gegenüber so zugewandt. Und Matt ist ihr von den dreien am ähnlichsten. Für mich ist unvorstellbar, dass ihr seine Leidenschaft nicht wichtig ist.
»Nach der Philosophie meines Dads darf er sich nicht für meine Musik interessieren, um mich nicht darin zu bestärken. Er wartet darauf, dass ich zur Vernunft komme und Medizin studiere. Und Mum …« Sein Seufzen verrät seine Frustration. »Mum tut fast immer, was Dad will.«
Ich orientiere mich in der Finsternis des Parks an ihm und ziehe Hamlet hinter mir her, als er schon wieder in einem Busch verschwinden will.
»Das tut mir leid. Man wünscht sich wahrscheinlich immer die Wertschätzung seiner Eltern. Ich finde es wahnsinnig mutig, dass du unabhängig davon tust, was du willst. Du und Liam.«
»Liam musste einiges mehr aushalten als ich. Er hat alle Bekehrungsversuche unseres Dads abbekommen. Hätte Mum nicht vermittelt, würden die beiden womöglich kein Wort mehr miteinander reden. Vielleicht hat er es dir erzählt.«
Zumindest angedeutet. Ich habe es aus einigen Antworten herausgelesen, die er in der App gegeben hat. Wer ist dein Vorbild? – Nicht mein Dad. Wer ist dein größter Unterstützer? – Ich selbst. Was war dein größter Erfolg? – Das weiß auch in meiner Familie niemand. Danach wirst du nicht gefragt.
»Dad hat ihn als Taugenichts und größte Enttäuschung seines Lebens bezeichnet. Und dann hat Charlotte ihn mit Nelson betrogen. Ich vermute, weil Nelson Arztkittel und Liam Motto-Shirts trägt – also zumindest hat er das bis vor Kurzem. Glaub mir, du passt viel besser zu Liam.«
Ich lache auf. »Woher willst du das wissen?«
»Sehr einfach. Liam ist im Grunde ein Nerd, der sich vor allem für seine Spielewelten interessiert. Charlotte hingegen glaubt nicht an Träume, nur an Erfolg im echten Leben.«
»Zum Glück fällt das ja manchmal zusammen.«
»Eben. Du glaubst daran. Sie nicht. Nelson mit seiner Geradlinigkeit entspricht besser als Liam Charlottes Anforderungen. Und auf ihn sind Mum und Dad stolz.«
»Bestimmt sind sie auf Liam und dich auch stolz. Wahrscheinlich müssen sie sich noch damit abfinden, dass euer Bestes nicht das ist, was sie dafür halten.«
Matt sieht mich von der Seite an und ich glaube, ein Lächeln in seiner Stimme zu hören. »Damit könntest du recht haben. Dabei müsste Mum es besser wissen. Sie war Fotografin und hat ihren Beruf für Dad aufgegeben.«
»Vielleicht war ihr Traum nicht so groß wie eurer.«
»Oder Dad hat sie einfach überrollt mit seiner Stringenz.« Er spricht das Wort mit genügend Spott in der Stimme aus, dass ich mir sicher bin, es handelt sich um einen Begriff, den Christopher oft verwendet. Aus der Dunkelheit taucht das Tor vor uns auf. Die Straßenlaternen vom Thurloe Square leuchten milchig zu uns herüber. »Ich finde jedenfalls, dass Liam einen guten Tausch gemacht hat. Er war immer eher LAN -Party- als Schulballtyp. Ich persönlich glaube nicht, dass er sich in der Rolle sonderlich wohlgefühlt hat.«
Langsam gehen wir über die Straße zurück zum Haus. Hamlet verteilt noch rasch ein paar Markierungen an Straßenlaternen und Zäunen.
»Ich hatte schon Angst, dieses Weihnachten würde komplett eskalieren, aber zum Glück kam ja alles anders.« Matts im Licht der Straßenlaternen verwaschenes Lächeln wirkt so herzlich, dass mir das schlechte Gewissen doch wieder im Nacken sitzt. »Entschuldige, dass ich dich so vollgequatscht habe. Schüttet Liam dir auch so sein Herz aus? Liegt das an dir?«
Ich muss lachen, erinnere mich daran, wie Nana immer sagte, der Schlüssel, damit Leute einen mögen, sei gutes Zuhören.
»Ihr erzählt beide einfach gut«, entgegne ich und höre in diesem Moment dumpf den Klingelton meines Telefons aus meiner Jackentasche. Ich ziehe es auf den Stufen zur Haustür hervor und entdecke Joss’ Namen auf dem Display.
»Entschuldige, da muss ich kurz rangehen.«
Matt nickt und nimmt mir Hamlets Leine ab. »Wir gehen schon rein.«
»Jo?« Ich halte das Telefon an mein Ohr, spüre, wie die Kälte mir in die Fingerspitzen beißt, und schlinge den freien Arm nach Wärme suchend um meinen Brustkorb.
»Febe, endlich!« Joss’ Stimme ist durchdringend wie immer. Ich muss schmunzeln. Es tut mir schon jetzt gut, mit ihr zu sprechen.
»Frohe Weihnachten«, sage ich und stampfe ein bisschen mit den Füßen auf der Stelle. Neben der Haustür stemmen sich zwei Lampen gegen die Dunkelheit. Auf den Steinfliesen vor den Treppenstufen mischt sich ihre Helligkeit mit dem gelbstichigeren Ton des Laternenlichts. Rechts und links von mir verliert sich der Vorgarten mit seinen kahlen Sträuchern rasch in der Finsternis. Dafür, dass wir mitten in London sind, ist es ungewöhnlich still.
»Weihnachten oder nicht, wie geht es dir?«, will Joss sofort wissen.
»Gut«, antworte ich in dem Bewusstsein, dass ich mich bedeckt halten sollte für den Fall, dass mich jemand hört. »Wie läuft es im Wellness-Hotel?«
»Febe!« Joss’ Stimme wird so schrill, dass ich den Hörer ein Stück vom Ohr weghalten muss. »Ich versuche seit gestern, dich zu erreichen und du willst mich mit einem verdammten gut abspeisen? Details! Sofort!«
Ich seufze und meine ganze Ratlosigkeit wird in einer Wolke Dunst sichtbar, die sich schnell in der Nacht verflüchtigt. Rasch blicke ich mich noch einmal um, aber ich bin vollkommen allein hier draußen.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll. Liams Familie ist großartig. Weihnachten ist hier ein echter Marathon. Ich bin einfach nicht dazu gekommen, dich zurückzurufen. Wir haben gestern erst das Haus geschmückt und Kekse gebacken. Heute haben sich die Geschenke im Wohnzimmer bis unter die Decke gestapelt. Es hat ewig gedauert, alles auszupacken. Und seither habe ich gefühlt nur gegessen.« Und bin mit Liam durch Kensington spaziert. Warum habe ich diesen Programmpunkt verschwiegen? Ich ahne es, noch während mir die Frage durch den Kopf schwebt: weil er sich zu echt angefühlt hat.
»Also kaufen sie euch das Paar voll ab?«
»Sieht so aus.«
Joss schweigt einen Moment lang und ich wippe auf den Zehenspitzen. »Wie seltsam ist es, mit Liam das Liebespaar zu spielen? Eins ist kein bisschen seltsam, zehn ist furchtbar komisch.«
Himmel, wie soll ich so eine Frage beantworten? Ich glaube, während der drei Tage, die ich bisher mit Liam verbracht habe, bin ich kontinuierlich von oben bis unten durch die von Joss beschriebene Skala gerauscht. Also halte ich mich an die Mitte. »Sechs ungefähr.«
Joss gibt einen unzufriedenen Laut von sich. »Wie muss ich mir das vorstellen? Schlaft ihr im selben Bett? Haltet ihr Händchen? Habt ihr euch geküsst?«
»Ja, nein und so halb.« Unseren Kuss als halb zu bezeichnen, wird ihm nicht in geringster Weise gerecht. Bei dem Gedanken an Liams forschende Lippen auf meinen bekomme ich noch immer Lichterkettenkurzschlüsse in meinen Nervenenden.
»Was soll das denn heißen? Jetzt erzähl doch mal. Lass mich nicht so verhungern.«
Ich muss lachen. Joss’ Neugier ist legendär. Ich habe sie immer damit aufgezogen, Psychologie nur in der Hoffnung studiert zu haben, dadurch Gedanken lesen zu lernen. »Es war ein Kuss unterm Mistelzweig.«
»Vor allen Leuten? Wie war es?«
»Ein Mistelzweigkuss eben – nichts Besonderes.« Die Lüge brennt mir in den Wangen. Ich wünschte, ich könnte es selbst glauben.
»Febe, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass so etwas keine große Sache für dich ist.«
Sie kennt mich zu gut. Ich seufze tief, bin aber trotzdem nicht bereit, es ihr oder mir einzugestehen. »Du hast mir ja im Vorhinein lange genug ins Gewissen geredet, und jetzt tue ich das, was du mir gesagt hast: Ich passe auf mich auf. Es sind ja nur ein paar Tage. Dann hast du eine ganze Woche lang Zeit, mich auszuhorchen.«
Joss kichert. »Das stimmt nicht. Wir werden sehr viel damit zu tun haben, dich unter den Skilehrern an den Mann zu bringen, solange wir uns noch nicht auf der Piste die Beine gebrochen haben.«
Nur scheinbar gequält stöhne ich auf. »Ich freue mich jetzt schon.«
Es stimmt tatsächlich: Dass ich direkt im Anschluss an die Weihnachtswoche mit Joss in den Skiurlaub starten werde, ist ein Segen. Denn die Alternative wäre, dass ich den bunten, viel zu lauten, aber auch wahnsinnig charmanten Familienwahnsinn gegen die traurige Stille in Nanas Häuschen eintauschen müsste. Im Kontrast würde mich meine Einsamkeit nur noch härter treffen.
»Was ist mit Charlotte?«, will Joss wissen. »Wie kommst du mit ihr klar?«
»Okay, denke ich. Sie ist nett. Und der Plan geht möglicherweise auf. Nelson und sie wollen heiraten, aber sie hat eigentlich nur Augen für Liam. Es würde mich wundern, wenn da keine Gefühle mehr wären.«
Die Mischung aus kalter Luft, ehrlichen Worten und durch Joss die Verbindung zu meinem richtigen Leben haben einen wunderbar ernüchternden Effekt – schmerzhaft, aber hoffentlich auch heilsam.
»Also versucht Liam tatsächlich, sie mit dir eifersüchtig zu machen? Das tut mir leid.«
»Ich werde es überleben. Wie kommt es eigentlich, dass du sie nie kennengelernt hast?«
»Liam und Damien ziehen fast immer mit ihren Kumpels um die Häuser. Da bieten sich nicht so viele Gelegenheiten. Ich glaube, ich habe sie schon ein- oder zweimal irgendwo gesehen, aber da ist sie mir nicht so aufgefallen.«
Das halte ich für eine glatte Lüge. Wahrscheinlich haben Joss und Charlotte intuitiv einen Bogen umeinander gemacht, um sich gegenseitig nicht das Licht an der Sonne streitig zu machen.
»Und weißt du noch bei unserer Hochzeit? Damiens Trauzeuge hat doch kurzfristig abgesagt.«
Dieses Drama steht mir noch klar vor Augen. Damien hat getobt, als sei er von seiner Braut direkt vor dem Altar betrogen worden. Und als ginge es an diesem Tag nur um ihn. Er war das absolute Ebenbild einer Brautzilla – nur, dass sich unsere Sprache für einen hysterisch-narzisstischen Bräutigam keine adäquate Beleidigung hat einfallen lassen.
»Das war Liam?«, erkundige ich mich.
»Ja, und zwar weil in Charlottes Familie einige Tage zuvor jemand gestorben war und die Beerdigung am Tag nach unserer Hochzeit stattfinden sollte«, berichtet Joss. »Damien hat nicht eingesehen, dass Liam mit Charlotte zur Beisetzung fuhr, statt zu unserer Party zu kommen. Er hat vermutet, Charlotte habe nur eine Ausrede gesucht. Angeblich hat sie ihn noch nie gemocht.«
Das kann ich Charlotte ehrlicherweise nicht übel nehmen.
»Also hier entsteht der Eindruck, Charlotte habe Liam gegen Nelson eingetauscht, weil er die Karriere einschlägt, die sie sich für ihren Ehemann wünscht. Nelson sieht super aus, kleidet sich teuer, fährt ein schickes Auto und achtet immer darauf, Charlotte, die Türen aufzuhalten, den Stuhl zurechtzurücken, ihr in den Mantel zu helfen und Wein nachzuschenken. Ich glaube, das sind Dinge, die sie von Liam nicht bekommen hat. Jetzt gibt Liam sich Mühe, ihr an mir vorzuführen, dass er auch so sein kann. Für mich fühlt sich das nach Show an. Aber ich glaube, bei Charlotte funktioniert es. Fragt sich, wie lange er das durchhalten würde, wenn sein Plan aufginge.« Ein Seufzen kann ich an dieser Stelle nicht unterdrücken, was Joss keineswegs entgeht.
»Was war das denn? Geht dir das doch näher, als du zugibst?«
»Nein, das ist es nicht«, behaupte ich. »Mich stresst die Gesamtsituation. Du kennst mich doch. Denk an meine Erfahrungen im Schauspielkurs.«
Ein knirschendes Geräusch lässt mich aufhorchen. Suchend drehe ich mich zur Straße um, kann in der Dunkelheit auf dem Gehweg aber nichts erkennen. Joss’ Kichern lenkt mich ab.
»Ich weiß, dieses Trauma sitzt tief. Und deshalb kannst du mir auch nichts vormachen. Liam ist megaheiß und du teilst dir das Bett mit ihm. Sag mir, dass du nachts keine feuchten Träume hast.«
»Jo«, beschwere ich mich, »ich versuche einfach, nicht hinzusehen.«
»Oh mein Gott, du stehst auf ihn«, ruft Joss begeistert. »Ich sitze hier im Bademantel in einem verdammten Spa und kann nicht dabei sein, während meine beste Freundin zum ersten Mal einen Typen begehrt.«
»Quatsch«, protestiere ich. »Außerdem ist es doch nicht zum ersten Mal.«
»Febe, deine bisherigen Typen mögen dir intellektuell gewachsen gewesen sein, aber optisch bist du weit hinter deinen Möglichkeiten zurückgeblieben. Es ist also nur zu begrüßen, wenn Liam mit seinem Sixpack deinen Hormonen ein bisschen Lebenslust einheizt. Und ich weiß, dass er eins hat. Er geht mit Damien zum Sport.«
»Das habe ich längst bemerkt«, brumme ich nur. Noch einmal beobachte ich die Straße, aber dort ist alles still und dunkel. Nur die Straßenlaternen malen in regelmäßigen Abständen ihre Lichtkreise aufs Pflaster.
Joss quietscht mir unangenehm ins Ohr. »Du hast ihn nackt gesehen?«
»Nur halb.«
»Halber Kuss, halb nackt … Febe, da geht doch was.«
»Unsinn«, wehre ich mich ärgerlich gegen ihre Einmischungsversuche. »Überhaupt nicht.«
»Aber es spricht doch nichts dagegen, eine heiße Nacht mitzunehmen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Wirklich, Febe! Lass dir das nicht entgehen, wenn du die Chance hast. Du solltest endlich herausfinden, was so ein Mann mit dir anstellen kann, der nicht nur Romeo-und-Julia-reifen Herzschmerz im Kopf hat.«
Irgendwo zwischen Verärgerung und Belustigung muss ich lachen. Insbesondere Lucas, mit dem ich letztes Jahr eine Zeit lang ausgegangen bin, tut sie unrecht. Er war klug, vielleicht ein wenig schwermütig, im Bett vielleicht etwas ungewöhnlich, aber gut. Wenn er sich über meinen Körper abwärts küsste, hauchte er Liebesgedichte von Emily Dickinson auf meine Haut. Aber Joss konnte dem nichts abgewinnen.
»Da gibt es nur ein Problem: Darum geht es bei dieser ganzen Geschichte nicht«, erinnere ich sie.
»Oh mein Gott!«
Joss’ Ausruf lässt mich zusammenfahren. »Was ist? Sind dir die Gurkenscheiben von den Augen gerutscht?«
»Febe!«, schreit Joss mir ins Ohr. »Es hat dich erwischt.«
»Blödsinn.«
»Wenn nicht die Gefahr besteht, dass er dir das Herz bricht, kannst du einfach mit ihm ins Bett gehen.«
Ärgerlich schüttele ich den Kopf. »Halt dich da raus, Jo. Ich mach das schon. Und in ein paar Tagen sehen wir uns am Flughafen, fliegen in den Skiurlaub und vergessen alles andere.«
»Jaja, schon gut, Liebes«, rudert Joss zurück. »Gehst du übrigens zum Klassentreffen morgen?«
»Was? Nein, da geht Liam mit Charlotte hin.« Ich hopse ein bisschen auf der Stelle, weil mir die Kälte mittlerweile durch alle Poren in den Körper dringt.
Joss stockt einen Moment. »Dann ist ihm das wohl wirklich ernst mit ihr, was?«
»Das sage ich doch die ganze Zeit.«
»Ja, schon gut. Ich wüsste halt, was ich täte, wenn ich zufällig mit einem Typen wie Liam im selben Bett schlafen würde. Aber egal, du bist eben nicht ich, richtig?«
Ich lächle, auch wenn sie es nicht sieht. »Stimmt.«
»Damien fährt extra nach London wegen des Klassentreffens und bleibt ein paar Tage bei seiner Familie. Aber wenn du nicht hingehst, bleibe ich solange hier im Hotel mit meinen Eltern und freue mich auf den Urlaub.«
Joss ist noch nie gerne zu Damiens Familie gefahren. Es ist ein Juristen-Haushalt und Joss hält sämtliche Mitglieder für spießig und versnobt. Warum sie nicht sieht, dass diese Attribute im weiteren Sinne auch auf Damien zutreffen und ihre sonst so präzise Menschenkenntnis bei ihm versagt, ist mir ein Rätsel.
»Ich freue mich auch.«
»Ruf mich wieder an, wenn Liams Familie dir eine Pause lässt im Weihnachtsmarathon. Damien hat auch mal bei ihnen gefeiert, als seine Eltern über Weihnachten in New York waren. Er meint, er hätte danach drei Wochen Kur gebraucht, weil es so anstrengend war.«
Ich muss lachen. »Mach es gut, Jo.«
»Du auch. Und Febe?«
»Ja?«
»Frohe Weihnachten.«
»Frohe Weihnachten.«
Das Telefon entgleitet beinah meinen zu Eis erstarrten Fingern. Das Display reagiert kaum auf meine Bemühungen, den Anruf zu beenden. Eilig laufe ich die Stufen zur Haustür hinauf, die Matt nur angelehnt hat, und schlüpfe hinein. Als ich sie jedoch hinter mir schließen will, spüre ich einen Widerstand. Irritiert drehe ich mich um. Charlotte drängt hinter mir ins Haus. Entgeistert starre ich sie an. Mit einem überlegenen Lächeln stößt sie die Tür hinter sich ins Schloss.
»Du warst nicht die Einzige, die frische Luft brauchte.«
Sie schlüpft aus ihrem Mantel und ich bemerke, dass ich sie noch immer anstarre. Meine Gedanken rasen im Zeitraffer rückwärts durch mein Gespräch mit Joss. Hat Charlotte mich mit ihr reden hören? Und vor allem: Wie viel hat sie gehört? Verdammt, ich war mir so sicher, dass niemand in der Nähe war und jetzt hat ausgerechnet Charlotte mein Gespräch mitbekommen?
»Alles gut bei dir?« Sie mustert mich mit ihren blauen Augen, die diesen wunderbar aufregenden Kontrast zu ihrer hellen Haut und ihren dunklen Haaren bilden.
Endlich fange ich mich. »Wie man es nimmt. Ich bin ganz schön durchgefroren.«
»Dann komm lieber mit zum Kamin«, schlägt Charlotte vor, hängt ihren Mantel auf und dreht sich mit einem unschuldigen Augenaufschlag zu mir um. »Oder lass dich von Liam wärmen. Der tut das sicher gern.«
Sie hat einen provozierenden Unterton in der Stimme, der gar nicht gut klingt. Trotzdem bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Jacke ebenfalls in die Garderobe zu hängen und Charlotte zurück ins Wohnzimmer zu folgen. Das Kaminfeuer flackert hinter der Glasscheibe. Es riecht leicht nach verbranntem Holz. Ein kribbelndes Gefühl breitet sich auf meiner Haut aus, während sie sich erwärmt.
»Da seid ihr ja endlich«, begrüßt Flora uns. »Wir wollten schon einen Suchtrupp aussenden.«
Ich fange Liams Blick auf, als Charlotte sich neben ihn auf das Sofa fallen lässt. Er war gerade in ein Kartenspiel mit Matt vertieft. Jetzt hebt er fragend die Augenbrauen. Vielleicht sah es für ihn so aus, als sei ich gemeinsam mit Charlotte draußen gewesen. Womöglich war ich das ja sogar … Unbehaglich bleibe ich im Wohnzimmer stehen. Christopher sitzt in einem der Sessel am Kamin und liest in einem Buch, das er geschenkt bekommen hat. Joan und Flora haben es sich in den Sesseln am Couchtisch bequem gemacht und wahrscheinlich Matt und Liam bei ihrem Kartenspiel zugesehen. Nur Nelson ist nicht da. Flora springt auf und ignoriert, dass Charlotte irgendetwas zu Liam sagt. Erneut wirft er mir einen fragenden Blick zu. Ich kann jedoch nicht darauf reagieren, denn Flora kommt direkt auf mich zu.
»Hör mal, Liebes, Joan und ich haben uns etwas überlegt. Wir finden es nicht richtig, dass du gar nichts von uns zu Weihnachten bekommst. Hätte dein unerzogener Freund sich die Mühe gemacht, uns ein bisschen früher von dir zu erzählen, hätten wir natürlich etwas für dich vorbereitet.«
Ein wenig befangen winke ich ab. »Das ist doch nicht schlimm. Ich habe nicht damit gerechnet, etwas zu bekommen. Ich weiß sowieso nicht, wie ich euch danken soll, weil ihr mich hier so nett aufnehmt und ich euer Gast sein darf.«
»Ach, Kindchen, spinn nicht rum. Das ist doch selbstverständlich!« Flora in ihrer energischen Art mit ihrer leuchtend roten Brille und ihrer bunt gemusterten Bluse zieht mich in eine Umarmung.
»Da hat sie recht«, pflichtet Joan ihr bei und kommt ebenfalls zu uns herüber. In ihren Händen hält sie ein kleines, hübsch eingewickeltes Päckchen – rosafarbenes Geschenkpapier mit goldenen Punkten und einer cremefarbenen Schleife. »Ich bin glücklich, dass Liam dich kennengelernt hat. Wir finden dich unheimlich nett. Und du hast uns die besten Kekse gebacken, die wir je gegessen haben.«
Vor Verlegenheit winde ich meine Hände ineinander und blicke Hilfe suchend zu Liam. Statt Liams fange ich jedoch Charlottes Blick auf, die mich aus leicht verengten Augen mustert. Sofort bemühe ich mich um eine entspanntere Körperhaltung.
»Stimmt doch, Christopher?« Joan dreht sich zu ihm um.
Er blickt von seinem Buch hoch, als er seinen Namen hört. »Was? Ach so, ja.«
Joan verdreht mit einem gutmütigen Lächeln die Augen und überreicht mir das Päckchen. »Das ist von Flora und mir. Wir hoffen, es gefällt dir.«
Nicht nach dem Päckchen zu greifen wäre einfach nur unhöflich gewesen. Trotzdem fühle ich mich furchtbar. Die beiden sehen mich strahlend, mit geröteten Wangen und erwartungsvoll geweiteten Augen an, sodass ich mich gezwungen fühle, dass Geschenk sofort zu öffnen.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, bringe ich hervor – meine Stimme leicht gepresst in einer Mischung aus Ergriffenheit und der bangen Gewissheit, dass sie nicht wirklich mich meinen.
»Du weißt ja noch nicht mal, was es ist«, stellt Flora vergnügt fest.
Obwohl ich noch immer in Charlottes lauerndem Blick zappele, sehe ich diesmal an ihr vorbei Liam an. In einer kaum wahrnehmbaren Geste hebt er die Schultern und schüttelt den Kopf. Anscheinend hat er diese Aktion so wenig kommen sehen wie ich. Vorsichtig löse ich die Schleife vom Geschenk und öffne die Klebestreifen. Eine mattschwarze Dose fällt mir in die Hand. Ich klappe sie auf und blicke auf ein goldfarbenes Tennisarmband, das mit einer symmetrisch durchlaufenden Reihe bunt leuchtender Steine besetzt ist. Fassungslos starre ich auf das Schmuckstück. Ein taubes Gefühl in meinen Wangen verrät mir, dass mir das ganze Blut aus dem Kopf gesackt ist. Das ist eine Katastrophe!
»Gefällt es dir?« Joans Stimme klingt ein wenig höher als sonst. »Wir wollten dir erst Ohrringe schenken, haben aber bemerkt, dass du gar keine Ohrlöcher hast. Und wir dachten, das Armband passt zu dir.«
»Es gehörte meiner Mutter«, erklärt Flora.
Innerlich stöhne ich auf. Das wird immer schlimmer.
»Es ist wunderschön.« Erst als ich es ausspreche, realisiere ich, wie erstickt meine Stimme klingt. Ich bin wirklich gerührt. Denn abgesehen davon, dass Liam und ich ein Fake sind und ich unmöglich zulassen darf, dass seine Grandma mir ein Familienerbstück schenkt, kann ich nicht fassen, wie nett Joan und Flora zu mir sind. »Das kann ich unmöglich annehmen.« Ich klappe das Kästchen wieder zu. »Das ist viel zu wertvoll.«
»Ach, Liebes, rede doch keinen Unsinn.« Flora zieht mich schon wieder an sich. Über ihre Schulter hinweg sehe ich, wie Charlotte mich mit zusammengepressten Lippen beobachtet.
»Meine Mutter stammte vielleicht nicht aus reichem Hause wie Christophers Familie, aber ich habe in meinem Leben wirklich genug Schmuck angehäuft. Dieses Stück gehört an einen jüngeren Arm. Und Joan sagt, für sie sei es nichts.«
Liam muss mir angesehen haben, dass ich kurz vor dem Zusammenbruch stehe, denn er erhebt sich vom Sofa.
»Ich kann gar nicht glauben, dass ihr euch so viele Gedanken um mich macht.« Ich löse mich aus Floras Umarmung und blicke von ihr zu Joan. »Und ich weiß diese Geste mehr als zu schätzen. Aber ich kann das wirklich nicht. Das ist … zu viel.« Ich höre selbst, wie kläglich das Ende meines Satzes klingt.
»Febe, du bist ja ganz aufgelöst.« Joan umfasst nicht nur meine Hände mit ihren, sondern hält auch das Schmuckkästchen darin fest, das ich ihr wiedergeben wollte. »Es ist offenbar viel zu lange her, dass dir jemand einfach eine Freude gemacht hat.«
In diesem Moment schlingt Liam seinen Arm um meine Schulter und zieht mich an sich. Sein warmer fester Körper an meinem gibt mir schlagartig Halt. Seine Lippen an meiner Schläfe lassen das Blut in meinen Kopf zurückkehren. »Nimm es, Febe«, murmelt er. »Es ist alles gut.« Er löst meine verkrampften Finger sacht von dem Schmuckkästchen und nimmt das Armband heraus. Einen Moment lang fummelt er an dem Verschluss herum.
»Wie geht dieses Ding denn auf? Das ist ja besser gesichert als Dads Tresor.«
»Lass mich mal.« Joan öffnet das Schiebeschloss, das sich fast unsichtbar in das Armband fügt, mit einem Handgriff und legt es mir ums Handgelenk. Es passt perfekt, gleitet sanft über meine Haut. Ich nehme Joan und Flora nacheinander in den Arm und bedanke mich. Obwohl ich weiß, dass ich das Armband nicht behalten, sondern Liam nach dieser Woche zurückgeben werde, meine ich jedes Wort ernst.
»So, auf diesen emotionalen Höhepunkt brauche ich erst mal einen Eierlikör«, beschließt Flora, als ich sie loslasse. »Willst du auch einen?«
Mit einem Lachen schüttele ich den Kopf. »Danke, ich würde lieber noch einen Tee trinken.«
»Gute Idee, du hast eiskalte Hände, Liebes. Ich hole dir einen.« Flora macht sich auf in Richtung Küche.
»Komm.« Liam zieht mich mit sich. »Setz dich ans Feuer, bis du wieder auf Betriebstemperatur kommst, Am-Febe-um.«
»Am-Febe-um?«, wiederholt Charlotte unter erhobenen Augenbrauen. Matt findet Liams Namen für mich wahnsinnig witzig und lacht los. Charlotte hingegen schüttelt missbilligend den Kopf. »Lass dich doch nicht so von ihm nennen, Febe.«
Ungerührt hebe ich die Schultern, als Liam sich neben mich auf das Sofa gegenüber von Charlotte fallen lässt. In den altrosafarbenen Polstern versinke ich fast. »Liam zieht mich nur auf, weil ich immer so friere.«
»Es erscheint mir einfach kein sehr netter Kosename zu sein«, kommentiert Charlotte. »Amphibien sind ja eher plump und schleimig.«
»Falls du denkst, ich hielte dich für plump und schleimig, möchte ich dir hiermit versichern, dass du abgesehen von deinen kalten Händen absolut nichts Amphibienhaftes an dir hast.« Liam wendet sich zwar mit seinem scheinbar unbefangenen Grinsen an mich, mustert mich gleichzeitig aber irgendwie besorgt.
»Wusstest du, dass Amphibium so viel wie beide Leben bedeutet?«, erkundige ich mich. »Amphibien können auf dem Land und im Wasser leben. Sie können durch ihre Haut atmen, gehören zu den frühesten Lebensformen der Erde, und wenn man sie küsst, verwandeln sie sich. Ich würde sagen, es gibt Schlimmeres, als ein Amphibium zu sein.«
Liams Gesicht direkt vor meinem lässt meinen Herzschlag rasen. Da ist sie wieder: diese Spannung zwischen uns, die ich heute immer wieder gespürt habe. Silberhell regnen die Sprenkel in seinen Augen auf meine Haut und setzen meinen ganzen Körper unter Strom.
»In was verwandelst du dich denn?«, will er wissen – seine Stimme dunkel, seine Lippen viel zu nah an meinen. Die Erinnerung an unseren Kuss und die Erwartung eines neuen entflammen schlagartig in mir, wecken ein tiefes Verlangen, das mir den Atem stocken lässt. Trotzdem schiebe ich ihn mit einem spöttischen Lächeln von mir.
»Und sie verschlingen ihre Beute im Ganzen. Hatte ich das erwähnt?«
Matt gibt ein genussvoll klingendes Stöhnen von sich. »Vielleicht sollte ich mich auch nach einem Am-Febe-um umsehen. Du hast gerade meine Einstellung zu den Viechern komplett auf den Kopf gestellt.«
Charlotte lacht mit uns, klingt aber ein wenig gezwungen dabei. »Anscheinend musst du dich in Acht nehmen, Liam.«
»Anscheinend.« Liams Blick ruht noch immer auf mir, lässt meine Haut brennen und gibt mich erst frei, als Flora und Joan sich mit Tee, Eierlikör und noch mehr Keksen zu uns gesellen.
»Warum hast du eigentlich so gezögert, das Armband zu nehmen?«, fragt Charlotte, als habe sie nur auf mehr Publikum gewartet. Sofort spüre ich, wie sich mein Rücken verkrampft. Noch ehe ich antworten kann, fährt Charlotte fort. »Findest du es zu früh?«
Dass Nelson hinter ihr das Wohnzimmer betritt, bemerkt sie offenbar nicht. Mit seinem Tablet in der Hand geht er an uns vorbei, macht einen Bogen um Hamlet, der sich auf dem Teppich ausgestreckt hat, und gesellt sich zu seinem Vater an den Kamin. Ich beobachte ihn, während ich fieberhaft überlege, wie ich reagieren soll.
»Na ja, so lange kennen Liam und ich uns ja noch nicht«, erwidere ich schließlich ausweichend.
»Und das heißt?«, hakt Charlotte nach. »Weißt du noch nicht, ob du ihn wirklich willst?«
Ich kann nicht fassen, dass sie mich das vor Liams versammelter Familie fragt. Auch Liam höre ich neben mir scharf die Luft einziehen. Flora verharrt mit ihrem Eierlikörglas in der Hand kurz vor ihrem Mund. Matt hat seine Cadbury-Buttons -Tüte gezückt und futtert Schokoknöpfe, als wäre es Popcorn. Ich beschließe, Charlotte zu entwaffnen, wie ich es schon beim Keksebacken getan habe. »Also, ehrlich gesagt, finde ich es etwas unangenehm, das hier zu diskutieren. Natürlich will ich Liam, aber wir haben bisher kaum Zukunftspläne gemacht.«
»Verstehe«, kommentiert Charlotte spitz.
»Das wäre ja tatsächlich etwas früh«, springt Joan mir zur Seite. »Wir wollten dich wirklich nicht mit dem Geschenk überrumpeln, Febe.«
Rasch lächle ich sie an. »Das weiß ich. Ihr habt mich überrascht, aber nicht überrumpelt. Das ist ja was Schönes.«
Doch diesmal gibt Charlotte nicht so schnell auf. »Wer ist übrigens Joe, Febe?«
»Joe?« Irritiert runzele ich die Stirn.
»Ja, mit dem hast du doch eben draußen telefoniert. Ihr wollt zusammen in den Skiurlaub fahren, wenn ich das richtig verstanden habe.«
Himmel! Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag ins Gesicht und schon taumele ich erneut in die Ecke. Da habe ich den Beweis: Charlotte hat mein Gespräch mit Joss belauscht! Die Frage ist nur, wie viel genau sie mitbekommen hat.
»Febe fährt über Silvester in den Skiurlaub, weil Vietnam geplatzt ist«, schaltet Liam sich ein, als ich nicht sofort antworte. »Mit ihrer besten Freundin.«
Charlotte hebt skeptisch die Augenbrauen. »Und die heißt Joe?«
»Charlotte! Die heißt Joss. Ihr seid euch sogar schon begegnet, falls du dich erinnerst. Sie ist die Frau von Damien.«
Gut, der Gegenschlag kam zwar nicht von mir, aber Charlotte wirkt trotzdem ziemlich außer Gefecht gesetzt. Verdutzt wandert ihr Blick von Liam zu mir und zurück.
»Ist das so eine auffällige Blonde, die laut und schnell redet?«, fragt sie schließlich.
Diese Beschreibung passt ziemlich gut auf Joss und damit ist auch direkt klar, warum Charlotte ihr lieber aus dem Weg gegangen ist. In Joss’ Gegenwart wird der Platz im Zentrum womöglich selbst für sie schwer zu halten sein.
»Ich erinnere mich, sie beim 25 . Geburtstag von Kristen gesehen zu haben, und an ein oder zwei Ausflüge nach Brighton, bei denen sie dabei war«, sagt Charlotte nachdenklich. »Aber sonst wollte sie nie mit.«
»Joss hat ihren eigenen Freundeskreis«, erkläre ich ruhig.
»Und bei ihrer Hochzeit mit Damien waren wir nicht dabei, weil du vor der Beerdigung deiner Grandma nicht feiern wolltest«, erinnert Liam sie.
»Dann wäre das ja geklärt«, meint Joan betont fröhlich. »Möchte noch jemand Kekse?« Sie lässt die Dose herumgehen, aber Charlotte ist nicht fertig.
»Entschuldige, Febe. Das kam vielleicht aggressiver rüber, als es gemeint war. Es hat mich einfach interessiert. Wohin fahrt ihr denn in den Skiurlaub?« Sie sieht mich erwartungsvoll an und ich ahne, dass sie sich nur entschuldigt, um einen neuen Angriff vorzubereiten. Obwohl ich noch immer vollgestopft bin mit Weihnachtsessen, schnappe ich mir eine ganze Handvoll Kekse aus der Kiste.
»Nach Sölden in Österreich.«
»Liam und ich waren einige Male in der Schweiz zum Skifahren. Das war traumhaft«, berichtet Charlotte. »Die Österreicher sind Liam unheimlich, weil sie ihn angeblich so anstarren. Das hat er dir sicher auch schon erzählt.«
Ich hebe die Schultern. »Liam kommt ja nicht mit. Nur Joss und ich fahren.«
»Das stimmt doch gar nicht«, widerspricht Liam mit einer gewissen Schärfe in der Stimme an Charlotte gewandt. »Damien hat das irgendwann behauptet. Ich war doch selbst noch nie in Österreich.« Ich spüre die Anspannung in seinem Körper wie eine Energie auf mich abstrahlen. Aber wenn Charlotte mir eine Falle stellen will, muss sie sich schon mehr Mühe geben. Denn Liams App hat ganze Arbeit bei der Vorbereitung geleistet und ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Unter den Ländern, die wir jeweils bereist haben, hatte er Österreich nicht aufgeführt.
»Ich wollte mich auch schon sehr wundern, woher du so einen Blödsinn hast, Liam«, meint Joan. »Als junge Frau war ich mehrmals in Österreich zum Fotografieren. Die Österreicher sind vielleicht ein bisschen direkt, aber angestarrt hat mich da niemand.«
»Damien ist wirklich ein Quatschkopf«, stimmt Charlotte zu. Sie knabbert an einem Jammy Star , den sie mit abgespreiztem Zeigefinger hält. Die freie Hand streckt sie darunter aus, um etwaige Krümel aufzufangen. Ich seufze unterdrückt. Ich sollte Liam dringend warnen, dass Charlotte möglicherweise etwas ahnt. In einer vertraulichen Geste greife ich nach seiner Hand. »Kannst du gleich mit nach oben kommen? Joss hat gesagt, Damien und sie hätten uns eine Weihnachtsmail geschickt.«
Kurz ziehen sich seine Augenbrauen zusammen. Offenbar fragt er sich, ob das so dringend ist, dass wir sofort in sein Zimmer stürmen müssen. Auch fühle ich seine Hand in meiner zu seinem Telefon zucken, weil wir den Weihnachtsgruß ja auch dort ansehen könnten. Die Entschlossenheit, mit der ich seine Hand festhalte und die Eindringlichkeit, mit der ich ihn ansehe, überzeugen ihn jedoch.
»Klar.«
Ehe wir aufstehen können, meint Charlotte: »Wusstest du eigentlich, dass Liam ein richtig guter Skifahrer ist?«
Einen Moment lang bin ich irritiert. Mit verengten Augen sehe ich Liam an. Hatte er in der App nicht Snowboard geschrieben? Doch, ich bin mir ziemlich sicher: Er hat es sogar zweimal angegeben – in der Rubrik Sport und unter Hobbys .
»Kannst du auch Ski fahren? Du hast mir bisher nur vom Snowboarden erzählt.«
»Charlotte übertreibt«, erklärt Liam und sieht mit fragend erhobenen Augenbrauen zu ihr hinüber. »Ich kann ein bisschen Skilaufen, aber hauptsächlich fahre ich Snowboard.«
In diesem Moment steht Nelson aus seinem Sessel auf. »Was soll das eigentlich, Charlotte?«
»Was denn?«, fragt sie mit unschuldig geweiteten Augen.
Nelson öffnet schon den Mund, als wolle er etwas erwidern, fängt dann jedoch Joans Blick auf und verstummt.
»Vielleicht sollte ich mal eine Runde Eierlikör für jeden einschenken«, überlegt Flora laut.
Nelson steht offensichtlich nicht der Sinn danach. »Können wir kurz reden, Charlotte? Draußen?«
Charlotte rührt sich zunächst nicht. Vermutlich hat sie keine Lust zu hören, was Nelson ihr zu sagen hat. Sein unverwandter Blick ringt ihr jedoch ein Lächeln ab. »Natürlich.« Sie erhebt sich in ihrer unnachahmlichen Eleganz und folgt Nelson aus dem Wohnzimmer.
»Wenn ich es nicht besser wüsste«, kommentiert Matt, wobei er seine Cadbury-Buttons -Tüte leert, »würde ich sagen, da ist jemand eifersüchtig.«
»Erzähl nicht so einen Unsinn, Matt«, weist Joan ihn ärgerlich zurecht. »Nelson hat Charlotte gerade einen dicken Ring an den Finger gesteckt und Charlotte hatte die Größe, sich bei Febe zu entschuldigen. Ich glaube, sie wollte nur nett sein und Interesse zeigen.«
»Will jetzt noch jemand Eierlikör?«, fragt Flora schon wieder.
»Lass mal, Granny.« Liam steht auf und reicht mir die Hand. »Febe schuldet mir noch eine Runde ›Prince-of-Persia‹. Wie gehen mal hoch, oder?«
»Oh, das hatte ich ganz vergessen.« Ich lasse mich von ihm auf die Füße ziehen.
»Oder du hattest gehofft, ich hätte es vergessen«, entgegnet Liam mit einem Grinsen.
»Klingt, als könnte Febe ein Fläschchen Eierlikör gut vertragen«, bemerkt Flora.
»Alles gut.« Ich blicke zu ihr zurück, während Liam mich durchs Wohnzimmer zieht. »Ich habe es tatsächlich versprochen.«
Ich kann gerade noch nach Hamlet rufen, ehe Liam mich auf die Treppe nach oben zieht. Nur einen Moment später schließt er seine Zimmertür hinter sich.
»Liam, es tut mir so leid«, platzt es sofort aus mir heraus. »Charlotte muss mich belauscht haben, während ich mit Joss telefoniert habe.«
Liam dreht sich zu mir um und fährt sich mit einer Hand durch die Haare. »Okay, wie schlimm ist das? Über was genau habt ihr gesprochen – Joss und du?«
Ich gebe einen dumpfen Laut von mir, als ich an den Inhalt unseres Telefonats zurückdenke. Ging es in irgendeinem Satz nicht um Liam?
»Nichts Besonderes«, weiche ich aus. »Nur so dies und das. Wir haben uns schöne Weihnachten gewünscht.«
»Nur dadurch wird Charlotte ja nicht hellhörig geworden sein«, bemerkt Liam scharfsinnig.
»Vielleicht hat sie sich etwas zusammengereimt, weil sie Jo und Skiurlaub gehört hat«, überlege ich kleinlaut und setze mich aufs Bett. Hamlet legt mir mit bittender Miene sein Kinn aufs Knie.
»Du hattest heute ein ganzes Briefträgerbein«, erinnere ich ihn. »Abendessen ist gestrichen.«
»Und das von der Frau, die seit Stunden nonstop gefuttert hat«, kommentiert Liam grinsend.
Unwillkürlich versuche ich, die letzten Kekse, die ich noch in der Hand halte, zu verstecken.
»Du hast gesagt, ich muss essen, damit deine Familie mich mag.«
»Das hast du vielleicht ein wenig zu ernst genommen.« Mit einem Seufzen lässt Liam sich neben mich aufs Bett sinken und tippt auf das Armband an meinem Handgelenk. »Und das, obwohl ich mich an diesen Satz mit dem Essen so nicht erinnern kann.«
Einen Moment lang blicken wir stumm vor uns hin, ehe Liam auf unser Problem zurückkommt: »Wiederhol doch mal Wort für Wort, was ihr am Telefon gesprochen habt.«
Ich spüre, wie mir Hitze in die Wangen steigt. Verdammte neugierige Joss! So ziemlich nichts, was sie gesagt hat, war jugendfrei. Mit einem Schnauben schüttele ich den Kopf. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir erzähle, worüber ich mit meiner besten Freundin rede?«
Er verdreht die Augen. »Wenn Charlotte es weiß, kann ich es auch wissen.«
»Charlotte hat möglicherweise Teile von dem gehört, was ich gesagt habe«, korrigiere ich ihn. »Und du kennst doch Joss. Sie hat bestimmt dreimal so viel gesprochen wie ich. Ich habe ihr frohe Weihnachten gewünscht, von den Geschenken und vom Essen bei euch erzählt, wir haben kurz über den Skiurlaub gesprochen – solche Sachen.«
»Sonst nichts?« Liams Blick nimmt einen so strengen Ausdruck an, dass er mich an Joan erinnert, wenn sie mit Matt schimpft. Ich winde mich darin.
»Naja … ich habe auch über Charlotte gesprochen«, gebe ich schließlich zu.
»Was hast du gesagt?«
»Dass sie meiner Meinung nach noch Gefühle für dich hat, dass du mit ihr zum Klassentreffen gehst – so was.« Ich hole tief Luft. »Wahrscheinlich habe ich schon einige Dinge gesagt, aus denen sie schließen könnte, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber nichts Konkretes, denke ich. Irgendwann habe ich ein Geräusch gehört. Falls sie das war, muss sie ein ganzes Stück entfernt gestanden haben. Bestimmt hat sie nicht mal alles richtig verstanden. Außerdem hätte sie doch sonst mehr gesagt, als dass sie Joss für einen Joe hielt. Und sie hätte nicht so schnell das Thema gewechselt.«
»Hoffentlich.« Nachdenklich mustert Liam mich.
Ruhelos spiele ich an dem Armband um mein Handgelenk. »Immerhin dürfte dir die Episode beweisen, dass Charlotte durchaus noch Interesse an dir hat. Sonst hätte sie nicht so offensichtlich versucht, mich auffliegen zu lassen – als Betrügerin oder was auch immer.«
»Meinst du?« Er wirkt noch immer in sich gekehrt. »Ich glaube, sie hat Stress mit Nelson. Es hat ihm nicht gefallen, als wir uns vorhin unterhalten haben, und sie hat ziemlich schnippisch reagiert, als er einen entsprechenden Kommentar gemacht hat. Ich habe die beiden draußen streiten hören. Wahrscheinlich ist sie deshalb an die frische Luft gegangen.«
Wir seufzen beide gleichzeitig und müssen über die Synchronität unserer Frustration lachen.
»Ich will auf keinen Fall, dass wir auffliegen, Febe.« Liam klingt plötzlich so ernst, dass ich zu ihm aufsehe. »Meine Familie darf das niemals erfahren. Ich fühle mich grauenhaft bei dem Gedanken. So sehr, dass ich manchmal am liebsten glauben würde, das alles zwischen uns sei wahr.«
Ein kurzer Stillstand breitet sich in meinem Gehirn aus. Einen Moment lang hat es keine Ahnung, ob seine Worte positiv oder negativ zu verstehen sind. Weder noch , ruft die Stimme der Vernunft mich zur Ordnung. In einer reinen Geschäftsbeziehung ist das eine vollkommen neutrale Aussage.
»Sie werden es nicht erfahren«, beruhige ich ihn. »In ein paar Wochen sagst du ihnen einfach, ich sei mit Joe durchgebrannt.«
Er grinst schief. »Das würden sie mir niemals glauben. Sie haben eine viel zu hohe Meinung von dir.« Wieder fährt Liam sich mit der Hand durch die Haare, steht dann aber entschlossen auf und geht zur Playstation hinüber. »Ich schlage vor, wir widmen uns jetzt erst mal dem ›Prince of Persia‹.«
»Ich komme ja doch nicht drum rum.«
Während Liam die Playstation startet, fällt mein Blick auf sein Geschenk für mich. Hamlet, der mittlerweile die Augen geschlossen hat, um meine Ohrenmassage zu genießen, schiebe ich von meinem Bein und stehe auf. Während der Hund sich mit einem Seufzen auf seinem Handtuch zusammenrollt, greife ich nach dem Bild, das auf der Kommode vor dem Spiegel lehnt. Ich setze mich damit aufs Bett, um es noch einmal genau zu betrachten.
Als ich es am Morgen ausgepackt habe, konnte ich zuerst nicht begreifen, was ich vor mir hatte. Und als ich es verstand, als mir klar wurde, was Liam sich überlegt hatte, ist mir schwindelig geworden. Das Bild ist auf Leinwand gedruckt und zeigt eines meiner Lieblings-Shakespeare-Motive. Es ist ein Bild voller Ranken, verästelter Bäume und bunter Blüten. Durch dichtes Unterholz blickt man wie durch ein Tor in die Tiefe eines Waldes, der sich in Dunkelheit verliert. Ein Mond blitzt durch das Geäst und taucht die ganze Szene in helles Silberlicht. Überall im Dickicht entdeckt man zauberhafte Wesen: Tiere der Nacht wie Eulen, Füchse und Fledermäuse. Leuchtende Blüten und Beeren. Winzige Feen in bunten Gewändern, die zuerst wie Glühwürmchen aussehen, aber bei genauerem Hinsehen mit aller Liebe zum Detail gezeichnet sind. Zentral auf der Lichtung halten sich ein junger Mann und eine junge Frau an den Händen. Ihre fließenden, einfach geschnittenen Gewänder greifen die gedämpften Farben des nächtlichen Waldes auf. Als Kind habe ich mir immer gewünscht, so zart und schön auszusehen wie sie. Aber aus meinen Haaren sind nie so schöne rotbraune Locken geworden. Und einem Mann mit derart sanften braunen Augen, der mich mit so liebevollem Blick ansieht, bin ich auch noch nicht begegnet. Dieser zauberhaft innige Moment bleibt Lysander und Hermia aus Shakespeares ›Ein Sommernachtstraum‹ vorbehalten.
Das Bild hat meine Mum gemalt. Es zierte die erste Seite ihres detailreich illustrierten, als Kinderbuch adaptierten Sommernachtstraums. Liam hat das Bild abfotografiert und am Computer bearbeitet, sodass die Farben klar hervorkommen. Anschließend hat er es auf Leinwand drucken lassen. Am Morgen hat Liam mir erklärt, er habe in der App gelesen, dass meine Mum als Illustratorin gearbeitet habe, und nach kurzer Recherche herausgefunden, dass sie eins der Kinderbücher geschrieben hat, an das er sich von früher erinnert. Also hat er sich den Sommernachtstraum besorgt und gehofft, mir auf diese Weise eine Freude zu machen.
Heute Morgen war ich zu benommen, um mich richtig bei ihm zu bedanken. Er konnte nicht wissen, wie gerne ich dieses Bild als Kind mochte. Er konnte nicht ahnen, wie glücklich mich die Aussicht machen würde, zu Hause einen Platz dafür zu finden. Vielleicht werde ich es über mein Bett hängen. Vielleicht werde ich mich vor dem Schlafengehen darin verlieren und mich Mum endlich wieder verbunden fühlen. Liam konnte das nicht wissen. Der Zufall war mit im Spiel. Aber – und das ist es, was mich so berührt – Liam hat sich Gedanken gemacht zu einem Zeitpunkt, als er mich noch gar nicht richtig kannte. Und das zeigt mir, dass er unter all seinem Schalk, seiner herausfordernden Art und seinem manchmal unüberlegten Aktionismus einfach nett ist.
»Liam?« Ich sehe mich zu ihm um.
»Ja?« Er kniet vor der Playstation und beobachtet einen über den Bildschirm kriechenden Balken. Offenbar installiert die Konsole Updates.
»Ich glaube, ich habe mich noch nicht richtig bedankt. Ich war vollkommen überrascht.«
Liam richtet sich auf und kommt zu mir zurück. »Du bist es wirklich nicht gewohnt, dass jemand einfach so etwas Nettes für dich tut, oder?«
Ich hebe die Schultern, als er sich wieder neben mich setzt.
»Es gibt ja nicht so viele Menschen in meinem Leben, die etwas für mich tun könnten.« Ich muss schmunzeln. »Und du kennst Joss. Sie ist großartig. Aber sie weiß einfach immer besser als ich, was gut für mich ist. Daher gehen ihre Nettigkeiten oft ein bisschen an dem vorbei, was ich wirklich will.«
»Als ich diese Idee hatte, wusste ich nicht, was mit deiner Mum passiert ist.« Liams Stimme legt sich dunkel um mein Herz. »Ich war mir heute Morgen nicht sicher, ob du dich freuen oder eher traurig werden würdest.«
»Ein bisschen von beidem.« Gedankenverloren streiche ich mit der Fingerkuppe über die Linien des Liebespaares. »Das geht mir immer so, wenn ich an sie denke.«
»Ich will dir nicht zu nahe treten, Febe. Aber ich habe mich gefragt, ob du dir bei der Suche nach ihr die Videos im Netz angesehen hast. Das müssen Hunderte sein.«
Ich halte meinen Blick starr auf das Bild geheftet. »Ich habe es versucht.« Meine Stimme bricht bei dem Gedanken, aber ich spreche weiter. »Es ist so verdammt hart, mir das anzusehen. Mir vorzustellen, dass es womöglich das Letzte ist, was sie sah – diese Monsterwelle, von der es kein Davonrennen gab. Mir vorzustellen, dass sie vielleicht im ersten Moment fasziniert war, weil sie sich immer für alles begeistern konnte … Das bricht mir das Herz. Ich frage mich, was sie gedacht hat, als sie begriff, was da auf sie zukam. Ob sie an mich gedacht hat.« Ich will ihn ansehen, bringe jedoch nur einen winzigen Blick in seine Richtung zustande. Es hat jedoch gereicht, um zu erkennen, dass Liam mich aufmerksam beobachtet. Tief hole ich Luft. »Ich habe es versucht«, wiederhole ich. »Aber es war zu hart. Und so verdammt sinnlos.«
»Verstehe«, sagt Liam vorsichtig. »Ich habe mich gefragt, ob du daran gedacht hast, einen Algorithmus zu benutzen.«
Diesmal bringe ich ein richtiges Lächeln zustande. »Wie hat Damien es ausgedrückt? Ich lebe in der Vergangenheit und bin mit einem Typen verheiratet, der seit vierhundert Jahren tot ist. Natürlich habe ich keinen Algorithmus benutzt.«
Liam erwidert mein Lächeln. »Ich habe keine Ahnung, ob es etwas bringt. Aber eine KI könnte die Videos nach Spuren deiner Mum durchsuchen.«
Ich hebe die Augenbrauen und bemühe mich, ruhig zu bleiben – weder Hoffnungen noch Ängste wären in diesem Moment angemessen. »Tatsächlich?«
»Der wahrscheinlichste Fall ist, dass sie trotz des zahlreichen Bildmaterials nirgends zu sehen ist. Und die KI müsste entsprechend trainiert werden, wenn sie eine Person auch aus schwierigen Blickwinkeln erkennen soll.« Er hebt kurz die Schultern. »Aber wenn du willst, helfe ich dir.«
Und da ist er plötzlich: dieser Moment … Wir sehen uns in die Augen und fragen uns, ob wir uns nach Weihnachten wiedersehen werden. Werden wir uns irgendwann zufällig bei Joss und Damien begegnen? Werden wir uns anrufen? Werden wir uns im nächsten Jahr frohe Weihnachten wünschen? Mein Blick verliert sich in seinem und verwirrt mir die Sinne.
»Wenn du willst, dass ich es versuche, tue ich es«, sagt er fest.
Ich atme ein und höre selbst, dass die Luft in meiner Lunge zittert. Ich räuspere mich. »Ich überlege es mir. Ich brauche ein bisschen Zeit, mir darüber klar zu werden.«
»Sicher.«
Noch einmal fliegt ein Lächeln über sein Gesicht, bevor er sich anschickt aufzustehen.
»Liam.« Ich ergreife seine Hand, halte ihn fest. Warum kann ich keine Sekunde lang in seine Augen sehen, ohne darin den Verstand zu verlieren? Die Wärme seiner Hand in meiner wandert über meinen Arm. Die Berührung bringt wie in einer Kettenreaktion die Zellen meines Körpers zum Singen. Ich hatte ihm nur danken wollen, aber plötzlich entsteht so viel Nähe zwischen uns – und gleichzeitig so viel Sehnsucht nach mehr. Ich weiß, dass ich diejenige bin, die diese winzige Bewegung auf ihn zumacht, die diese Verheißung von Lippen auf Lippen, von Haut auf Haut, Zunge an Zunge, von Berührung und Atemlosigkeit zwischen uns entfacht. Aber er weicht nicht zurück. Unser Atem vermischt sich zwischen uns. Sein Duft macht mich süchtig. Ich spüre, wie ich fast gegen meinen Willen seine Hand fester greife. Ich weiß, ich bin diejenige, die das hier will, aber er will es auch. Liam hebt die Hand. Zart treffen seine Fingerkuppen meine Schläfe. Sacht streicht er mir eine Haarsträhne zurück.
Alles an dir ist goldfarben.
Wenn nicht die Gefahr besteht, dass er dir das Herz bricht, kannst du einfach mit ihm ins Bett gehen.
Aber da bin ich mir nicht so sicher. Schlagartig spüre ich meinen Körper verkrampfen.
»Ich wollte nur Danke sagen«, stoße ich hervor – etwas zu atemlos vielleicht, um glaubwürdig zu klingen. Sofort zieht er seine Hand zurück. »Danke für dein Angebot, mir zu helfen, Liam. Das bedeutet mir viel.«
Er nickt ruckartig. »Sicher. Kein Problem.«
Rasch kommt er auf die Füße. Meine Hand, die eben noch seine gehalten hat, fasst ins Leere.
»Können wir dann anfangen oder willst du dich noch länger vor deinem ersten Jump and Run drücken?« Sein Grinsen ist schalkhaft wie eh und je, der Aufruhr in mir vielleicht nur Einbildung – hoffentlich nur Einbildung.
Wenig später sitze ich mit untergeschlagenen Beinen in einem der Sessel vor dem Bildschirm und Liam gibt mir eine Einweisung in den Controller. Eine Filmsequenz führt mich in das Spiel und damit in ein scheinbar persisch designtes Setting. Liam besteht darauf, dass ich Movement und Weapon Tutorials durchlaufe. Der Prinz auf dem Bildschirm will aber einfach nicht so wie ich. Das Ganze artet in harte Arbeit aus und aus dem Pensum an Spaß, das Liam bei der Sache hat, schließe ich, dass ich mich außergewöhnlich dämlich anstelle. Er hat sich im Sessel neben mir zurückgelehnt, die Beine lang von sich gestreckt, gibt mir Anweisungen und lacht vor sich hin.
»Liam, ich hatte so ein Ding noch nie in der Hand«, verteidige ich mich. »In einem Flugzeugcockpit würde ich wahrscheinlich besser klarkommen. Ich muss mich erst zurechtfinden.«
»Ein Glück, ihr redet über den Controller.«
Wir fahren herum, als Matts Stimme hinter uns erklingt.
Liam setzt sich auf. »Kannst du nicht klopfen?«
Matt hebt breit grinsend die Schultern. In der Hand hält er eine Jumbotüte Walkers Salt and Vinegar . »Ich war mir nicht sicher, ob Zocken vielleicht Code für etwas anderes sein sollte, und wollte im Zweifelsfall nicht stören.«
»Wie rücksichtsvoll von dir«, knurrt Liam.
»Kann ich mitspielen oder ist das hier so eine Art Candle-light-Game für Nerds?«
»Wir spielen gar nicht. Ich versuche, eine Art Comic-Prinzen unter Kontrolle zu bekommen und Liam lacht mich aus«, sage ich.
»Klingt lustig.« Matt kommt zu uns, lässt sich zu Füßen des dritten Sessels nieder und reißt seine Walkers -Tüte auf. Der scharfe Geruch nach Essig breitet sich zwischen uns aus.
»Jetzt ist es erst richtiges Zocken, oder?« Ich hebe meinen Controller wieder. »Konsole und ungesundes Essen.«
»Konzentrier du dich lieber aufs Spiel«, verlangt Liam. »Du musst jetzt ins Fight Tutorial .«
Im Fight Tutorial beschäftige ich mich vor allem damit, den Prinzen kopflos wegrennen zu lassen, bis er die Orientierung verliert und in die Ecke gedrängt wird. Liam erzählt mir dann irgendetwas über Treffer und Schaden. Bald schreien Liam und Matt mich an und ich schreie den Prinzen und den Controller an. Als ich zum ersten Mal einen Gegner zu Boden gehen lasse, brüllt Matt, ich solle R2 drücken. Hektisch suche ich die Taste und der ›Prince of Persia‹ sticht mit seinem Schwert – offenbar einem persischen Kopis nachempfunden – auf die am Boden liegende Figur ein, die sich mit einem Schmerzenslaut aufbäumt.
»Oh nein, was macht der denn?«, rufe ich entsetzt. »Der Gegner war doch schon wehrlos.« Ungläubig sehe ich zu, wie sich der Besiegte in einem hellen Licht auflöst. Genauso ungläubig sehen Matt und Liam mich an. Der Prinz steht auf dem Bildschirm herum und erwartet meinen nächsten Befehl, aber ich bin erst mal fertig mit dem Typen. Ich bin völlig gestresst und unter meinem Wollpulli so verschwitzt, als hätte ich selbst gekämpft.
»Ich kann nicht mehr. Übernimm du mal.«
Ich überlasse Matt den Controller und nehme die Walkers-Tüte an mich. Der Geschmack von Salz und Essig breitet sich auf meiner Zunge aus, während ich Profis bei der Arbeit beobachte. Matt und Liam wechseln sich ab, pflügen im Laufschritt durch das Spiel und mir ist ein Rätsel, warum die Gegner sich überhaupt noch die Mühe machen, sie anzugreifen. Fluchend und johlend sind Matt und Liam bei der Sache, haben ganz offensichtlich jede Menge Spaß, der – wie ich zugeben muss – ansteckend ist. Aber auch anstrengend. Obwohl ich den verwirrenden Controller nicht mehr selbst in der Hand habe, bin ich völlig fertig. Matt verabschiedet sich schließlich mit den Worten, er wolle sich ausschlafen, damit er morgen fit fürs Schneemannbauen sei.
Liam sieht mich fragend an. »Und? Wie hat dir dein erstes Spiel gefallen?«
Ich hole tief Luft und suche nach einer diplomatischen Antwort. »Vielleicht kommst du noch mal mit deiner Hexen-Seelenstein-Idee für Nerds und ihre Freundinnen auf mich zurück?«
Er lacht leise. »Verstehe.«
»Ich fand es nicht schlecht. Aber ich würde noch mal an die täuschend echte Grafik erinnern, die du mir versprochen hast. Und gegebenenfalls würde es doch reichen, Gegner temporär zu paralysieren, statt sie zu töten? Oder man könnte sie friedlich zaubern?«
Liams Lachen wird lauter. »Möchtest du, dass dabei rosa Sterne aufsteigen?«
»Das überlasse ich dir.«
»Aber soweit ich weiß, ist Shakespeare auch ziemlich gut darin, Figuren auf grausame Weise zu killen«, argumentiert Liam.
»Du denkst wahrscheinlich an Hamlet und Othello. Oder Macbeth.«
Liam hebt vage die Schultern. »Mag sein.«
»Für mich ist der Unterschied, dass die Figuren bei Shakespeare komplexe Charaktere mit eigener Agenda sind – mit Motiven, mit Boshaftigkeit oder Reue. Das Sterben geschieht selten nur so nebenbei. Und vor allem ist jemand anders dafür verantwortlich – nicht ich, indem ich R2 drücke.«
Liam lehnt den Kopf zurück. »Ich hoffe, das Spiel hat dich nicht traumatisiert.«
Ich lache auf. »So weit würde ich nicht gehen. Aber genauer werden wir das erst morgen wissen. Falls ich Albträume kriege, berechne ich dir zusätzliches Schmerzensgeld für diese Woche.«
Er wirft mir ein schiefes Lächeln zu. »Vielleicht kann ich es ja auch anders wiedergutmachen?«
Ich hebe die Augenbrauen. »Woran genau denkst du?«
»Ich könnte die Abendrunde mit Hamlet übernehmen.«
»Echt?«
»Klar. Es ist schon eher eine Post-Mitternachtsrunde, aber ich schätze, wenn ich mich jetzt noch mal mit ihm in die Kälte wage, können wir morgen ausschlafen, oder?«
Ich nicke zögernd. »Vorausgesetzt, Matt platzt nicht wieder beim ersten Tageslicht herein.«
»Ich sollte endlich meine Phobie gegenüber abgeschlossenen Türen überwinden.« Liam steht auf und ruft auf dem Weg nach draußen Hamlet zu sich, der sich aber nur brummend streckt und Liam mit anklagendem Blick darauf hinweist, dass er ihn aus dem Tiefschlaf gerissen hat. Ich muss ihn von seinem Handtuch schubsen, damit er hinter Liam hinaus auf den Flur trottet.
»Danke, Liam«, rufe ich ihm nach, während ich im Badezimmer verschwinden will. Er wirft noch einen Blick zurück ins Zimmer.
»Schlaf gut, Am-Febe-um.«