Das Wetter ist so grausig, wie es an einem englischen Wintertag nur sein kann. Hamlet und ich drehen eine lustlose Runde durch den Thurloe Square Garden, während kalter Regen sein Fell und meine Kleidung durchweicht. Kurz denke ich an meinen bunten Regenschirm, den ich irgendwo im Koffer dabeihabe. Aber der würde mich bei diesem windigen Wetter nicht retten. Schon gar nicht, weil die außerhalb des Parks vorbeifahrenden Autos den Regen von der Straße wieder hochspritzen. Es ist einfach unmöglich, bei diesem Wetter nicht von allen Seiten getroffen zu werden. Zusätzlich drückt der Winterhimmel grau auf meine Stimmung. Liam musste die Hälfte meiner Seelentröster-Cookies verputzen, um sich nach dem Streit mit seinem Vater zu beruhigen. Anschließend ist er mit Matt und Flora zur Foodbank gefahren, um ihre Spende und Weihnachtspäckchen abzuliefern. Ich ziehe mir meine Kapuze tiefer in die Stirn. Der kalte Wind treibt Hamlet und mich bald zurück und mithilfe von Liams Schlüssel kommen wir ins Haus, wo Charlotte bei unserem Anblick die Augenbrauen hebt.
»Definitiv kein Wetter für einen Spaziergang«, bemerke ich, während ich meine tropfende Jacke aufhänge und geistesgegenwärtig das bereitgelegte Handtuch über Hamlet werfe. Seinen Versuch, sich zu schütteln, ersticke ich damit im Keim.
»Ich wollte auch nicht rausgehen«, erklärt Charlotte. Sie biegt vor der Diele ab und verschwindet in der Küche.
Ich verdrehe die Augen. Da es schon kurz nach Mittag ist und Liam mit Flora und Matt in der Stadt einkehren wird, überlege ich, mir etwas zu essen aus der Küche zu nehmen. Da ich aber weder richtig Hunger noch Lust auf Charlottes Gesellschaft habe, gehe ich lieber in den Wohnraum und hoffe, dass schon jemand den Kamin angefeuert hat. Dankenswerterweise ist Nelson gerade dabei, als ich hereinkomme, und begrüßt mich freundlich mit den Worten, dass es gleich warm würde. Ich reibe meine Hände aneinander und schicke Hamlet zu seinem Platz auf dem alten Laken. Bestimmt duftet es noch nach Briefträgerbein. Jedenfalls lässt Hamlet sich bereitwillig darauf nieder. Die Gefahr, dass er mit seinem nassen Fell Flecken auf dem hellen Hochflor hinterlässt, dürfte damit gebannt sein.
Einen Moment lang beobachte ich, wie Nelson das Holz stapelt. Er hat sich eine Art Knieschoner übergestreift. Ich vermute, um seine helle Hose zu schützen, falls die Fliesen vor dem Kamin rußig sind. Als er seinen Holzturm mithilfe eines Anzünders in Brand setzt, die Glastür schließt und sich seine Finger sorgfältig an einem Lappen abputzt, setze ich mich aufs Sofa und zücke schmunzelnd mein Telefon. Familienstreit im Hause Harrison. Will auch in deinen Wellnesstempel , tippe ich an Joss, um Stress abzubauen.
Nelson setzt sich auf das Sofa mir gegenüber. »Du gehst heute auch nicht mit zum Klassentreffen, habe ich gehört?«
»Stimmt. Und du triffst Freunde?«
»Weihnachten ist eben die Zeit, wenn alle hier sind.« Er hebt die Schultern.
Joss’ Antwort blinkt auf meinem Display auf: Was ist das Drama? Sind Liam und Nelson mit Küchenmessern aufeinander losgegangen? Liegen beide am Boden? Wem ist Charlotte zu Hilfe geeilt? Das könnte ihre wahren Gefühle offenbaren.
Grinsend beginne ich, meine Antwort zu tippen, als Nelson fragt: »Machst du dir gar keine Sorgen?«
Warum? liegt mir bereits als Gegenfrage auf der Zunge, aber als ich aufblicke und Nelsons Gesichtsausdruck sehe, lösche ich das Wort aus der Sprachausgabe. Die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen, die seinem sonst so glatten Äußeren spottet, verrät, wie unwohl er sich fühlt. Plötzlich tut er mir leid. Bisher bin ich irgendwie davon ausgegangen, Liam sei der Leidtragende in der Situation und Nelson der Verursacher seiner Sorgen. In dieser Vorstellung war mir egal, wie Nelson sich damit fühlen würde, wenn Charlotte wieder Interesse an Liam entwickelt. Dabei ist gerade Nelson derjenige, der wirklich etwas zu verlieren hat: eine Verlobte nämlich.
»Nein, ich mache mir keine Sorgen«, sage ich schließlich.
»Aber du weißt sofort, wovon ich rede?«
Kurz hebe ich die Schultern. »Es ist nicht so, dass ich nicht darüber nachgedacht hätte.«
»Und zu welchem Schluss bist du gekommen, wenn ich fragen darf?«
»Dass ich keine Lust habe, Liam wie ein Wachhündchen hinterherzulaufen. Wenn da noch irgendetwas zwischen ihm und Charlotte ist, wird sich das früher oder später zeigen. Ehrlich gesagt, will ich es dann lieber früher wissen.«
Einen Moment lang mustert Nelson mich aufmerksam. »Verstehe.«
Da er in Schweigen verfällt, tippe ich weiter: Liams Vater hat verkündet, ich sei die bessere Partie als Charlotte. Denn ich werde bereitwillig auf Arbeit verzichten, wenn ich dafür Liams Kinder austragen darf.
»Entschuldige, wenn ich dir damit zu nahe trete«, beginnt Nelson schließlich von Neuem. »Aber was ist dein Gefühl? Empfindet Liam noch etwas für Charlotte?«
Mein Herz beginnt, beinah schmerzhaft gegen meine Rippen zu schlagen. Es will definitiv raus aus dieser Situation. Aber ich sollte ignorieren, dass Nelsons Frage mich mehr aufwühlt, als angebracht ist, und ihm eine faire Antwort geben. »Ich kann es nicht ausschließen.«
Nelson mustert mich forschend. »Und damit kommst du klar?«
Ich schenke ihm ein schiefes Lächeln. »Wie arm sind die, die nicht Geduld besitzen! Wie heilten Wunden, als nur nach und nach .«
»Wieder mal Shakespeare, vermute ich«, erklingt in diesem Moment Charlottes Stimme hinter mir. Mit einer großen Tasse, die den aufdringlichen Duft von Kaffee verströmt, setzt sie sich in einen der Sessel und zieht die Beine an. »Welches Stück?«
»›Othello‹.«
»›Othello‹«, wiederholt Charlotte. »Ein Eifersuchtsdrama. Worüber habt ihr denn gerade gesprochen?«
»Du hattest mich doch nach einem Text für eure Save-the-Date-Karten gefragt«, wechsle ich abrupt das Thema und hoffe einfach, dass sie glaubt, unser Gespräch habe sich darum gedreht. »Ich habe einen Vorschlag.«
»Aus ›Othello‹?« Skeptisch hebt Charlotte ihre perfekten, dunklen Brauen.
»Nein, aus ›Romeo und Julia‹.« Ich greife nach der nächstbesten Liebesszene, die mir in den Sinn kommt: »So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe so tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe, je mehr auch hab ich: beides ist unendlich .«
»Klingt schön.« Nachdenklich legt Charlotte die Stirn in Falten.
Joss’ Antwort auf meine Erklärung des Streits blinkt als ganze Batterie lachender Emojis auf meinem Handydisplay auf. Wie alt ist Liams Vater? Hundert?
Ich bin erleichtert, dass sie Christopher weiter in der Vergangenheit verortet als mich üblicherweise.
»Je mehr ich gebe, je mehr auch hab ich – das erinnert mich an dieses Lied, das Liam zu Weihnachten ständig singt.« Schon wieder richtet Charlotte diesen überlegenen Blick auf mich und erwischt mich kalt. Denn alles, was ich Liam bisher habe singen hören, war ›Frosty‹. Darin kommt eine derartige Songzeile nicht vor – soweit ich weiß.
»Wie heißt das noch mal?«, überlegt Charlotte.
Sofort wechsle ich aus meinem Chat mit Joss in Liams App und tippe die Stichworte Lieblingssong und Weihnachten ein. Kein Ergebnis. Automatisch schlägt mir die App vor, eine neue Frage einzutippen. Wenn ich das tue und die Dringlichkeit auf hoch stelle, wird Liam wahrscheinlich mitten in der Foodbank von einem sirenenartigen Warnton in egal welcher Tätigkeit unterbrochen – vorausgesetzt, das Feature funktioniert. Eigentlich halte ich es nicht für einen gravierenden Notfall, aber irgendwie möchte ich die Funktion testen.
Welches ist dein Lieblingsweihnachtslied – sollte irgendetwas mit Geben und Nehmen enthalten , tippe ich hastig.
»Weißt du es nicht?«, erkundigt sich Charlotte unter erhobenen Augenbrauen.
Sie wirkt zufrieden, als habe sie erfolgreich demonstriert, wie gut sie Liam kennt, während ich offensichtlich keine Ahnung habe, wer er eigentlich ist. Dabei gibt sie ja selbst vor, sich nicht an den Titel zu erinnern. Doch obwohl das Ganze ziemlich oberflächlich ist, gönne ich ihr diesen inneren Triumph nicht.
»Ich bin überhaupt nicht gut mit Songtiteln, aber ich suche es gerade in der Playlist, die Liam für mich gemacht hat.« Ich bin überrascht, wie glaubhaft diese Lüge klingt. Charlottes Lippen werden sofort schmaler. Sie glaubt mir offensichtlich und ehrlich gesagt freue ich mich diebisch darüber. Dabei spiele ich ein verdammt gefährliches Spiel. Denn wenn Liam mir nicht antwortet, werde ich erklären müssen, warum er mir ausgerechnet sein Lieblingslied auf der Playlist für mich vorenthalten hat. In diesem Moment blinkt ein Link in der App auf.
»Das müsste es sein«, rufe ich erleichtert, wobei ich das Icon antippe. Michael Bublés ›The More You Give‹ klingt aus den Lautsprechern meines Telefons.
Charlotte sagt nichts dazu, Nelson hingegen lacht. »Stimmt, angeblich der einzige Bublé-Song, den Liam gut findet. Aber es ist ja nur die eine Zeile. Findest du das so ähnlich?« Fragend sieht er Charlotte an.
»Ich glaube nicht, dass irgendjemandem das auffällt«, bemerke ich. »Vor allem, wenn ihr die Einladungen nicht ausgerechnet zu Weihnachten verschickt.«
»Ja, da hast du wahrscheinlich recht«, stimmt Charlotte mir zu und pustet gedankenverloren in ihren Kaffee.
Was ist los bei dir? , erreicht mich in diesem Moment eine Nachricht von Liam über den Messenger. Die dachten hier, es sei Feueralarm. Konnte gerade noch verhindern, dass sie die ganze Foodbank evakuieren.
Oh Schreck! Liam hatte mich ja gewarnt … Charlinquisition , tippe ich nur zurück.
»Was stinkt hier eigentlich so.« Charlotte rümpft die Nase. »Ist das der Hund?«
Ich finde Charlottes angewiderten Gesichtsausdruck völlig übertrieben. Zugegeben: Nasses Hundefell ist auch nicht mein Lieblingsgeruch, aber Hamlet kann ja nichts dafür.
»Ja, ich fürchte, das ist Hamlet. Ich gehe mal mit ihm nach oben.«
»Quatsch, das musst du nicht.« Nelson versucht, mich zurückzuhalten, aber ich bin schon auf dem Weg zur Treppe.
»Ich wollte sowieso was lesen.« Und vor allem habe ich keine Lust mehr auf Charlotte. Ich muss zugeben, dass sie mir mittlerweile auf die Nerven geht. Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass sie nicht gerade dazu beiträgt, Konfliktpotenziale während dieser Weihnachtswoche aus dem Weg zu räumen.
Aus der Küche hole ich mir jetzt doch eine Portion in der Mikrowelle aufgewärmter Reste, drehe in Liams Zimmer die Heizung voll auf und mache es mir mit meinem Mittagessen in einem der Sessel gemütlich. Hamlet streckt sich der Länge nach vor dem Heizkörper aus, als hoffe er, sein Fell trockne auf diese Weise schneller. Es wird schon Nachmittag, ich bin in Kazuo Ishiguros ›Klara und die Sonne‹ vertieft und Hamlet ist deutlich trockener, als die Tür auffliegt und Liam hereinkommt.
»Alles in Ordnung bei dir?«
Überrascht blicke ich auf. »Wieso?«
»Nelson meinte, Charlotte sei nicht nett zu dir gewesen?«
Die Frage steht ihm quer übers Gesicht geschrieben: Warum waren wir so irre, uns auf diesen Weihnachtswahnsinn einzulassen?
Ich muss lachen. »Was hat Nelson dir gesagt? Dass Charlotte mit einem Kuchenmesser auf mich losgegangen sei und nur knapp mein Herz verfehlt habe?«
Liam grinst und beugt sich zu Hamlet, der ihn schwanzwedelnd begrüßt. »Dieser Tag ist einfach zu viel für mich. Erst der Streit mit Dad. Dann schimpft Granny seit der Foodbank mit mir, weil ihr durch meinen App-Alarm angeblich das Herz stehen geblieben ist. Und jetzt ist schon wieder Stress.« Er setzt sich aufs Bett. »Nelson meint, Charlotte habe gestichelt. Was wollte sie schon wieder?«
Ich winke ab. »Sie war nur fies zu Hamlet.«
Liam zieht den Hund ein bisschen an den Schlappohren. »Was? Wieso das denn?«
»Sie findet, er stinkt.«
»Das stimmt ja auch.« Liam wuschelt Hamlet durch die Stirnlocken. »Aber das ist doch jedem von uns schon mal passiert.«
Ich muss lachen. »Und sie wollte mal wieder beweisen, wie viel besser sie dich kennt als ich. Ich dachte, ich warte besser hier im Zimmer, bis Hamlet ausgedünstet ist. Deinen Eltern gefällt es sicher auch nicht, wenn das ganze Haus nach nassem Hund riecht.«
In diesem Moment passiert, was offenbar immer passiert, wenn wir in Liams Zimmer zusammensitzen: Die Tür fliegt auf und Matt stürmt herein. »Febe!«
»Was ist los?« Erschrocken klappe ich mein Buch zu, denn die Dringlichkeit in seiner Stimme lässt mich mit dem Schlimmsten rechnen.
»Schnell, komm mit.« Matt stürmt auf mich zu, ergreift meinen Arm und zieht mich ohne Aufhebens aus dem Sessel. Hinter ihm her stolpere ich zur Tür.
»Matt, was ist los?«
»Das musst du sehen.« Er schleift mich hinter sich die Treppe hinab. Von Matts Alarm angesteckt, folgen uns nicht nur Hamlet und sein Geruch nach nassem Fell, sondern – etwas langsamer – auch Liam.
»Was hast du vor, Matt?«
Er zerrt mich hinter sich durch die Tür in den Salon – wobei er sich nicht verkneift, mir unterm Mistelzweig einen raschen Kuss auf die Wange zu geben – und weiter in den Wohnraum.
Als er mich hinter sich über die beiden Stufen ins Wohnzimmer zieht, sehe ich es endlich: Flora, Charlotte und Nelson haben sich vor den bodentiefen Fenstern zum Garten versammelt und beobachten den gewaltigen Hagelschauer, der sich draußen ergießt, als schütte ein Kipplaster seine Ladung auf die Terrasse der Harrisons. Hagelkörner in der Größe von Erbsen – mit einzelnen Rosenkohlvarianten dazwischen – prasseln herunter, hüpfen und springen über die Steinfliesen, bilden bald eine Schicht und schließlich kleine Häufchen. Ich gebe ein Stöhnen von mir und schaudere.
»Das ist das hässliche Gesicht des Winters.«
»Bist du verrückt?« Entgeistert sieht Matt mich an. »Es schneit.«
Erst jetzt bemerke ich seinen verzückten Ausdruck, während er den Blick nach draußen ins Unwetter richtet.
»Was?« Mit geweiteten Augen schüttele ich den Kopf. »Oh nein, Matt! Das da draußen ist kein Schnee. Das ist Hagel – fiese kleine Eiskugeln, die einen erschlagen können.«
Unbeeindruckt grinst Matt mich an. »Los, Schneemann bauen.«
Energisch schüttele ich den Kopf. »Auf keinen Fall! Aus Hagel baut man keine Schneemänner.«
»Sagt wer?«
»Der Name: Es heißt Schneemann – nicht Hagelmann.«
Lachend klopft Matt mir mit dem Fingerknöchel gegen die Stirn. »Denk doch mal out of the box . Komm schon, du hast es versprochen.«
Flora, die eine Tasse fast so groß wie ein Suppenteller in den Händen hält, blinzelt mir zu. »Versprechen muss man halten.«
»Ihr werdet Febe ja wohl nicht da rausjagen«, meint Charlotte. »Nur weil Matti die Welt mit den Augen eines Zwölfjährigen sieht.«
Nelson grinst nur. »Ihr werdet Matti sowieso nicht davon abhalten.«
»Moment.« Ich hebe beide Hände, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Unsere Abmachung war, dass ich mit dir einen Schneemann baue, wenn es schneit. Es hagelt aber. Du kriegst mich auf keinen Fall nach draußen.«
»Das werden wir sehen. Ich hole dir eine Mütze.« Matt lässt mich stehen und verschwindet. Als ich ihm entrüstet hinterherblicke, fange ich Liams Blick auf. Ein schadenfrohes Grinsen hat sich auf sein Gesicht geschlichen. Meinen bittenden Blick lässt er mit einem Schulterzucken an sich abprallen. Er wird mich nicht aus dieser Nummer retten. Mit Grauen richte ich meinen Blick wieder nach draußen. Der Hagelstrom aus dem tief hängenden grauen Himmel lässt nach, aber das etwas ausgedünnte Regen-Eis-Gemisch geht nach wie vor ziemlich gnadenlos auf den Garten nieder. Eine Schicht von Hagelkörnern hat sich bereits als kalte nasse Decke auf das Rasenstück und die Terrasse gelegt.
»Matti wird ewig ein Junge bleiben.« Flora nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse. »Er wird nie begreifen, dass man so ein Schauspiel einfach von drinnen betrachten und sich freuen könnte, dass man das Zeug nicht auf den Kopf bekommt. Wer weiß, vielleicht ist das ja gut so.« Sie blinzelt mir zu, aber ich kann dem Ganzen wenig abgewinnen.
»Los, Febe, auf geht’s!« Matt stülpt mir meine bordeauxfarbene Wollmütze auf den Kopf. Mein Schal landet über meinen Schultern. Matt schiebt mich in Richtung Terrassentür. Aufgeregt springt Hamlet an uns hoch.
»Matt!«, protestiere ich. »Matt, das war nicht die Abmachung.«
»Wir bauen jetzt einen Schneemann«, bestimmt er. »Und danach schreibe ich einen Song für dich.«
»Echt?« Ich blicke mich zu ihm um, versuche festzustellen, ob er das ernst meint. In diesem Moment pralle ich fast gegen die Terrassentür und Matt lässt meine etwas abgetretenen, aber warmen Dock Boots vor meine Füße fallen.
»Ich gehe mit dir raus«, entschließe ich mich. »Aber danach bringst du mir eine Kanne Tee, eine heiße Wärmflasche und du schreibst mir eine Hymne.«
Ein spitzbübisches Lächeln blitzt in Matts Gesicht auf. »Deal.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.« Charlottes Kommentar ignorierend schlüpfe ich in meine Stiefel. Nur einen Moment später öffnet Matt die Terrassentür. Die feuchtkalte Luft trifft mich wie mit feinen Nadeln, die mir direkt unter die Haut gehen. Meine Atemluft steigt frostig auf. Mittlerweile haben die Hagelkörner nur noch die Größe von Reiskörnern.
»Jetzt ist es wirklich Schnee«, behauptet Matt, der die Terrassentür schließt, nachdem Hamlet hinter uns hindurchgeschlüpft ist. Seiner Diagnose kann ich allerdings in keiner Weise zustimmen. Schneeflocken segeln mit einer gewissen Leichtigkeit zur Erde oder tanzen zauberhaft durch die Luft. Hagel hingegen jagt zielstrebig dem Boden entgegen, als habe jedes einzelne Korn den Plan, mit größtmöglicher Kraft einzuschlagen. Und gerade treffen die Körner mit dieser Einstellung mich. Eilig rücke ich meine Mütze zurecht, schlinge mir den Schal mehrfach um die Schultern und ziehe ihn mir bis übers Kinn. Hamlet schnappt begeistert nach dem Hagel und springt so tollpatschig herum, dass ich ihn kaum wiedererkenne. Offenbar ist er entschlossen, Matt nicht nur in Sachen Frisur zu ähneln. Beherzt greift Matt in den nächsten Hagelhaufen, formt ihn mit bloßen Händen zu einer Kugel und wirft sie für Hamlet.
»Wenn du auf einen Schneemann kommen willst, darfst du nichts verschwenden«, bemerke ich.
Bereits nach den wenigen Minuten im Garten zittere ich am ganzen Körper. Trotzdem beginne ich tapfer, Hagelreste zusammenzukratzen und in meinen schmerzenden Händen zu formen. Hagelkörner treffen mein Gesicht. Schmelzwasser rinnt über meine Haut.
»Halt du ihn fest. Mir friert die Hand ab«, bringe ich mit bebender Stimme hervor, als Matt eine etwas kleinere Kugel auf die setzt, die ich schon geformt habe.
»Behalt du ihn«, gibt Matt zurück. »Deine Hand hat die Umgebungstemperatur angenommen. Da schmilzt er nicht so schnell.«
Empört boxe ich ihm mit der freien Hand gegen die Schulter. Mit seiner Feststellung hat er zwar nicht ganz unrecht, aber der Temperatursturz in meinen Gliedern ist äußerst schmerzhaft. »Nimm ihn, Matt, oder ich lasse ihn fallen.«
»Wie grausam bist du denn?« Hastig übernimmt Matt den Schneemann und hebt ihn auf Augenhöhe. »Dabei bist du noch nicht mal fertig, mein Kleiner.«
Kichernd bücke ich mich ins Gras und schiebe eine weitere Handvoll Hagelkörner zusammen. »Du weißt schon, dass er kein Mini-Frosty ist, der gleich zum Leben erwacht, oder?«
»Nichts ist unmöglich. Du hast auch nicht geglaubt, dass es heute schneit.«
»Das ist Hagel, kein Schnee.«
Über diese Unterscheidung kabbeln wir uns noch, als der Hagelschauer endlich nachlässt, wir den Schneemann auf Matts Handfläche mit Bauch, Körper und Kopf ausstatten und ihm aus einem Blatt einen Hut zaubern. Darauf bestehe ich, damit der arme Kerl nicht so bitterlich friert wie ich. Im penibel aufgeräumten Garten der Harrisons ist es schwierig, Accessoires für unseren Mini zu finden. Auf den Fliesen entdecke ich in einer Fuge ein Kieselsteinchen, das ich ihm als Nase verpasse und von einem Zweig lässt Matt mich winzige Stücke abbrechen, die ich dem Schneemännchen als Augen einsetze – mit meinen roten, steif gefrorenen Fingern eine echte Herausforderung. Aber dann ist er fertig. Matt balanciert den kleinen Kerl auf seiner Handfläche. »Oh, er ist so niedlich. Es bricht mir das Herz, dass er bald sterben wird.«
»Er wird schmelzen«, tröste ich ihn. »Er ändert nur den Zustand.«
»Du bist sehr abgebrüht, Febe. Komm, lass uns den Moment festhalten. Machst du ein Foto?«
Ich versuche es – wirklich. Matt dreht den Minimann auf seiner Hand in meine Richtung und strahlt mich mit blitzenden Augen, roten Wangen und krausem Lockenkopf an. Ich habe das Telefon aus meiner Hosentasche gezogen, aber das Display reagiert nicht auf die Berührung meiner Amphibienfinger.
»Warte, ich mache das.« Matt richtet den kleinen Frosty auf seiner Handfläche aus, schlingt den freien Arm mit seinem Telefon um meinen Hals und schießt ein schiefes Selfie von uns.
»Kann ich das benutzen für meine Social-Media-Kanäle?«
»Wenn ich jetzt wieder reindarf?«
»Klar.«
Erleichtert drehe ich mich um und sehe, dass Liam über die Terrasse auf uns zukommt. Ich ziehe mir die Pulloverärmel über die Hände und will ihm entgegenlaufen, als mich etwas im Nacken trifft – eiskalt und nass. Mit einem erschreckten Quietschen fahre ich herum. Nur wenige Schritte von mir entfernt hat Matt den Minischneemann im Gras abgestellt – offenbar, um mich mit Hagelmatsch abzuwerfen. Er schiebt bereits die nächste Handvoll zusammen.
»Wofür ist das denn?« Empört stemme ich die Hände in die Hüften.
»Das gehört dazu«, behauptet Matt. »Erst baut man einen Schneemann. Dann macht man eine Schneeballschlacht.« Er schleudert mir Hagelreste entgegen, die aber Liam treffen, weil ich kichernd ausweiche. Sofort bückt sich auch Liam, um Hagel zusammenzuschaufeln. Wie in Kindertagen renne ich durch den Garten, verschanze mich hinter dem einzigen Baum auf der Rasenfläche und bewerfe jeden, der in meine Nähe kommt, bevor ich noch mehr Gras und halb geschmolzenen Hagel abbekomme. Ich liebe das ausgelassene Lachen der Brüder. Ich liebe, wie Hamlet befreit durch den Garten stürmt. Ich liebe, wie mir Hitze in die Wangen steigt, während ich atemlos vor den Hagelangriffen in Deckung gehe. Denn Liam und Matt haben sich in den Kopf gesetzt, dass ich im Gegensatz zu ihnen noch nicht genug abbekommen habe.
Kreischend versuche ich, vor Matt zu flüchten und pralle gegen Liam. Er schlingt die Arme um mich, zieht mich an sich, hält mich fest. Unter seinem dunkelblauen Pullover fühle ich seine feste Brust. Sofort geraten meine Sinne in eine Art beschwipsten Taumel. Sein Lachen überträgt sich auf mich. Ich liebe das Vibrieren in meinem Körper. In hellem Grün und Silber blitzen seine Augen auf und senden einen Sturm durch meine Nervenbahnen. In Erwartung der eiskalten Abreibung winde ich mich in seinem Arm. Aber dann bleibt die Welt stehen. Liams Mund trifft meinen. Ein überraschter Laut entfährt mir – eine Schockwelle bis in meine äußersten Nervenfasern, rasender Herzschlag, durch meine Adern wallende Hitze. Liams Lippen auf meinen sind weich und warm. Im Kontrast zur Winterkälte, die durch meinen Pullover dringt, ist das Gefühl umso elektrisierender. Ich spüre seine Hand in meinem Nacken und schlinge meine Arme um seinen Oberkörper. Sofort will ich mehr von ihm spüren – seinen Körper an meinem, seine Haut auf meiner, seine Lippen, seine Küsse, seine Hitze, seinen Druck. Ich bin es, die den Kuss fester und fordernder werden lässt. Meine Zunge trifft auf seine. Dieser Kuss wird zu einer gewaltigen, berauschenden Ewigkeit – bis mich eisige Hagelmatschmasse im Gesicht trifft und zurück in die Realität katapultiert.
»Ihr wisst schon, dass Granny zuschaut, oder?«
Liam und ich lösen uns voneinander. Seine Wangen sind gerötet, seine Augen dunkel. Ich blinzele benommen. Trotz der eisigen Abkühlung verabschiede ich mich nur langsam aus dem Paralleluniversum, in dem Liam und ich uns küssen.
»Granny ist die Letzte, die ein Problem damit hat.«
Ich habe das Gefühl, dass auch Liam mich nur widerwillig loslässt. Matt hat die Arme vor der Brust verschränkt und mustert uns grinsend. Hamlet sitzt neben ihm und ist sichtlich irritiert. Seine Schlappohren zucken.
»Vielleicht solltet ihr trotzdem aufs Zimmer gehen.«
»Nichts da!« Ich erlange die Kontrolle über meine Sinne zurück. »Du schuldest mir heißen Tee und eine Wärmflasche. Ich gehe duschen und erwarte, dass beides bereitsteht, wenn ich wiederkomme.«
Matt nimmt eine aufrechte Körperhaltung an und salutiert laienhaft. »Geht klar.«
Kurz drückt Liam meine Hand. »Beeil dich, Febe. Ich muss mich auch bald fertig machen.«
Ich blicke zu ihm auf und bereue es sofort. Sein Blick droht, mich erneut in den Bann zu ziehen. Dabei muss er nicht aussprechen, was er meint. Sein Klassentreffen ruft – und Charlotte … Ich beiße mir auf die Unterlippe, versuche, die Ernüchterung und Enttäuschung zu unterdrücken.
»Ja, klar«, sage ich und wende mich ab. »Es ist ja noch Zeit. Ich brauche nicht lange.« Fast habe ich die Terrasse erreicht, als Matt mir hinterherruft:
»Was machen wir denn mit unserem Mini-Frosty?«
Noch einmal drehe ich mich um. Matt deutet auf das Hagelmännchen, das vorgibt, ein Schneemann zu sein, und vor seinen Füßen im Gras hockt.
»Er ist ja irgendwie unser Baby. Soll ich ihm ein schönes Leben in unserer Gefriertruhe ermöglichen oder findest du, er muss sich allein durchschlagen?«
In dem Moment beugt Hamlet sich vor und schnuppert kurz am Schneemännchen. Dann verschwindet Mini-Frosty in seiner Schnauze.