Im schwindenden Licht des Tages sind noch einige Hagelschauer heruntergekommen. Jedes Mal habe ich mich gefühlt, als würde mein Herz von Neuem schockgefrostet. Denn die eine Gelegenheit, die es gab, den Kuss anzusprechen, hat Liam nicht genutzt. Und ich auch nicht. Ich bin in Jogginghose, Hoody und Wollsocken aus dem Bad gekommen und er ist hineingegangen mit der Bemerkung, seine Mum richte unten etwas zum Essen her. Wahrscheinlich muss ich froh sein, dass Liam mir keinen weiteren Vortrag darüber hält, wie wenig Bedeutung so ein Kuss haben kann. Während er oben duscht und sich umzieht, schlagen Flora, Joan, Matt und ich uns die Bäuche mit Resteessen voll. Nelson ist bereits aufgebrochen, um seine Freunde zu treffen. Christopher sitzt bei uns am Tisch, isst aber mit seinen akkuraten Bewegungen lediglich etwas Suppe und Brot. Wir alle spiegeln uns in der Scheibe und ich beobachte darin, wie Joan lacht und mit den Händen gestikulierend von ihrem Tag in der Klinik berichtet. Wenn Christopher sie unterbricht, um ein Detail zu korrigieren, verstummt sie sofort.
Matt, Joan und ich räumen schließlich gemeinsam die Küche auf, während Flora vor der Wand im hinteren Teil des Wohnraums eine Leinwand herunterfahren lässt und den an der Decke befestigten Beamer startet. Der funkelnde Weihnachtsbaum verbreitet sein warmes Licht, als wir uns mit Getränken und Keksen in der Sitzgruppe versammeln. Das Kaminfeuer lässt die Temperatur im Raum so weit steigen, dass selbst ich ins Schwitzen komme. Christopher sitzt etwas steif mit der Tageszeitung in einem der Sessel und beteiligt sich kaum an der Diskussion, während Flora durch die endlose Liste möglicher Filme zappt.
»Ich brauche etwas Lustiges nach dem Schock von heute Nachmittag.« Matt hat noch immer nicht verkraftet, dass der Mini-Schneemann Hamlets Appetit zum Opfer gefallen ist.
Ich krümme die Zehen, die ich im Fell des Hundes vergraben habe. Mit einem wohligen Brummen streckt Hamlet sich unter meinen Füßen lang. Flora klammert sich fest an die Fernbedienung, um sie gegen Angriffe von außen zu verteidigen. Matt versucht jedes Mal, sie ihr abzuringen, wenn Flora vergisst, sie auf den Beamer statt auf die Leinwand zu richten. In diesem Moment nehme ich den mir inzwischen so vertrauten Duft wahr: Zitronenverbene und Kiefer. Intensiv und aufwühlend überlagert er die Süße des Snowman-Biscuits , in den ich gerade beißen wollte. Ich blicke auf. Liam steht neben dem Weihnachtsbaum.
»Ist Charlotte schon fertig?«
Flora blickt nur kurz auf. »Ist das eine ernst gemeinte Frage?«
Ich mustere Liam. Auf einmal wirkt er unnahbar. Seine Haare hat er fast vollständig zurückgekämmt. Unter seinem figurbetont geschnittenen mitternachtsblauen Anzug trägt er ein anthrazitfarbenes Hemd. Ich seufze leise. Er sieht auf eine zurückhaltende Art aufregend gut aus. Aber er wirkt auch kühl, sehr beherrscht, als habe er etwas von seinem Wesen tief in sich verborgen. Seine Mimik ist weniger lebhaft. Kurz fängt er meinen Blick auf, aber sein sonst so rasches Lächeln reduziert sich auf ein kurzes Heben der Mundwinkel. Den Kuss von heute Nachmittag kann ich nicht mehr glauben. Wahrscheinlich muss ich mich mit dem Gedanken abfinden, dass er viel weniger aus dem Moment geboren war, als es sich für mich angefühlt hat. Offensichtlich war er eine Show für die Zuschauenden hinter der Scheibe.
Schnell greife ich nach einem weiteren Snowman-Biscuit und schiebe ihn mir komplett in den Mund. Süß zerfällt der Keks auf meiner Zunge und tröstet mich ein bisschen. Allerdings nur so lange, bis Charlotte hinter Liam auftaucht. Denn jetzt verstummen sogar Flora und Matt in ihrer Kabbelei um die Fernbedienung und Christopher mit seinen Zwischenrufen, er werde nur ›Eine Weihnachtsgeschichte‹ von Dickens akzeptieren, falls die Wahl auf einen Klassiker fiele. Charlotte allerdings lässt uns alle das Problem der Filmauswahl für einen Moment vergessen. Sie trägt ein eng anliegendes schwarzes Glitzerkleid. Es setzt ihr Dekolleté mit einem tiefen Ausschnitt in Szene, folgt hauteng den Linien ihres Körpers und endet so knapp unterhalb ihres Pos, dass ihre schlanken Beine endlos wirken. Auf Schmuck hat sie weitgehend verzichtet. Dann entdecke ich es jedoch: das Armband, das Liam ihr zu Weihnachten geschenkt hat. Plötzlich wird mir schlecht. Ich wende den Blick ab, greife nach einem weiteren Snowman . Christopher sieht mir zu. Offenbar beobachtet er mich schon wieder und ich bemühe mich um eine unbeschwerte Miene.
»Wie viele willst du eigentlich noch von denen essen?«, fragt Matt mich vorwurfsvoll. »Jetzt weiß ich, woher Hamlet das hat.«
Schuldbewusst blicke ich auf den Keks in meiner Hand, komme jedoch nicht zu einer Antwort, denn Joan steht auf. »Du siehst großartig aus, Charlotte.« Kurz nimmt sie erst Charlotte in den Arm und dann Liam. »Du übrigens auch, mein Schatz. Habt einen schönen Abend und grüßt Damien von mir. Der kommt doch sicher auch, oder?«
Statt einer Antwort sieht Liam mich an, sodass ich mich frage, ob er seine Mum überhaupt gehört hat. Mit der Hand in seiner Hosentasche klimpert er mit seinem Schlüssel. Kurz glaube ich, er wolle etwas sagen, als ich ein leises Zucken um seine Mundwinkel wahrnehme. Doch er leitet den Impuls um, indem er sich halb abwendet. »Wir machen uns besser auf den Weg. Wir sind spät dran.«
»An mir soll es nicht liegen.« Charlotte winkt mit einer eleganten Handbewegung in die Runde. »Viel Spaß beim Film.«
Wahrscheinlich tue ich ihr unrecht, aber es klingt wie eine Beleidigung. Meine Zehen krümmen sich fester in Hamlets Fell. Ungeachtet von Matts Kommentar gönne ich mir den nächsten Snowman .
»Was willst du denn lieber sehen, Febe?«, fragt mich Flora. »›Liebe braucht keine Ferien‹ oder ›Tatsächlich Liebe‹?«
»Oder ›Iron Man‹?« Lauernd sieht Matt mich an.
»›Iron Man‹?«, wiederholt Joan, die sich zu Christopher aufs Sofa setzt. »Ich dachte, wir gucken was Weihnachtliches.«
»›Iron Man III ‹ ist doch superweihnachtlich«, argumentiert Matt leidenschaftlich. »Im Soundtrack versteckt sich ›Jingle Bells‹.«
Flora unterbricht ihn mit einem Schnauben. »Die Betonung liegt auf versteckt .«
Eifrig fährt Matt fort: »Das ist ja nicht alles: Tony Stark irrt im Schnee herum und trifft diesen Jungen, der wie eine jüngere Version von ihm ist. Das ist doch voll Geist der vergangenen Weihnacht. Und überhaupt: Tony ist fast wie Scrooge – nur als Hightech-Version. Los, Febe, sag, dass du ›Iron Man‹ gucken willst.«
»Gucken wir am Ende nicht sowieso ›Tatsächlich Liebe‹?«, bemerkt Christopher. »Jedes Jahr diskutieren wir stundenlang und dann gucken wir ›Tatsächlich Liebe‹.«
Wir blicken alle auf, als jemand mit einem Schwall kalter Luft neben dem Weihnachtsbaum auftaucht. Liam!
»Hast du was vergessen?«, fragt Joan überrascht.
»Ja.« Liams Blick findet meinen. »Febe, würdest du mitkommen?«