In aller Eile stopfte ich eine Banane in mich hinein. Lief zweimal um den alten Mahagonitisch herum und benötigte für jede Runde exakt vierzehn Schritte. Anschließend las ich das Vorwort (wonach ich mich auf einen Brief am Tag beschränken sollte), zog den Brief mit der aufgemalten Eins aus dem dicken Umschlag, steckte ihn aber sogleich wieder zurück.
Eine weitere Runde um den Tisch.
Hatte ich einen Vater?
Niemand hatte ihn je auch nur mit einem Wort erwähnt. In meiner ganzen Kindheit und Jugend nicht. Kein Mensch hatte jemals genickt und gesagt, ich hätte die Nase oder den großen Zehennagel meines Vaters, seine Singstimme oder sein Pech beim Mau-Mau.
Ich hatte auch nie nach ihm gefragt. Vielleicht muss man Großtante Ruth gekannt haben, um zu verstehen, warum.
Nun denn. Ich lief weiter. Dreizehn Schritte, offensichtlich hatte ich die Schrittlänge vergrößert. Dann fünfzehn.
Ja, ich konnte mich erinnern, mir als Jugendliche eingeredet zu haben, mein Vater müsse ein russischer Spion gewesen sein. Ein Wladimir vielleicht oder ein Boris. Den die Amerikaner beseitigt hatten – einen Verräter, der niemals erwähnt werden durfte. Ich habe nämlich ziemlich hohe Wangenknochen.
Und jetzt sollte er nach all den Jahren plötzlich auf dem Weg zu mir gewesen sein? Einfach so? Und obendrein mausetot?
Nein, das konnte nicht sein.
Trotzdem nahm ich die siebte Umrundung des Tischs in Angriff. Gegen den Uhrzeigersinn, mit dem braunen Briefumschlag unter dem Arm.
Schließlich ging ich nach draußen auf die Terrasse. Dort stand ich im Dunkeln und sog die kalte Novemberluft ein, während die Gartenleuchte den Raureif in Großtante Ruths Kletterrosen glitzern ließ.
London, den 14. September 2019
Als Erstes muss ich Dir eine Frage stellen: Hast Du Dich jemals mit dem Sternenhimmel beschäftigt?
Wenn ja, hast Du bestimmt schon von Voyager 1 und 2 gehört, den Raumsonden, die seit 1977 auf dem Weg in die Unendlichkeit sind. Während ich dies schreibe, sind sie 21 bzw. 18 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Beide haben unser Sonnensystem verlassen und werden, grob geschätzt, erst in 40000 Jahren andere Planetensysteme erreichen.
Neben vielem anderen haben die Sonden zwei Datenplatten aus vergoldetem Kupfer an Bord: »The Golden Records«. Gemacht für die Ewigkeit, mit Bildern und Tonaufnahmen vom Leben auf der Erde, für den Fall, dass intelligente Außerirdische sich zu irgendeinem Zeitpunkt dafür interessieren sollten.
Man weiß ja nie.
Liebe Vilma: Die Liste mit den Tonaufnahmen findest Du auf den Internetseiten der NASA . Ich möchte Dich bitten, vor allem auf eine bestimmte Einspielung zu achten, und zwar die von Bachs Zweitem Brandenburgischen Konzert mit dem Münchener Bach-Orchester unter dem Dirigenten Karl Richter von 1967.
V.
Das Weltall? Was sollte ich jetzt davon halten?
Der einzige klare Gedanke, den ich fassen konnte, war der, dass Mama Bach gespielt hatte. Auf dem Klavier im Esszimmer. Das gehört zu den wenigen Dingen, an die ich mich erinnere.
Die Verandatür fiel hinter mir zu, und ohne es zu merken, musste ich an dem alten Instrument Platz genommen haben. Ich fror. Trotzdem legte ich die Finger auf die Tasten und suchte nach den ersten Akkorden eines frühen Bach-Präludiums.
Nein. Es half nichts.
Ein Vater?
Das kam schon sehr plötzlich. Und für plötzliche Dinge habe ich so meine Methoden. Sie stammen nicht von Großtante Ruth, obwohl sie zugegebenermaßen der Mensch war, den ich bis heute am besten gekannt habe. Auch nicht von meinem Vater (der sich bis vor wenigen Minuten in der Peripherie befunden hatte. Besser gesagt: vollkommen abwesend gewesen war).
Nein, wenn ich es wirklich brauche, stelle ich mir vor, dass ich mit Mama spreche. Dass sie die Finger von den Tasten nimmt, die Hände in den Schoß legt und Sachen sagt wie »Das wird schon wieder«. Oder »Es war nicht deine Schuld«. So was in der Art.
Und in der Regel frage ich sie: »Was würdest du denn tun?«, bevor wir dann eine Art Gespräch führen. Natürlich liegt es in der Natur der Sache, dass vor allem ich rede. Denn Mama ist seit mehr als dreißig Jahren tot.
Trotzdem ist sie immer sehr verständnisvoll, nickt ständig und scheint nie von mir genervt zu sein. Außerdem sagt sie oft »Na klar, na klar«, wenn sie der Meinung ist, Dinge kämen wieder ins Lot. Dass ich es hinkriege. In der Hinsicht ist sie toll.
Tja, immer mal wieder denke ich natürlich, es wäre schön, mich mit mehr lebenden Menschen zu umgeben. Um mal ein Schwätzchen zu halten, wie man so schön sagt.
Wobei, ich habe ja Sølvi und meine Klavierschüler. Und im Laufe einer Kaffeepause kann man schon ziemlich lange Schwätzchen halten. Aber trotzdem.
Der Vorteil von Mama ist: Sie hat rund um die Uhr geöffnet, an Werktagen wie am Wochenende.
In der aktuellen Situation fand ich es aber schwierig, ausgerechnet mit ihr zu sprechen. Ich saß auf dem Klavierhocker und dachte: Falls der Mann, der mir geschrieben hatte, wirklich mein Vater war, wäre Mama in dieser Sache … hm, befangen. Vorsichtig ausgedrückt.
Ich sollte einfach mit Sølvi sprechen.
Und ich will auch gar nicht leugnen, dass es sich anfangs wie etwas Verbotenes angefühlt hat. Mir eine Kollegin herbeizudichten, die eigentlich quicklebendig war und mir ihre Ansicht auch persönlich hätte kundtun können.
Allerdings wusste ich genau, wie das Gespräch beginnen würde. Nämlich damit, dass Sølvi sagte: »Bloß ein Brief pro Tag? Das erträgt doch kein Mensch.«
Ich würde nicken, aber dann antworten: »Ich mag Regeln.« Was ja auch stimmt.
Sølvi würde mich mustern und möglicherweise unter der Dunstabzugshaube im Lehrerzimmer an einer Zigarette ziehen.
»Wie kannst du dir sicher sein, dass er dein Vater ist? Und nicht … irgendein Irrer? Ein durchgeknallter Stalker, der mit Fernglas in deinem Garten herumkrabbelt?«
Völlig abwegig klang das nicht.
»Er ist doch nicht mit einem Fernglas herumgekrabbelt«, würde ich ihr entgegenhalten. »Er saß tot in einem Flugzeug.«
In dem Punkt müsste sie mir selbstverständlich beipflichten.
»Aber«, könnte ich sagen, »vielleicht war er ja vor seinem Tod ein Stalker.«
Nein. Ich stellte mir vor, wie sie den Kopf schütteln würde. »Ein Typ, der dich plötzlich von London aus stalken soll? Sorry, Vilma – du bist ja nicht mal bei Facebook.«
Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich meine, bisher hatte sich überhaupt gar keiner für mich interessiert. Da wäre es doch ziemlich schade, wenn gleich der Erste ein Gestörter aus dem Internet wäre.
»Und diese Geschichte mit Bach?«, würde Sølvi fragen und an ihrer Zigarette ziehen.
Sie meinte natürlich die Aufnahme, das Brandenburgische Konzert, das V. mir ans Herz gelegt hatte.
Ich war unsicher. Tatsache ist, dass ich nicht mehr sehr viel Musik höre. Nicht daheim, zwischen Großtante Ruths Möbeln und den Bildern an der Wand. Es kommt mir fast so vor, als verlangte das alte Haus nach Stille.
Ich klappte den Klavierdeckel zu.
Schon war Sølvi zurück.
»Du solltest dir die Aufnahme anhören«, sagte sie.
»Du solltest mit Rauchen aufhören«, sagte ich und öffnete den zweiten Briefumschlag.
London, den 15. September 2019
Liebe Vilma,
die Tatsache, dass Du in diesem Augenblick das Gekritzel des Unterzeichners in Deiner Hand hältst, bedeutet letztlich, dass es mir nicht gelungen ist, Dich zu treffen. Und auf diese Möglichkeit habe ich mich, wie Du siehst, vorbereitet. Viele Monate habe ich nachgedacht, geschrieben, Sätze verworfen und wieder von vorn angefangen. Darum setze ich erneut auf die Musik, wenn ich jetzt erzähle. Und ich glaube fest daran, dass sie auch Dich auf die eine oder andere Weise berühren wird.
Denn ich hoffe, Du hast die Zeit gefunden, der Einspielung zu lauschen?
Ich erlaube mir, davon auszugehen, dass Du klassische Musik magst. Und aus vielerlei Gründen habe ich beschlossen, den guten Johann Sebastian die Stimmung vorgeben zu lassen, er bringt Licht in so vieles, der alte Meister.
Es mag berechnend wirken, dass ich die richtige Atmosphäre erzeugen will, bevor ich beginne, aber Du sollst wissen, dass ich es angesichts der Umstände in bester Absicht tue.
Auch sollst Du wissen, dass ich Dir gern meine ganze Geschichte erzählt hätte, wie ich an diesem Punkt angelangt bin.
Stattdessen hoffe ich nun, dass Dir die Musik eine Art Resonanzraum für das bietet, was ich Dir mitteilen muss. Denn mir ist klar – ich kann nicht länger warten.
Wie Deine Mutter zu sagen pflegte: Na klar, na klar.
Jetzt heißt es, Augen zu und durch.
Liebe Vilma, ich bin Dein Vater.
Diese Worte zu Papier zu bringen erfüllt mich mit unendlicher Rührung.
Ich trat wieder durch die Verandatür ins Freie. Stand in dünnen Hausschuhen auf den kalten Planken und betrachtete den Sternenhimmel. Das Sonnensystem. Den Polarstern.
Ich fand den Großen Wagen direkt über dem Haus.
Und zählte. Drei Sterne im Gürtel des Orion.