Von Männern und vom Radfahren ohne Helm

»Heirate bloß keinen Mann mit Neurodermitis.«

Das war Sølvi, ohne jede Einleitung, wie immer. Sie ließ sich auf das Sofa im Lehrerzimmer plumpsen. »Jedes Mal, wenn ich ihn bitte, etwas im Haushalt zu machen, hat er sich just die Hände mit Feuchtigkeitscreme eingerieben.«

Ich schluckte einen Bissen Knäckebrot hinunter und folgerte aus dem Gesagten, dass es sich bei dem Eingeriebenen um Sølvis Mann handelte, der den jahrelangen, ausführlichen Beschreibungen zufolge ganz und gar lebensunfähig zu sein schien.

Ach, ja. Die arme Sølvi, sie hatte wohl wie üblich etwas vorschnell gehandelt.

»Und zu allem Überfluss habe ich auch noch seine Gene weitergegeben«, seufzte sie, »und die meiner Schwiegermutter!« Sie schüttelte sich. »Eingewachsene Zehennägel garantiert …«

Ich legte mein Knäckebrot auf das zerknüllte Butterbrotpapier. Das zweifelhafte Erbgut von Sølvis Schwiegermutter interessierte mich nicht die Bohne.

Doch was Sølvis Rat betraf, konnte ich sie zum Glück beruhigen: »Ich habe eigentlich nicht vor, Kinder in die Welt zu setzen.«

Sølvi musste lachen.

»Was hast du denn stattdessen vor?«

Ich war kurz verunsichert. Worauf wollte sie hinaus? Dass wir Menschen uns die Welt untertan machen und uns vermehren sollten? Es konnte doch nicht sein, dass dabei alle mitmachen mussten.

Trotzdem verlangte ihre Frage nach einer Antwort. Ich räusperte mich: »Ich habe mir einen netten Pfarrer gesucht«, erklärte ich. »Mit warmen Händen.«

Es folgte eine kurze Pause.

»Mit warmen Händen?«, fragte Sølvi. »Und … was hat er mit diesen Händen vor?«

Schwer zu sagen, woran sie dachte, an Heilung oder an etwas völlig anderes?

»Ich werde mit ihm reden«, erklärte ich sachlich, »am Montag um zwei.«

 

Ja, genau das hatte ich vor. Gestern, nach der etwas seltsamen Unterhaltung mit dem Sektionsassistenten, hatte ich nämlich sofort im Pfarrbüro angerufen, einfach so. Dann hatte ich mit dem zuvorkommenden Pfarrer gesprochen, der mir eine volle Stunde am kommenden Montag anbieten konnte. Um zwei Uhr.

Das war wirklich großzügig von der norwegischen Kirche: eine volle Stunde, einzig und allein meinem ersten Schritt aus der gefährlichen Einsamkeit gewidmet.

Doch damit nicht genug: Außerdem erklärte sich der Pfarrer bereit, mich zwei Tage später zum Sektionsassistenten zu begleiten. Ich sah vor mir, wie er am anderen Ende der Leitung verständnisvoll nickte, als ich ihm anvertraute, dass ich für den Tod nicht viel übrighätte.

»Der Tod ist für die meisten von uns ein Fremder«, erwiderte er.

Hm. In dem Moment war ich drauf und dran gewesen, ihn über etwas aufzuklären. Zum Beispiel darüber, wie ein hundert Jahre alter Nagel plötzlich der Schwerkraft nachgeben konnte. Oder über einen gewissen Vorfall auf einer Treppe vor bald dreißig Jahren. Nicht im Detail natürlich, nicht den genauen Hergang.

Ich hätte ihm jedenfalls allerhand erzählen können. Doch ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen.

 

»Aber … ein Pfarrer, Vilma?«, fragte Sølvi jetzt. »Alles in Ordnung bei dir?«

Sie wirkte tatsächlich etwas besorgt.

»Ja«, sagte ich und räusperte mich. »Ich glaube, ich mache gerade eine Art … Entwicklung durch.«

»Entwicklung?«

Ich nickte. Sølvi griff nach der Zigarettenschachtel, legte sie aber gleich wieder weg. »Bist du irgendwie … bekehrt worden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe herausgefunden, wie gefährlich ich lebe.«

Noch im selben Moment wurde mir klar, dass ich das näher erläutern musste. »Zum Beispiel habe ich bis jetzt viel zu viele Bananen gegessen.«

 

Sølvi hatte bestimmt jede Menge Fragen auf dem Herzen. Doch genau in dem Moment ging die Tür zum Lehrerzimmer auf, und im Türrahmen erschien eine Gestalt in Radlerhose.

Der stellvertretende Leiter der Musikschule. Frisch vom Fahrradsattel.

Zum Glück brachte ich ihn in diesem Moment nicht mit Sølvis Brustwarzen in Verbindung, aber er trug wie üblich seinen Fjällräven-Rucksack auf dem Rücken, und das war schon schlimm genug.

Der Vize, der – einer Ironie des Schicksals folgend – auf den so wenig klangvollen Namen Åge-Per getauft war, grüßte mit einem freundlichen »Hallihallo!«, bevor er vor uns einen Plastikweihnachtsmann auf den Tisch stellte und erklärte: »Ein bisschen Weihnachtsstimmung muss schon sein!«

Okay. Sølvi und ich starrten den grellbunten Weihnachtsmann an. Ehrlich gesagt fand ich ganz und gar nicht, dass er sein musste! Aber sei’s drum. Es war ja bald Dezember. Außerdem gehörte es wohl zur Stellenbeschreibung eines Vize, für ein angenehmes Arbeitsklima zu sorgen. Für eine Art Zusammenhalt zwischen den Musikschullehrern, die an den verschiedensten Schulen der Gemeinde eingesetzt wurden. Jeden Nachmittag nach dem normalen Schulunterricht, nachdem der Thermostat heruntergedreht worden war.

Ein paar klebrige Locken gaben sich zu erkennen, als er die Mütze absetzte und scheinbar lässig auf mich zeigte.

»Na, hast du dich schon angemeldet?«, fragte er.

Genauer gesagt: »Haft du dich fon angemeldet?« (Die Zunge des guten Åge-Per war wohl irgendwie zu lang für seinen Mund.)

Ich kam nicht dazu zu fragen, worum es ging.

»Zum Feminar«, führte er unmittelbar aus. »Wir planen daf grofe Weihnachtskonzert.«

In dem Moment stieß ich einen lauten Seufzer aus. Er entfuhr mir einfach, entsprang direkt meiner Seele, an der ich doch arbeiten wollte.

»Muss das sein?«

Nein, normalerweise stelle ich solche Fragen nicht. Aber in dieser Situation lag es auf der Hand: Es war schlicht unmöglich, sich das bevorstehende Schülerkonzert vorzustellen, ohne an das letztjährige zu denken. Die berüchtigte Veranstaltung, die mit Blick auf »Sichtbarkeit, Interaktion und Publikumsnähe« in der örtlichen Schwimmhalle stattgefunden hatte.

An einem Samstagvormittag. Für Badende geöffnet.

 

Das Ganze war gut gemeint gewesen, keine Frage. Den vier Trompetern gelang es erstaunlicherweise sogar, mit ihrem »Vom Himmel hoch« das Plätschern und Jauchzen der Badegäste zu übertönen.

Aber davon abgesehen, gab es einiges zu bemängeln: Zum einen hatte sich Gabor, der Cellolehrer, einen Fußpilz zugezogen (noch dazu einen der besonders hartnäckigen Sorte, wie er uns in aller Offenheit wissen ließ). Darüber hinaus waren mehrere Streichinstrumente aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit kollabiert, und das mitgebrachte E-Piano erlitt infolge eines Bauchklatschers vom Fünfmeterbrett einen Kurzschluss.

Auch die Eltern waren enttäuscht gewesen. Väter in tropfender Badehose und Mütter, die vergeblich ihre Bikinizone gepflegt hatten. Ganz zu schweigen von meinen neununddreißig Klavierschülern, die ihr »Können« nicht unter Beweis stellen konnten. Einige waren den Tränen nahe.

Nicht, dass ihre fehlende Mitwirkung ein Verlust für die Welt gewesen wäre.

In Wahrheit haben meine Klavierschüler noch nie geglänzt. Nicht mal an einem funktionierenden Klavier.

 

Da man nicht aus den Fehlern gelernt hatte, sollte das diesjährige Weihnachtskonzert nämlich in einem Teppichladen stattfinden (der lokale Handel hatte sich offensichtlich ködern lassen).

Was war eigentlich verkehrt an einem einfachen Klassenzimmer in einer der vielen Schulen der Gemeinde? Mit einem soliden Grøndahl-Klavier und ein paar Kerzen?

Zu allem Überfluss vertrat der Vize den Standpunkt, es reiche nicht aus, quer durch alle Talente, Instrumente und umgeben von Flickenteppichen zusammen Weihnachtslieder zu singen. Nein, vorher sollten wir noch in einem Workshop sitzen und das Elend vorbereiten. Einen ganzen Tag lang.

»Es ist doch gerade Grippesaison«, sagte ich zum Fjällräven.

»Daf schafff du schon«, sagte er.

 

Nix da, dachte ich. Und konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, ihm zu erklären, dass sich Stress bei der Arbeit negativ auf die Immunabwehr auswirkt. Dass der Körper bereits ab einem Alter von dreißig Jahren langsam abbaut. Dass die Abwehrkräfte sinken, die Muskeln sich in Fett verwandeln – kurzum: Ich würde es nicht schaffen , auch wenn Chia-Samen und warme Hände den Verlauf möglicherweise abmildern konnten. Keiner wird heil davonkommen. Hinter jeder Ecke lauern Tod und Pein.

Insbesondere für den Fjällräven, der ohne Helm fährt.

 

Auf dem Heimweg war ich einfach nur schlecht gelaunt. Ich trug eine Reflexweste, hatte kräftige Spikes unter den Schuhsohlen und dachte weiterhin darüber nach, wie ich meine Überlebenschancen nachhaltig wahren könnte.

Nein, nicht alle widmeten sich dieser Aufgabe mit dem gleichen Ernst. Im selben Augenblick kam ich nämlich an der Villa von Smith-Hansen vorbei, die mit bunten Glühbirnen bis unter den Schornstein geschmückt war. Und ich dachte: In den nächsten Tagen muss ich ihn unbedingt nach seinem Alter fragen. Ich habe nämlich gelesen, dass bei Unfällen mit weihnachtlichem Bezug das durchschnittliche Opfer ein fünfundfünfzigjähriger Mann ist – der gerade die Weihnachtsbeleuchtung aufhängt.

Das würde Smith-Hansen doch bestimmt interessieren.

Ich war mir ziemlich sicher, dass er die Fünfzig überschritten hatte.

 

Aber es war eine Sache, Risiken einzugehen, um für familiäre Gemütlichkeit zu sorgen, für das Wohlergehen anderer. Etwas völlig anderes waren diese Individualisten, die erst dann glücklich waren, wenn sie sich vorne an der Kante der gut sechshundert Meter hohen Felskanzel über dem Lysefjord in den Handstand geschwungen hatten.

Oder schlimmer noch: jene verwirrten Seelen, die sich ernsthaft für einen Flug zum Mars gemeldet hatten, wohl wissend, dass sie möglicherweise den Rest ihres Lebens dort verbringen müssten.

Zum Mars ! Man stelle sich vor, dort oben festzusitzen, so weit weg von unserer Welt. Wie vielen Mikromorts das wohl entsprach?

 

Andererseits: Waren sie vielleicht einfach alle auf der Suche nach dem Glück? Jeder auf seine Weise?

Der Gedanke stimmte mich etwas milder. Außerdem soll man andere nicht verurteilen, die Leute haben schon immer komische Entscheidungen getroffen.

Am schlimmsten war es wohl für den russischen Hund, den sie in den Sechzigerjahren ins All geschickt hatten. Die arme Laika, die nie gefragt worden war, ob sie das wollte.

Ich schloss die Haustür auf und dachte: Sollte man überhaupt etwas in die Ewigkeit schicken, dann doch am besten Musik. In einer Raumsonde.

Das Brandenburgische Konzert zum Beispiel, von dem mein Vater erzählt hatte.

London, den 31. September 2019

 

Liebe Vilma,

 

nun weiß ich nicht, ob Du zum Philosophieren neigst. Trotzdem frage ich mich: Hast Du jemals über Zeitreisen nachgedacht?

Ja, natürlich weißt Du, dass viele Sterne, die wir am Nachthimmel sehen, nicht mehr existieren. Dass das Licht, das sie einmal ausgestrahlt haben, so lange zur Erde braucht, dass sie für uns Menschen immer noch zu leuchten scheinen.

Aber was ist mit dem Licht, das in die andere Richtung geschickt wird, von hier aus ins All?

Stell Dir ein leuchtendes Zifferblatt vor und lass uns annehmen, es sei zehn vor zwölf. Stell Dir dann vor, dass sich das Licht des Zifferblatts in Bewegung setzt, wie Licht es nun mal tut, mit Lichtgeschwindigkeit, immer weiter ins All. Dass genau das Licht dieser Uhr, die auf der Erde zehn vor zwölf gezeigt hat, auf dem Weg in die Unendlichkeit ist, ohne jemals anzuhalten.

Dann wird dieser Zeitpunkt, zehn vor zwölf, ewig andauern – ist das nicht ein seltsamer Gedanke?

Und was, wenn man sich gar einen lebenden Menschen vorstellt, der Lichtstrahlen ausschickt? Einen lebenden Menschen, der lächelt und lacht und das Leben vor sich hat? Das führt sozusagen dazu, dass dieser Mensch ewig lebt, oder nicht?

So stelle ich es mir jedenfalls gerne vor: Für immer und ewig auf dem Weg ins All – Maria Veierød, Deine Mutter, im Studenterlunden Park unter einem grünen Schirm.

 

Es regnete nämlich an dem Tag, an dem wir uns das erste Mal trafen. Kein leichter romantischer Regen, nein, es regnete Bindfäden – und ich hatte sie warten lassen, weil ich den Bus verpasst hatte.

Ich überschüttete sie mit Entschuldigungen, aber, ach was, so dürfe ich nicht denken – sie habe doch einen Regenschirm! Und wenn ich sie kurz entschuldigen könne, sie habe ihrer Tante versprochen, von einer Telefonzelle aus anzurufen, um zu sagen, dass alles in Ordnung sei.

»Sie macht sich immer solche Sorgen.«

 

Als ich mit meiner Bratsche im Regen stand, hoffte ich, dass der Rat meines ehemaligen Bratschenlehrers ein guter war. Er hatte sich nämlich für mich umgehört und mir diese talentierte Klavierspielerin als Begleitung für mein Probespiel empfohlen.

 

Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig, aber sie hatte etwas kindlich Ungezwungenes an sich, als sie nahezu tänzelnd vom Telefonhäuschen zurückkam.

»Ich freue mich schon«, sagte sie und hielt den Regenschirm etwas höher, damit er uns beide schützte.

 

Es war tatsächlich eine Freude. Mit dem Moment, als ich den Bogen auf den Saiten aufsetzte.

Wie gern würde ich jetzt, da ich mit dem Stift in der Hand dasitze, den Augenblick so wiedergeben, wie er es verdient hat! Aber diesem Anspruch werde ich niemals genügen, das weiß ich schon, seit ich mich hingesetzt habe, um Dir zu schreiben.

Denn wie schreibt man über Musik?

Ich selbst habe noch nie Worte gelesen, die die ausgelösten Empfindungen zu erfassen vermochten: Freude, größer und tiefer, als ich sie im wahren Leben je erfahren habe, Trauer, so schwer, wie ich sie sonst nie empfand – und nicht zuletzt: Liebe.

Doch eins kann ich sehr wohl zum Ausdruck bringen. Noch nie hatte ich jemanden erlebt, der mit so viel Hingabe spielte wie Maria. Mit Gefühl und Seele in jedem einzelnen Ton, und zugleich so zart und ehrlich, als wäre sie eins mit dem Instrument.

Ziemlich beschämt musste ich daran denken, wie ich einmal über einen begeisterten Kritiker gelacht hatte, der einen Kollegen als »halb Mensch, halb Geige« bezeichnet hatte.

Denn genau in diesem Moment – ja, da verstand ich ihn. Maria WAR die Musik. Sie gab sich ihr vollkommen hin. Und ich weiß noch, wie ich dachte: Ich kann ihre Seele hören. Eine Seele, in der es nichts Böses gibt. Nicht einmal, wenn man ein Leben lang danach suchen würde.

 

Wir spielten Walton, und wir spielten Stamitz.

Dazwischen versuchte ich unbeholfen und leicht hüstelnd, etwas Vernünftiges anzubringen, zum Beispiel eine kleine Tempoanweisung, eine Passage, in der unser Zusammenspiel noch ein klein wenig perfektioniert werden könnte. Schließlich war ich gut und gern zehn Jahre älter als sie und sollte der Erfahrenere sein, der den Überblick hatte.

Aber ich fand nichts, was ich beanstanden könnte. Maria folgte allem, was ich tat, preschte nie voraus und hinkte nie hinterher – bei jeder noch so kleinen Initiative meinerseits ging sie mit, bei jedem noch so kleinen Sostenuto war sie präsent, kurzum, sie machte sich mein Spiel zu eigen. Und ich glaube, dass ich mir ihres ebenso zu eigen machte.

Oh, Vilma, ich wünschte, Du könntest etwas Vergleichbares erleben. Wir waren schlicht eins, wie klischeehaft das auch klingen mag.

Und das Seltsamste war: Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Obwohl ich mit unendlich vielen begabten Musikern zusammengearbeitet hatte.

 

Als wir fertig waren, sah sie mich mit diesem offenen Blick an, der sie völlig ungeschützt wirken ließ, und sagte:

»Es kommt mir vor, als könnte ich dein Innerstes hören.«

 

Ja, ich bin immer schon ein Romantiker gewesen. Und ab diesem Moment war ich verloren.