»Er geht nicht ran.«
Robert Karlsen nahm das Handy vom Ohr und legte auf. »Sind Sie sicher, dass er kommen wollte?«
»Ja«, sagte ich. »Ich bin mir absolut sicher. Er hat sogar gesagt, der Tod sei für die meisten von uns ein Fremder.«
Robert Karlsen trat von einem Bein aufs andere. »Hm«, machte er nur.
Der Schnee vom Morgen war in Regen übergegangen, und keiner von uns hatte einen Regenschirm zur Hand, als wir vor dem Eingang zu Robert Karlsens äußerst ungewöhnlichem Arbeitsplatz standen und nach dem Gottesmann Ausschau hielten.
Ich versuchte ebenfalls, ihn anzurufen, aber es meldete sich nur eine mechanische Frauenstimme, die auf sehr unlebendige Art Zahlen herunterleierte. Ich seufzte, sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie zwanzig nach zeigte. Offensichtlich durfte ich seine warme Hand heute nicht mehr drücken, weder kurz noch lang.
Ich steckte das Handy in die Tasche.
»Wollen Sie … lieber an einem anderen Tag wiederkommen?«
Robert Karlsen klang etwas hektisch.
Und offen gestanden, war ich auch nicht gerade die Ruhe selbst.
»Nein«, sagte ich, »es ist sicher das Beste … wir bringen es hinter uns.«
Er nickte ernst, holte tief Luft und hielt mir die Tür auf. Kaum waren wir drinnen, stürmte er durch den Korridor und verschwand in null Komma nichts durch eine Tür auf der linken Seite.
Die Herrentoilette, wie sich herausstellte.
Im ersten Moment war ich etwas verdutzt. Dann dachte ich: Nun ja, manche haben es eben eiliger als andere – aber es war schon verwunderlich, dass ein Sektionsassistent bei der Arbeit so offenkundig zu erkennen gab, dass er nicht länger zurückhalten konnte, was immer in ihm nach draußen drängte.
Allerdings war Robert Karlsen gleich darauf zurück.
»Entschuldigung«, sagte er schnell. »Wissen Sie … mich plagt … ein Leiden.«
Ich schwieg. Wie ein Grab. Ein Leiden, das spontane Toilettenbesuche erforderlich machte, war meiner Ansicht nach kein geeignetes Gesprächsthema. Im Allgemeinen nicht und schon gar nicht im Hinblick auf die kurz bevorstehende Besichtigung (oder wie man das hier nannte).
»Ich … sollte es Ihnen wohl besser erzählen.«
Erschrocken sah ich ihn an. Erzählen? Nein, was hatte ich damit zu tun, dass den Mann, der mir meinen mir unbekannten verstorbenen Vater zeigen wollte, ein unappetitliches Darmleiden plagte? So sah die Welt hier draußen also aus? Bei erstbester Gelegenheit, wenn einen der Zufall zusammenbrachte, sollte man sich derart öffnen?
»Wenn ich Sie dort drinnen kurz allein lassen muss, liegt es daran, dass ich …«
Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten und »tralala« gesagt, aber meine gute Erziehung stand mir (wie üblich) im Weg.
»… an Tourette leide. An der verbalen Variante, Koprolalie.«
Ich sah ihn verwundert an.
»Die ist eigentlich nicht sehr verbreitet. Die meisten haben eher körperliche Ticks – die Glücklichen.«
Er lächelte etwas unbeholfen.
Ich nickte.
Und dachte im Stillen: Das war ja mal eine Überraschung. Aber nicht unbedingt eine Wendung zum Positiven. Schön für den Mann, dass mit seinem Darmsystem höchstwahrscheinlich alles in Ordnung war, keine Frage. Aber dass der Mensch, der mir gleich meinen verstorbenen Vater zeigen würde, jederzeit … tja, irgendwelche Flüche und Schimpfwörter von sich geben könnte? Ich kann nicht behaupten, dass das meiner Stimmung zuträglich war.
»Aha«, war alles, was ich hervorbrachte.
Robert Karlsen räusperte sich. »Sind Sie bereit?«, fragte er.
Dann trat er durch eine Drehtür in einen sterilen, anonymen Raum mit einem Tisch in der Mitte.
Nach einigem Hin und Her hatte ich mich doch für den Schnauzer entschieden. Ich hatte nämlich überlegt, dass mein Vater, wenn er im Moment des Sterbens einen Schnurrbart trug, sich wohl genauso präsentieren wollte. Nicht tot, sondern als beste Version seiner selbst.
Ich konnte nur hoffen, dass er mit der Entscheidung zufrieden gewesen wäre.
Der Schnauzer war weiß (aus irgendeinem Grund hatte ich ihn mir schwarz vorgestellt) – es war aber vor allem der lange weiße Bart, der meine Gedanken auf eine gewisse rotgekleidete Gestalt lenkte. Dazu die weißen Haare, obwohl das Gesicht, das sie einrahmten, streng genommen etwas zu schmal war, zumindest um als amerikanischer Santa Claus durchzugehen.
Friedlich und blass lag er vor mir, die Haut war glatt, fast jung, und mit schiefgelegtem Kopf umrundete ich langsam den Tisch, als hätte ich eine Wachspuppe von Madame Tussauds vor mir.
Zugleich war es ein Mensch, von dem ich die Hälfte meiner Gene erhalten hatte.
Ein Vater .
Das Wort fühlte sich in meinem Mund ganz komisch an, obwohl ich es nicht einmal laut aussprach. Ein Vater, der sich fragte, ob ich zum Philosophieren neigte. Ein Mann, der sich in Mama verliebt hatte, als sie sich zum ersten Mal begegneten.
Doch. Ein Teil von mir wünschte sich, in dieser Situation etwas zu empfinden. Aber es war nur eine seltsame Leere in mir. Als wäre meine Seele erstarrt.
»Er hat Ihre Nase.«
Das war Robert Karlsen. Plötzlich stand er neben mir und schaute von der Wachspuppe zu mir und wieder zurück.
Ich sah ihn kurz an.
»Wir sprechen von meinem Vater«, sagte ich. »Nicht von meinem Kind.«
»Entschuldigung!«, stieß Robert Karlsen aus und sah mich aufrichtig verzweifelt an. »Ich wollte Sie nicht … ich meine, ich wollte nur … VERDAMMTE KACKSCHEISSE !«
Ein paar heftige Zuckungen erfassten sein Gesicht.
Für einen Moment waren wir beide so still wie mein bleicher Vater.
Dann stotterte Robert Karlsen: »Es tut mir wirklich leid … d-das ist mir noch nie passiert … bisher konnte ich mich immer …« An dieser Stelle verharrte er in einer Position, die Ähnlichkeit mit Edvard Munchs Schrei hatte. »Können Sie mir verzeihen?«, brachte er atemlos heraus.
Das Ganze wurde immer bizarrer. Ich holte tief Luft, seufzte laut und nickte.
Ein fluchender Sonderling und ein Vater, der gestorben war, bevor ich ihn kennenlernen durfte. Ich war wirklich ein Glückspilz. Ich atmete noch ein paarmal ein und aus und maß mir sicherheitshalber den Puls, der jedoch auffallend ruhig war.
»Hatte er irgendwelche Erbkrankheiten?«, fragte ich schließlich.
Robert Karlsen wiederholte nur: »Irgendwelche … Erb…?«
»Ja. Sie haben doch in seinem Innern herumgewühlt, was haben Sie denn gefunden?«
»Hm« – Robert Karlsen bemühte sich sichtlich darum, einen klaren Gedanken zu fassen – »die Obduktion hat ergeben, dass er an einer Hirnblutung verstorben ist, wenn Sie das meinen …«
»Diabetes«, sagte ich, »Rheumatismus, Bluthochdruck? Irgendwas, was ich im Blick behalten sollte?«
Er räusperte sich. »Ich bin kein Arzt. Aber … ich kann für Sie in den Papieren nachschauen.«
Dann beruhigte sich alles irgendwie. Robert Karlsen hatte sich offensichtlich entladen und setzte sich still auf einen Hocker an der Wand. Ich selbst drehte erneut eine ehrfürchtige Runde um meinen Vater – hauptsächlich, um ihn dreimal umrundet zu haben, aus irgendeinem Grund war mir danach.
Leider machte mich das jedoch weder trauriger noch klüger.
Ich sollte mich wie eine Tochter fühlen, dachte ich. Ich sollte begreifen, dass ich hier neben meinem leiblichen Erzeuger stand, zum ersten und letzten Mal in meinem Leben. Ja, vielleicht sollte ich ihn auch berühren, einen allerletzten Händedruck zum Abschied.
Aber wer schon einmal einen Toten berührt hat, weiß, wie sich das anfühlt.
Nach einer Weile machte ich deshalb leicht resigniert Anstalten, zur Tür zu gehen. Robert Karlsen ließ sich nicht zweimal bitten, er sprang sofort auf, um sie mir aufzuhalten.
Doch dann blieb ich stehen.
Denn dort im Türrahmen musste ich mich umdrehen und noch einen letzten Blick auf den toten Weihnachtsmann werfen. Einen letzten Blick auf seine schlanken weißen Hände. Die einst Musik gemacht hatten.
Robert Karlsen war überraschend ruhig und taktvoll, als er mich an die frische Luft entließ. Nur um einen Augenblick später alles wieder kaputtzumachen, indem er vehement auf einer »Wiedergutmachung« bestand, wie er sich ausdrückte. Nach einigem Hin und Her beschloss er, mich nach Hause zu begleiten, da ich nach einem solchen Erlebnis vielleicht »jemanden zum Reden« brauchte.
Brauchte ich nicht. Für diese Aufgabe hatte ich schließlich den Pfarrer auserkoren, doch was soll’s, dachte ich und ließ mich gnädigst zur Bushaltestelle begleiten.
Aber damit nicht genug. Der fluchende Sonderling stieg mit mir zusammen in den Bus. Dann standen wir da und hielten uns an unserer jeweiligen Halteschlaufe fest wie ein Apfel und eine Birne am selben Ast, während ich mich gleichzeitig nach potenziellen Terroristen umsah, wie ich es in öffentlichen Transportmitteln zu tun pflegte.
Auf einmal merkte ich, wie mir schwindlig wurde. Von einer Sekunde auf die andere. Wie mein Atem anders war als sonst. Die Luft wollte irgendwie nicht richtig hinein, und obwohl mein Körper die üblichen Atembewegungen machte, schien der Sauerstoff nicht bis zu meiner Lunge vorzudringen.
Was war los mit mir?
»Ich … muss mich setzen«, sagte ich.
Da Robert Karlsen der Einzige im Bus war, zu dem ich irgendeine Form von Beziehung hatte, wandte ich mich an ihn.
Er sah sich um.
Ich sah mich um.
Kein einziger Sitz war frei. Im Mittelgang drängten sich die Menschen, und ich schnappte nach Luft, ohne auch nur einen Kubikmillimeter Sauerstoff in mich hineinzubekommen.
Dafür erfüllte mich Angst.
Konnte das ein Herzinfarkt sein? Ein vererbter? Sollte ich auf diese Weise Abschied von der Welt nehmen? In einem überfüllten Bus auf den Boden knallen, ohne in diesem Leben mehr zustande gebracht zu haben als ein bisschen mittelmäßiges Klavierspiel und einen halben Strickpullover aus kratziger Wolle? In einem öffentlichen Transportmittel, genau wie mein Vater – lag das in der Familie?
Aber dann nahm Robert Karlsen die Sache in die Hand. Entschlossen tippte er einem jungen Mann auf den Rücken und trötete so laut, dass der ganze Bus es hörte: »Ich brauche einen Sitzplatz für … äh … meine Frau. Sie ist … schwanger.«
Selbst im Angesicht des Todes errötete ich so heftig, wie es mir nicht mehr passiert ist, seit Sølvi mich einmal zu einer schweißtreibenden Yogastunde mitgeschleppt hatte.
Schwanger?!
Auf meinen Wangen hätte man ein Spiegelei braten können. Aber wahrscheinlich rettete mir genau dieser Blutzufluss das Leben. Jedenfalls fand der Sauerstoff seinen Weg in mein Gehirn, und ich wusste nicht, ob ich Robert Karlsen dafür danken oder ihn beschimpfen sollte, als ich schließlich auf einem Sitz saß, der kurz zuvor noch einem anderen gehört hatte, während der ganze Bus glaubte, ich hätte ein sexuelles Verhältnis mit einem Mann, der in toten Eingeweiden herumwühlte. (Na ja, das mit den Eingeweiden war natürlich nicht allgemein bekannt, aber trotzdem.)
Eine ganze Weile stand er viel zu dicht neben mir und fragte alle zwei Minuten, ob ich mich besser fühlte. Und ich nickte, starrte angestrengt zu Boden und sagte: »Alles gut, Liebster«, um nicht durchschaut zu werden.
Immer noch dem Tode nah, doch diesmal aus Scham.
Nachdem wir ausgestiegen waren, sah er mich schuldbewusst an und sagte: »Tut mir leid, das fiel mir als Erstes ein.«
»Als Erstes?«
Ich staunte.
»Ja«, sagte er. »Ich habe ziemlich viel Fantasie.«
»Hm. Ich nicht.«
»Nein?«
Er sah sich kurz um. »Stellen Sie sich nicht manchmal vor, dass die Blätter im Herbst darum konkurrieren, welches zuerst den Boden erreicht?«
Ich warf ihm einen verwunderten Blick zu. Der Mann schien zumindest ein vielseitiges Repertoire zu haben. Von Fäkalien bis hin zu fallendem Laub.
»Oder dass das Blatt dort oben« – er deutete auf ein einsames Blatt an einem nassen Ahorn – »sich vielleicht sehr allein fühlt?«
Ich antwortete nicht. Dafür hatte ich durchaus meine Gründe. Einer war, dass wir jetzt vor dem Gartentor zu meinem Haus standen und ich um jeden Preis verhindern wollte, diesen schrägen Vogel hereinzubitten.
Aber offensichtlich wusste er sehr genau, wo er sich befand.
»Ja, hier wohnen Sie.«
»Hier wohne ich.«
»Großes Haus. Bestimmt voller Kinder und so weiter?«
»Nee.«
Er sah mich einen Moment lang an.
»Katzen vielleicht?«
Genauso rasch, wie ich das Tor aufgemacht hatte, schloss ich es wieder hinter mir, damit wir es zwischen uns hatten.
Robert Karlsen trippelte auf der Stelle. »Sind Sie sicher, dass ich Ihnen vorhin nicht … alles ruiniert habe?«
»Mein Vater war doch schon tot«, antwortete ich kurz.
»Ja, aber die Stimmung?«
Welche Stimmung? Dort lag mein Vater und war tot, ohne dass ich ihn jemals kennengelernt hatte, genauso tot wie meine Großtante und meine Mutter. Ehrlich gesagt gab es nicht mehr sehr viel zu ruinieren.
Es fehlte nicht viel, und ich hätte ihn mit einer barschen Bemerkung abgewimmelt, doch da spürte ich ihn wieder: den Herzinfarkt. Den schwindenden Sauerstoff. Den Brustkorb, der sich immer schneller hob und senkte. Mein Herz pochte bis in die Ohren.
Robert Karlsen begriff sofort, was los war. Zwar sagte er zuerst »Satanspimmel «, aber dann machte er das Tor auf, bugsierte mich zu der Bank, von der Großtante Ruth mich nie hatte herunterhüpfen lassen, und sagte auffallend ruhig:
»Beugen Sie sich vor. Den Kopf zwischen die Knie.«
Irgendwie muss ich ihm den Schlüssel zum Haus gegeben haben, denn kurz darauf verschwand er drinnen und kam mit einem Glas kaltem Wasser wieder heraus.
Das half.
Eine Weile saß ich einfach nur da und atmete vor mich hin. Robert Karlsen auch. Er sah mich an und atmete mit mir im Takt. Wie ein übereifriger Vater in spe in einem dieser geburtsvorbereitenden Atemkurse, die ich im Fernsehen gesehen hatte.
»Geht es Ihnen jetzt besser?«
Ich nickte.
»Weiteratmen nicht vergessen.«
Mein Gott. Hätte er jetzt noch »push, push« hinzugefügt (ich hatte vorwiegend amerikanische Filme zum Gebärvorgang gesehen), wäre dieser absurde Tag komplett gewesen. Aber das tat er nicht.
Stattdessen räusperte er sich und sagte vorsichtig: »Glauben Sie … es ist eine Art Reaktion?«
»Wie meinen Sie das?«
»Viele reagieren mit einem leichten Schock auf den … Anblick.«
»Ach so.«
»Und manchmal reagiert der Körper vor dem Verstand. Obwohl man denkt, alles wäre in Ordnung, intellektuell gesehen … wenn Sie verstehen …«
»Sind Sie Psychologe?«, fragte ich.
»Nein«, sagte er.
»Gut. Es könnte nämlich auch ein Herzinfarkt sein.«
Wir nahmen ein Taxi zur Ambulanz, die ich zwei Stunden später mit der Nachricht verließ, mein Herz befinde sich in ausgezeichnetem Zustand, der Vorfall sei stressbedingt und mein Mann erwarte mich an der Rezeption.
»O Gott«, antwortete ich, fühlte mich aber erleichtert.
Ja, ich ging sogar so weit, mich bei meinem selbsterklärten Gatten fürs Warten zu bedanken.
»Was hat der Arzt gesagt?«, wollte er wissen.
»Stress«, sagte ich.
»Verfluchte Scheiße«, sagte Robert Karlsen.