Ein Don Juan? Nein. Und ich war heilfroh, dass mein Vater nicht zu dieser Sorte Mann gehörte. Wer weiß, wie ich sonst geraten wäre? Rein genetisch, meine ich?
Nicht, dass ich jetzt besser wüsste, wer ich war, im wahren Leben. Ab und zu schaute ich in den Spiegel und fragte mich, ob ich überhaupt jemand war. Was ich mit dieser spiegelverkehrten Gestalt zu tun hatte.
Doch angenommen, ich war ich , Vilma – war ich es dann auch in den Augen der anderen? Sahen die Menschen mich auch als Vilma? Oder war ich für sie nur die Klavierlehrerin, die Kollegin, die Kundin im Laden, die sich über den schmutzigen Sellerie beschwerte?
Ich setzte die Mütze auf. Es brachte nichts, vor dem Spiegel zu stehen. Ich würde nur wieder verschwinden, Stück für Stück, bis bloß noch das kleine Mädchen übrig war. Mit Zöpfen. Und Großtante Ruth würde hinter mir stehen und mir Schleifen ins Haar binden.
Eins war jedenfalls klar: So würde ich nicht zu mir selbst finden.
Ich trat auf die Außentreppe und schloss die Haustür ab. Ging nach links, durchs Gartentor und dachte über die Sache mit den Erbanlagen nach. Und über Don Juan. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass es in puncto Mikromorts weitaus sicherer war, Zurückhaltung zu üben, als von einem Partner zum nächsten zu flattern. So gesehen, hatte ich ziemlich gute Aussichten auf ein ewiges Leben.
Die Wirklichkeit sah leider etwas komplizierter aus. Denn obwohl ich die Sterbewahrscheinlichkeit auf ein absolutes Minimum zu reduzieren versuchte, war ich ständig Strapazen ausgesetzt. In Form von Tränen provozierenden Wunderkindern, toten Vätern und Jesus ähnelnden Seelsorgern.
In gewisser Weise war das auch der Grund, weshalb ich jetzt an der Bushaltestelle stand und auf einen fluchenden Hobbit wartete.
Weshalb das Einzige, worüber ich in diesem Moment die Kontrolle zu haben glaubte, mein Magensäurespiegel war. (Ich hatte gerade vorbeugend zwei Protonenpumpenhemmer eingenommen, um mich zu wappnen.)
Es war nämlich so, dass wir bei Amdis Familie eingeladen waren.
Ich sage wir , da unglückliche Umstände dafür gesorgt hatten, dass nach der gestrigen Nesquik-Schumann-Zeremonie Amdis Mutter Mariam vor der Tür stand und darauf beharrte, Robert und mich zum Essen einzuladen – als Dankeschön für die Hilfe.
»Uns beide?«, hatte ich gefragt und erklärt, Robert Karlsens Anwesenheit sei purer Zufall, er könne keineswegs als Freund oder dergleichen gelten. Leider gab er ausgerechnet da keine obszönen Beleidigungen von sich, sodass Mariam lachte und sagte: »Je mehr ist besser. Also, sechs Uhr?«
Als sie kurz darauf davonfuhr, sah mich Robert Karlsen schuldbewusst an.
»Entschuldigung«, sagte er, »ich wollte mich wirklich nicht aufdrängen. Aber ich kann einfach nicht Nein sagen.«
So kam es nun, dass ich an der Bushaltestelle stand und auf ihn wartete.
Ich muss zugeben, dass mir etwas mulmig zumute war.
Zum einen fürchtete ich mich vor zu scharfem afrikanischem Essen (daher die Säureblocker), aber noch mehr vor Robert Karlsens Ausbrüchen. Wie sollte man damit umgehen? Wenn sich verschiedene Kulturen begegnen, steht so viel auf dem Spiel, da sollte man sich unbedingt von seiner besten Seite zeigen.
Ob ich ihn im Notfall unter dem Tisch ein bisschen treten könnte? Oder sollte ich versuchen, ihn zu übertönen?
Einfach würde das Ganze jedenfalls nicht werden. Mir war natürlich klar, dass es sich um etwas Neurologisches handelte, dass er nichts dafür konnte. Trotzdem: diese Wortwahl. Konnte er sie wirklich gar nicht beeinflussen?
Ich meine, wenn der Drang ihn überkam, konnte er dann nicht einfach etwas anderes brüllen? Es gab doch jede Menge hübsche Blumennamen. Hyazinthe zum Beispiel, das Wort hatte ich immer schon gemocht. Oder Hortensie. Ganz zu schweigen von Vergissmeinnicht, die schönste Blume von allen.
Natürlich wäre es immer noch komisch, wenn Robert urplötzlich »Forsythie« oder »Maiglöckchen« brüllen würde, aber es wäre zweifellos eine Verbesserung.
Doch so etwas konnte ich ihm wohl kaum vorschlagen. Daher seufzte ich, als der Bus blinkend in die Haltestellenbucht fuhr.
Robert Karlsen stieg aus und hatte ein Päckchen mit der Aufschrift Blumenland im Arm. Eine Topfpflanze, nahm ich an und machte mir sofort Vorwürfe: Ich selber hatte kein Gastgeschenk dabei. Na ja, dafür hatte ich Amdi ein paar Gratisklavierstunden gegeben, das war immerhin etwas.
»Hallo«, sagte Robert Karlsen und begrüßte mich mit einer Umarmung. »Wie geht’s?«
Ich ließ die Umarmung über mich ergehen und erwiderte: »Bestens. Keine Atemschwierigkeiten, falls Sie darauf abzielen.«
Er lachte. Er ziele auf überhaupt nichts ab, keine Sorge. Ob ich den Weg wüsste? Und ob wir uns nicht duzen wollten?
Noch bevor ich antworten konnte, hatte er das Handy gezückt und Amdis Adresse in diese sprechende Straßenkarte eingetippt, aus der ich einfach nicht schlau werde.
»Es ist gleich da vorne«, sagte er und bog scharf nach rechts ab.
Wir kamen an einer Schule vorbei, überquerten einen verschneiten Spielplatz und steuerten auf niedrige Wohnblocks zu. In etlichen Fenstern hingen Adventssterne, obwohl es dafür eigentlich noch zu früh war.
»Kalt draußen«, sagte Robert.
»Ja«, sagte ich.
Bisher lief es also ganz gut. Ganz und gar kraftausdrucksfrei.
Amdis Familie wohnte im Erdgeschoss. An der Türklingel stand Bekele , aber noch bevor wir sie drücken konnten, hing Amdi schon an der Klinke.
»Hier wohnen wir!«, informierte er uns freudestrahlend. »Das Schild ist von mir!«
Okay, offensichtlich war der Junge nicht auf allen künstlerischen Gebieten begabt, denn an der Tür hing ein klobiges Namensschild aus Ton.
»Sehr hübsch«, log Robert.
»Reinkommen!«, rief Mariam.
Sie drückte uns fest und war entzückt von der Azalee, die Robert ihr überreichte, bevor sie einen zwei Meter großen Mann vorbeiließ, der zur Begrüßung auf uns zukam.
»Vilma«, sagte ich und ergriff seine Hand.
»Gebre«, lächelte der Mann und schüttelte sie höflich. Dann ließ er los und begrüßte Robert.
»Arsch« , sagte Robert.
»MARSCH !«, schrie ich, fast gleichzeitig und so laut, dass alle zusammenfuhren. »Marsch ins Haus … wollen wir reingehen?«
Fast wäre eine unangenehme Stille entstanden. Doch glücklicherweise fuhr Amdis kleine Schwester in genau dem Moment mit ihrem Bobbycar rückwärts über den Fuß der Mutter, und die Situation löste sich in Hüpfen und Tanzen auf, begleitet von lauterem Geschrei als meinem.
»Rein ins Wohnzimmer, Leute«, sagte Mariam und scheuchte uns weiter, nun, nachdem der Schmerz nachgelassen hatte, wieder lächelnd. »Es gibt Pizza. Amdi, holst du Cola!«
Es roch köstlich nach Hackfleisch und Knoblauch. Amdi sauste in die Küche, während Robert und ich das Wohnzimmer ansteuerten, tatkräftig unterstützt von der kleinen Schwester, die Roberts Hand genommen hatte und ihn hinter sich herzog.
»Nehmt Platz«, forderte Gebre uns auf und deutete auf den mit einem roten Tischtuch geschmückten Tisch.
Es sah wirklich nett aus. Eine Christrose in der Mitte, ein rosa Plastikbecher mit zwei Henkeln für die Kleine. Das übrige Zimmer mit Bücherregalen an der Wand und einer Sammlung bunter Kissen, die vermutlich ein Sofa unter sich verbargen. Ja, ich hegte schon seit Langem die Vermutung, dass Familien genau so wohnten – gemütlich irgendwie.
Ich schluckte. Denn hier kam ich, die Musikschullehrerin mit einem Mann im Schlepptau, der schon beim Eintreten die Leute beleidigte.
Mein kleines Ablenkungsmanöver war zwar geglückt – aber ich hatte wenig Hoffnung, dass es so weitergehen würde. Es galt, in Habachtstellung zu sein. Es galt, ihm zuvorzukommen.
Robert blickte mich etwas verwundert an, als ich mich wie ein siamesischer Zwilling an ihn heftete, sobald wir zu Tisch gingen. Aber was sein muss, muss sein.
Und zum Glück wirkte er nicht verärgert. Nein, im Gegenteil, er lächelte und rückte mir den Stuhl zurecht.
Dann ging es los. Gebre brachte die Pizza, die kleine Schwester kletterte auf den Tripp Trapp. Amdi kam fröhlich mit der Cola aus der Küche angerannt. Nach einem Beinaheunfall auf der Türschwelle war die Flasche bei ihrer Ankunft allerdings halbleer.
»Amdi!«, lachte die Mutter resigniert. »So clumsy . Sag mal, Vilma, kriegt er das Klavier wirklich hin?«
Ich legte meine Serviette sorgfältig auf die Knie.
»Amdi ist ein Genie.«
Anders konnte ich es nicht sagen.
Doch Amdis Eltern lachten darüber. Als wäre es ein Witz. Sie zerteilten die dampfende, selbstgemachte Pizza und gaben jedem ein großes Stück auf den Teller. Ob wir Salat dazu wollten?
Robert sah von einem zum anderen. »Sie meint es ernst«, sagte er. »Amdi ist unglaublich begabt.«
»Wirklich?« Gebre ließ die Salatschüssel reihum gehen und verwuschelte Amdis Locken. »Schön, zu hören. Ja, wir rechnen damit, dass unser Klavier jeden Tag geliefert wird.«
Ich nickte. »Keine Eile.«
Was natürlich nicht ganz ernst gemeint war. Aber in Gesellschaft anderer muss man ein bisschen lügen, das ist zumindest meine Erfahrung. Konnte ich in so einer Situation erzählen, es sei eine emotionale Belastung, ein Wunderkind im eigenen Wohnzimmer zu haben? Mit all den Tränen und so?
Nein. Also schob ich mir einen Bissen Pizza in den Mund und kam zu dem Schluss, dass die Säureblocker die reinste Verschwendung gewesen waren.
»Und du, Robert, was machst du für Job?«, fragte Amdis Mutter.
Ich sah es kommen: das Zucken in Roberts Gesicht. Und in der nächsten Sekunde riefen er und ich exakt gleichzeitig »Fotze!« und »Proze…!«, woraufhin ich fortfuhr: »…duren, die man –«
»Sektionsassistent«, unterbrach mich Robert und machte eine Pause. »Das bin ich von Beruf.« Er lächelte. »Wahrscheinlich nicht das beste Thema beim Essen, aber … Flachwichser! «
»FACHMIXER !«, brüllte ich und musste einsehen, dass es zu spät war.
Die anschließende Stille dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Alle sahen sich an. Ja, sogar Amdis kleine Schwester hörte auf zu kauen.
Dann brach Gebre in schallendes Gelächter aus, so laut, dass es in den Ohren klingelte. Er schluchzte und brauchte eine ganze Weile, bis er sich beruhigt hatte und erklären konnte: »Ich bin Arzt, Vilma. Und ich habe einen Neffen mit Tourette.«
Dann prustete er erneut los und wischte sich Tränen weg, ehe er schließlich tief Luft holte und Robert zunickte. Mit erzwungenem Ernst sagte er: »Tut mir leid, dass ich lachen musste.«
Robert lächelte nur, kaute den Bissen Pizza zu Ende und sagte: »Alles in Ordnung. Als Kind habe ich gebellt.«
Amdis kleine Schwester machte ein paarmal »Wuff«, wurde aber zur Ruhe ermahnt.
Ich selbst hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Und zwar auf der Stelle. Doch stattdessen starrte ich unverwandt auf die Tischplatte und hatte keinen blassen Schimmer, was ich sagen oder tun sollte. Denn es war eine Sache, dass ich mich selbst blamiert hatte, noch dazu im Beisein eines Arztes. Die andere war Robert. Natürlich schämte ich mich für Roberts unorthodoxen Sprachgebrauch, das sollte er jedoch auf keinen Fall merken.
Nervös zerknüllte ich die Serviette auf meinem Schoß, bevor ich möglichst unauffällig »Entschuldigung« flüsterte.
»Kein Problem«, sagte Robert so laut, dass Gebre es hörte. Dann schob er hinterher: »Du bist ganz schön schlagfertig, Vilma. Äußerst kreative Wortwahl.«
An dieser Stelle murmelte er noch einmal »Fachmixer« vor sich hin und lachte erneut.
Ich freute mich. Nicht über die unerwartete Würdigung meines Sprachtalents, sondern über die Tatsache, dass tatsächlich alles in Ordnung war. Roberts Kraftausdrücke hatten zu keinem Handgemenge geführt, mir war verziehen worden und der Salat enthielt zum Glück keine Oliven der braunen Sorte.
Ja, ich war so glücklich, dass ich eine ganze Weile mit einem Lächeln auf den Lippen in die Runde blickte, in der kein einziger Mensch wütend war oder eine unheilvolle Furche zwischen den Augenbrauen hatte. Denn bei Gott, ich wollte mir gar nicht vorstellen, was Großtante Ruth zu dieser Vorstellung gesagt hätte.
Ich lächelte noch etwas länger, um nicht darüber nachdenken zu müssen.
Aber nicht nur der Anblick der Menschen rund um den Tisch tat auf schwer greifbare Weise gut. Sondern auch die Gesprächsfetzen, ein kurzes Lachen, die bitzelnde Kohlensäure in der Limonade – kurzum die Geräusche von Menschen, die beisammensaßen.
»Reichst du mir die Cola?«, fragte Robert.
»Reichst du mir die Pizza?«, fragte Amdi.
Und das tat ich. Ich reichte und reichte. Fühlte mich als Teil einer Maschinerie, die Limonadenflaschen und Salatschüsseln reihum gehen ließ, wie um alles in Bewegung zu halten. Im Fluss. In Gang. Und was mir ganz und gar nicht ähnlich sah: Ich verspürte nicht den geringsten Wunsch, nach Hause zu gehen. Wünschte mich nicht woandershin.
Denn plötzlich war alles so einfach und mühelos: Gebre erzählte von seiner Arbeit als Internist, Mariam war Pharmazeutin, und jetzt, da Robert nach Herzenslust fluchen konnte, tat er es fast gar nicht mehr.
Im Gegenteil, er erzählte von seiner Familie. Seine großen Schwestern hatten sich in Nottingham und Sydney niedergelassen, sein Vater war dement, und vor einem halben Jahr war die Mutter eines Morgens aufgewacht und konnte nur noch »Gurke« sagen. Eine gute Woche später hatte sie das Zeitliche gesegnet.
Während er davon erzählte, wurden seine Augen leicht feucht.
»Das tut mir leid«, sagte Gebre.
»Und deine Familie, Vilma?«, fragte Mariam.
»Die sind fast alle … tot«, sagte ich und räusperte mich.
»Aber Vilmas Tante war wütend«, ergänzte Amdi.
Obwohl ich versuchte, die Bemerkung wegzulächeln, entstand eine kurze Stille, und ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Daher trank ich einen Schluck Cola und räusperte mich erneut.
»Deine Eltern?«, wollte Mariam wissen.
Ich nickte pflichtschuldigst und trank noch einen Schluck.
»Meine Mutter ist gestorben, als ich vier war«, sagte ich. »Mein Vater, bevor ich ihn kennengelernt habe.«
Robert sagte nichts und beschwor weder Geschlechtsteile noch Fäkalien. Dennoch spürte ich seinen Blick auf mir, jetzt und während des darauffolgenden Desserts. Ich erwiderte ihn nicht.
Es gab Brownies – mit Himbeeren und Eiscreme, strotzend vor Zucker, Fett und allem, was die Mikromortsrechnung in die Höhe trieb. »Zu lang gebacken«, erklärte Mariam entschuldigend, »almost like a biscuit.«
»Fast wie Lebkuchen«, meinte Amdi.
Die Augen seiner kleinen Schwester begannen zu leuchten.
»Hundekacke«, sagte sie und sah sich erwartungsvoll um.
Ob Amdi seine Assoziationskette weiterspann oder ob die Idee von selbst aufkam, war schwer zu sagen. Doch als wir uns vom Tisch erhoben (ich bildete mir ein, die Schlafenszeit der Kinder rücke näher), sah er Robert und mich fröhlich an und sagte: »Ich weiß, was wir das nächste Mal bei dir machen, Vilma. Wir machen ein Lebkuchenhaus!«
»Was?«
»Dann brauchst du keine Oreos«, sagte er eifrig und schien nicht zu begreifen, dass ich mich nicht über das Bauwerk an sich wunderte, sondern über die Tatsache, dass der Prozess in meinem Zuhause über die Bühne gehen sollte.
Seine Eltern ermahnten ihn liebevoll, sich zu beruhigen. »Vilma hat nicht Zeit für ein Kuchenhaus«, meinte seine Mutter, »sie lernt dich ja Klavier.«
Amdi hatte schnell eine Lösung parat.
»Robert kann uns doch helfen, stimmt’s, Robert?«
Amdis Augen strahlten.
Und der Mann, der nicht Nein sagen konnte, sah mich hilflos an.
»Es tut mir so leid«, sagte er auf dem Nachhauseweg.
Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass das die Sache nicht besser machte, doch nach meinen grandios gescheiterten Ablenkungsmanövern schien mir ein solcher Kommentar nicht ganz angemessen. Von wegen Fachmixer und so.
»Aber ich kann alles besorgen und …«
»Okay«, sagte ich, hauptsächlich, um meinen Mund am Reden zu hindern. »Abgemacht.«
Wir trotteten wieder über den verschneiten Spielplatz, mitunter in unseren alten Fußspuren, und je länger ich darüber nachdachte, desto erleichterter war ich, geschwiegen zu haben. Es war trotz allem ein netter Abend gewesen, so nett wie schon lange kein Abend mehr. Und wenn ich noch länger darüber nachdachte, dürfte sich das Kuchenbacken nicht allzu sehr auf meine Tränendrüsen auswirken.
»Und … hast du dir Gedanken gemacht? Über das, was ich gestern angesprochen habe?«, fragte Robert plötzlich.
Ich zog die Augenbrauen hoch.
»Dir deinen Vater noch mal in aller Ruhe anzuschauen …«
Jetzt fiel es mir wieder ein. Draußen auf der Treppe, sein Angebot, so lange den Raum zu verlassen. Aber wollte ich mir meinen toten Vater ein zweites Mal anschauen? Offen gestanden, hatte ich nicht darüber nachgedacht. Ich schüttelte den Kopf.
Aus irgendeinem Grund tat Robert das Gleiche und seufzte dabei.
Anschließend wurde nicht mehr viel gesagt, bis wir das Schulgebäude passiert hatten und er unter einer Straßenlaterne stehen blieb.
Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten: »Es ist nur so … ich finde irgendwie keine Ruhe, solange du es nicht getan hast, Kackscheiße .«
Letzteres überhörte ich geflissentlich und sah ihn verwundert an. »Du findest keine Ruhe?«
»Ich komme einfach nicht damit klar, ein schlechtes Gewissen zu haben. Sorry.«
Wer kommt schon damit klar?, hätte ich am liebsten gesagt. Ich dachte kurz nach.
»Reine Trainingssache«, sagte ich dann.
»Hä?«
»Ich meine, vieles lässt sich unterdrücken«, führte ich aus.
Aber nein. Robert schüttelte heftig den Kopf.
»Das macht es nur schlimmer. Wenn ich ganz fest versuche, die Klappe zu halten, fluche ich doppelt so viel.«
»Das geht mir nicht so.«
Ich hielt es für selbstverständlich, dass ich mich nicht aufs Fluchen bezog, aber um auf Nummer sicher zu gehen, fügte ich hinzu: »Man muss nur ein System für sich finden.«
»Fürs schlechte Gewissen?«
Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien er nicht daran zu glauben. Und streng genommen hatte ich keine Lust, das Thema zu vertiefen. Darum lief ich weiter und versuchte mich an einer Art Zusammenfassung.
»Du meinst also, ich soll mir meinen toten Vater noch einmal anschauen, damit du kein schlechtes Gewissen haben musst?«
»Ja, Scheißdreck «, sagte Robert. »Wärst du dazu bereit?«
Plötzlich musste ich lachen. So laut sogar, dass ich mich selbst erschreckte – konnte ich mich nicht länger beherrschen? Ich lachte den ganzen Weg von der Straßenlaterne bis zur Bushaltestelle, so lange, dass selbst Robert überrascht wirkte.
Zumindest anfangs. Denn mit der Zeit begannen seine Augen zu glitzern, und dann konnte auch er sich nicht länger zurückhalten. Obwohl wir beide versuchten, leise zu sein, als wir das Haltestellenhäuschen mit einer älteren Dame mit Rucksack teilen mussten, waren wir nicht sehr erfolgreich.
Was dem Gesichtsausdruck der Dame deutlich zu entnehmen war.
Trotzdem lachte ich weiter, bis der Bus blinkend davonfuhr und Robert mir aus dem Fenster zuwinkte. Mir, der Tochter seines toten Klienten, der prustenden Klavierlehrerin im Schnee. Der Einsiedlerin, bei der sich womöglich gerade ein paar Schrauben gelockert hatten.
Oder wer immer ich gerade war. Eigentlich.
London, den 14. Oktober 2019
Am nächsten Morgen läutete die Türklingel. Hans und sein Damenbesuch machten erwartungsgemäß keinerlei Anstalten, zum Leben zu erwachen; daher warf ich mir eine starke Halspastille ein und öffnete die Tür, wünschte mir, ich wäre breit und muskulös genug, um sie ganz auszufüllen und die leeren Flaschen sowie den überquellenden Aschenbecher auf dem Tisch zu verdecken.
Eine Sekunde später klammerte ich mich an ein einziges Wort: »Maria?«
Dort stand sie. Atemlos und kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre Augen waren groß und dunkel. Vielleicht auch ängstlich, das vermochte ich auf die Schnelle nicht zu deuten.
»Ein Freund von mir braucht Hilfe«, begann sie rasch.
Was hatte ich erwartet? Nichts, natürlich. Höchstens, dass sie mir meine Noten bringen würde; das hier jedenfalls nicht.
Ich blieb eine Weile stehen, versuchte mich auf die Situation einzustellen und stammelte schließlich: »Soll ich meine Jacke holen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Freund braucht nur einen Rat.«
Etwas an ihrem Sprechtempo, am Nachdruck ihrer Worte ließ mich ein paarmal blinzeln.
»Von mir? Äh … wer?«
Sie wand sich einen Moment. »Er heißt … Bertram … Bang, er … muss eine wichtige Entscheidung treffen.«
Obwohl der Name komisch, ja fast lächerlich klang, ließ allein der Umstand, dass es ein Männername war, mein Herz nach unten sacken (als wäre es nicht ohnehin schon ziemlich weit unten gewesen).
Ging es um Marias Geliebten, der einen Rat brauchte? Warum von mir? Hatten meine Kussfähigkeiten mich zwar als Lover disqualifiziert, zugleich aber Ratgeberqualitäten offenbart?
Obwohl ich nur Bahnhof verstand, nickte ich, schluckte und versuchte gleichzeitig etwas zu sagen, was eine Art Rülpser nach sich zog, der einem »Hm« glich.
»Er hat im Grunde zwei Möglichkeiten«, fuhr Maria fort. »Gewissheit zu erlangen, die schrecklich ist oder ein Wunder bedeuten kann – oder Ungewissheit, die … möglicherweise glücklicher ist, gleichzeitig aber … unerträglich.«
Ich ließ mir Zeit, begriff jedoch schnell, dass ich zunächst ein äußerst störendes Element aus dem Weg räumen musste.
»Ist … Bertram … dein Geliebter?« Ich musste es wissen.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nur ein Freund, der einen Rat braucht. Und zwar möglichst bald.«
Sie senkte den Kopf und wich meinem Blick aus. Wohingegen ich sie anstarrte wie einen verlorenen Schatz; ich wusste, wie sich ihre Lippen anfühlten und ihre Wangen an meinen Handflächen. »Äh, möchtest du vielleicht reinkommen?«
»Nein.« Sie sah auf die Uhr. »Ich bin in einer Viertelstunde verabredet.«
»Okay.«
Erneut versuchte ich mich zu konzentrieren. Ich hatte so viele Fragen, doch es fühlte sich falsch an, sie zu stellen. Daher schloss ich hinter mir die Tür und setzte mich auf die Treppe.
»Dein Freund hat also die Möglichkeit zu erfahren, wie seine Zukunft aussehen wird«, versuchte ich zusammenzufassen. »Und sie wird entweder gut oder schlecht sein?«
Sie nickte und rührte sich nicht vom Fleck.
»Und jetzt fragt er sich, ob er Gewissheit haben oder in Unwissenheit leben will?« Ich dachte kurz nach. »Ist denn nicht das ganze Leben eine einzige Ungewissheit?«
»Schon, aber …«
Mehr sagte sie nicht.
Ich lächelte. »Der Tante meiner Mutter wurde in ihrer Jugend vorhergesagt, sie werde unter rätselhaften Umständen sterben«, erzählte ich. »Jung.«
»Und?«, fragte Maria.
»Fünfundfünfzig Jahre lang hat sie in Angst gelebt. Bis sie starb, und zwar eines völlig natürlichen Todes.«
Dann zuckte ich zusammen – Maria lachte. Ganz plötzlich. Ein lautes, heiteres, fast kindliches Lachen.
Ich fühlte mich ein wenig stolz und lachte ebenfalls. »Und das Schlechte wird er doch früher oder später sowieso erfahren?«
Sie nickte, jetzt wieder ernst.
»Warum sich unnötig fürchten?«
Langsam setzte sie sich zu mir auf die Treppe, schob den Rock unter die Knie, die Hände unter die Oberschenkel.
»Der Gedanke gefällt mir.«
Sie tippte die Schuhspitzen aneinander und ließ sie wieder auseinandergleiten. Eine Weile saßen wir schweigend da.
»Wenn ich darüber nachdenke, ist mir Unwissenheit lieber«, sagte ich dann.
»Tatsächlich?«
Ich lachte. »Hallo, ich bin Musiker. Meinst du, ich würde mich nicht schon genug fürchten? Vor jedem Konzert, da kann ich ein Lied von singen.«
Sie lächelte. Erst in Richtung ihrer Knie, dann zu mir. Prompt begann mein Herz wie wild zu schlagen. Es gab die Hoffnung nicht auf, das musste man dem kleinen Muskel lassen.
»Ich werde es … Bertram ausrichten.«
»Sehr schön«, sagte ich. »Ich … hoffe, alles wird gut.«
»Ja. Vermutlich ist es sowieso nichts.«
»Bestimmt«, sagte ich, ohne zu wissen, worum es ging. Ich wollte nur Zeit gewinnen, sie noch einen Moment länger bei mir haben.
Trotzdem schaute ich pflichtschuldig auf meine Armbanduhr. »Kommst du … nicht zu spät? Zu deiner Verabredung?«
Zuckte sie kurz zusammen? Sie sah zuerst mich an, dann die Uhr an ihrem Handgelenk. Schließlich schüttelte sie den Kopf.
»Das ist nicht so schlimm.«
»Nein?«
»Nein.«
Wieder schwiegen wir eine Weile. Und erst jetzt merkte ich, dass ich an einer Büroklammer herumspielte, die ich in der Hosentasche gefunden hatte. Sie war jetzt geformt wie ein Herz. Schnell umschloss ich sie mit der Hand und räusperte mich.
»Maria«, sagte ich, »ich will mich noch einmal entschuldigen. Für … das … du weißt schon, vor dem Grand Hotel. Es tut mir wirklich leid.«
Sie drehte sich zu mir. »Es tut dir leid?«
Ich nickte. »So bin ich eigentlich gar nicht. Ich … hatte nur plötzlich das Gefühl, die Zeit drängt und –«
Ich fuhr mir verzweifelt durch die Haare, während Maria mich anstarrte.
Nach einer Weile beugte sie sich vor und sagte: »Die Zeit drängt tatsächlich. Das Gefühl habe ich schon lange.«
In der Wohnung schlief mein Freund Hans, der mir einen künstlichen Schnauzer geschenkt hatte und mich in all seiner Güte mit dieser Birgitte verkuppeln wollte.
Hier draußen auf der kalten Treppe saß ich. Und wurde von der einzigen Frau geküsst, die ich haben wollte.
Ich habe keine Ahnung, wie lange wir so dasaßen. Ich weiß nur, dass es bis dahin der glücklichste Augenblick in meinem Leben war.