Sie fiel mir wieder ein. Die Geschichte meines Vaters. Denn ich hatte den nächsten Brief gelesen, am Abend nach der Beerdigung. Nach meiner ersten Begegnung mit dem Nachtleben von Asker.
Jetzt las ich ihn noch einmal, während die Dezembersonne schräg durchs Küchenfenster fiel, und plötzlich verstand ich, warum ich gestern bei der Fortbildung dieses Unbehagen verspürt hatte (mit teuflischen Folgen). Mein Kater war nicht der einzige Grund gewesen.
Zugebenerweise hatte ich mich ordentlich danebenbenommen, denn einen betrunkenen Kollegen vor versammelter Mannschaft wegen seines Sprachfehlers aufzuziehen, war nicht gerade die feine englische Art. Andererseits war es auch nicht sonderlich nett, hinterrücks über anderer Leute Metronom zu reden. All das ging mir durch den Kopf, während ich mir den letzten Bissen Knäckebrot mit Tomatenfisch in den Mund steckte.
Und trotzdem. Weder im Alkohol noch im Metronom lag der Hund oder was auch immer begraben; es war das Gefühl des Verlassenwerdens, obwohl doch eigentlich mein Vater der Leidtragende gewesen war. All seine Träume, alles, woran er geglaubt hatte, war von jetzt auf gleich zertrümmert worden.
Völlig ahnungslos hatte er in London gewartet, mit Blümchenbettwäsche und CD -Player – und dann schrieb Mama ihm aus dem Blauen heraus, sie könnten sich nicht mehr sehen. Ohne ihm einen konkreten Grund zu nennen.
Und noch davor hatte er sie unzählige Male angerufen, aber immer nur Großtante Ruth erreicht. Ich konnte mir denken, wie sich das für ihn angefühlt hatte.
Es mag an der grellen Sonne gelegen haben, doch als ich von dem Brief aufblickte, taten mir die Augen weh. Ich blinzelte ein paar Mal und faltete ihn zusammen.
Armer Papa, dachte ich. Und plötzlich verspürte ich das dringende Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen, den alten Mann. Meinen Papa mit dem weißen Bart und dem künstlichen Schnauzer – ja, ich hätte ihn so gern getröstet.
Aber was hätte ich ihm gesagt? Dass alles wieder gut werde?
Und dann sah ich ihn vor mir, in seinem jetzigen Zustand, eingeäschert in einer Urne. Eins stand jedenfalls fest: Es war ziemlich viel schiefgelaufen. Und zwar gründlich.
Ich musste an dieses Telefonat denken.
Endlich hatte Mama den Hörer abgenommen, aber nicht gesagt, ob sie meinen Vater immer noch liebe. Oder ob dieser Bertram etwas mit ihrem Sinneswandel zu tun habe. Irgendetwas mit dem Kerl war faul gewesen, und zwar von Anfang an, das verstand sogar ich.
Ich fuhr so abrupt hoch, dass der Teller auf dem Tisch schepperte. Mir war etwas in den Sinn gekommen.
Ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen und zupfte wie eine Besessene vertrocknete Blätter aus dem Weihnachtsstern. Anschließend ging ich mindestens drei Mal um den Tisch, immer linksherum.
War Bertram Bang mein Vater? Hatte Mama Schluss gemacht, weil sie von einem anderen schwanger gewesen war? War ich etwa Vilma Bang ?
Ich steuerte den Spiegel an, hielt aber auf halbem Weg inne. Ich wusste doch längst, wen ich sehen würde. Und zwar weder Vilma Bang noch Vilma Veierød. Und auch keine Vilma Mozart Sandvik.
Ich atmete ein paar Mal tief ein und setzte mich wieder. Dann zog ich den Laptop heran, googelte ein bisschen und landete schließlich auf einer Website mit zahlreichen Bildern und aufdringlichen Werbeanzeigen für den Baby-Bonusclub.
Ganz oben stand: Rund um die Schwangerschaft . Darunter folgten Wochenübersichten, Kalender und Illustrationen von Eizellen, Eierstöcken und Spermien. Ich fing an, die Tage und Monate von meiner Geburt zurückzuzählen. Eine merkwürdige Aufgabe, für diese Art Mathematik hatte ich schließlich nie Bedarf gehabt, und vor allem war ich beim Rechnen noch nie so nervös gewesen.
Nach gründlicher Analyse kam ich jedoch zu dem Schluss, dass meine Mutter zum Zeitpunkt des Telefonats noch nichts gewusst haben konnte. Von dem Kind, von mir, unabhängig vom Vater.
Das war also nicht der Grund, warum sie ihm den Brief geschrieben und das Goldherzchen zurückgeschickt hatte.
Einerseits war ich beruhigt, andererseits aber auch nicht. Was war dann der Grund gewesen? Jetzt verstand ich noch viel weniger, aus welchem Grund sie Papa so unglücklich gemacht hatte. Wie sie es ausgehalten hatte, ihn derart im Ungewissen zu lassen.
Plötzlich überkam mich ein unheilvolles, fremdes Gefühl. War Mama nicht der Mensch gewesen, für den ich sie immer gehalten hatte, sondern vielmehr eine – wie hieß das noch mal? – Femme fatale, die ein Schlachtfeld der gebrochenen Männerherzen zurückgelassen hatte?
Erschrocken über mich selbst verscheuchte ich den Gedanken. Ich musste mich jetzt zusammenreißen und durfte mich nicht von meinen Gefühlen überwältigen lassen, sonst würde sich das früher oder später rächen. Nachts würde ich kein Auge mehr zutun und dann nicht nur Schäfchen zählen, sondern auch Kühe, Schweine, Ziegen, Hühner … kurzum alles, was kreucht und fleucht.
Sonst würde ich von mindestens tausend rückwärtszählen müssen.
Mit welchem Recht hätte ich, Vilma, meiner Mutter irgendwelche Vorwürfe machen können? Ich war schließlich am Leben, und daran hatte sie entscheidenden Anteil. Sie war die Gute von uns beiden.
Nur zur Sicherheit zählte ich schnell von fünfzehn runter, ließ Wasser über den Teller laufen und räumte ihn in den Geschirrspüler.
Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, fiel mir wieder ein, was Robert gesagt hatte; dass ich die Nase meines Vaters hätte. Nicht die von Bertram Bang (von dem Robert allerdings auch nichts wusste), sondern die von Vilhelm Mozart Sandvik.
Und genau den wollte ich doch als Vater.
Daran musste ich mich klammern. Zumal er mir doch wohl kaum all die Briefe geschrieben hätte, wenn er sich nicht absolut sicher gewesen wäre, dass er mein Vater war. Er war schließlich nicht auf den Kopf gefallen.
Zu meiner eigenen Verwunderung verspürte ich das tiefe Bedürfnis, über all das mit jemandem zu reden. Nicht über die Vaterschaft an sich und schon gar nicht über die körperlichen Veränderungen, die eine Schwangere im ersten Trimester durchmachte, sondern über die unerwartete Wendung, die die Beziehung meiner Eltern genommen hatte.
Natürlich kam mir sofort Ivar in den Sinn. Wenn’s um vertrauliche Gespräche ging, waren wir schließlich ein eingespieltes Team. Ob wir auch sonst ein gutes Team sein könnten, musste die Zeit zeigen – aber nach diesem peinlichen Fauxpas mit der Aubergine?
Aus einem Impuls heraus kramte ich das rosafarbene Post-it hervor, das ich nie weggeworfen hatte.
»Hallo, Vilma«, sagte Robert fröhlich.
Offensichtlich hatte er meine Nummer gespeichert, woher wusste er sonst, dass ich es war?
»Hallo.«
»War schön vorgestern.« Dann schob er rasch hinterher: »Im Pub, meine ich.«
Im Pub, ja. Ich räusperte mich und erinnerte mich dunkel an unsere Abschiedsumarmung. An den Geruch seines Aftershaves. Daran, dass er gesagt hatte, ich sei seltsam, aber lustig.
Ich holte tief Luft.
»Sie hat mit ihm Schluss gemacht«, sagte ich. »Einfach so, ohne Vorwarnung. Aber ich glaube nicht, dass sie da schon wusste, dass ich … du weißt schon … unterwegs war.«
Robert musste einen Moment nachdenken. Dann sagte er zögerlich: »Du meinst deine Mutter und deinen Vater … die Briefe?«
Obwohl er mich nicht sehen konnte, nickte ich. »Und ich dachte immer, dass er abgehauen wäre.«
»Hmm«, machte Robert.
»Weil er noch keine Kinder wollte.«
Plötzlich verwandelten sich die Briefe meines Vaters von Schwarz-Weiß in Farbe, von Papier in Wirklichkeit. Denn erst jetzt, da ich meine eigenen Worte hörte, wurde mir klar: Das Kind war ich. Vilma, fünfunddreißig, die in diesem Moment mit dem Handy am Ohr am Küchentisch saß.
Ich war das Kind, das er sich erst in zehn Jahren gewünscht hatte.
Natürlich hatte er es nicht persönlich gemeint, schon klar. Er hatte sich generell kein Kind gewünscht, ganz gleich ob Junge oder Mädchen – noch nicht jedenfalls.
Aber wenn er gewusst hätte, dass ich unterwegs war – hätte das etwas geändert?
»Vielleicht …«, druckste Robert am anderen Ende der Leitung herum, »… musst du einfach weiterlesen?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Es war seltsam, denn ich hatte noch nie Probleme damit gehabt, traurige Filme bis zum Ende zu schauen. Und wahrscheinlich hätte ich die Briefe auch ohne Zögern weitergelesen, hätte mich nicht eine Sache ins Grübeln gebracht: In den letzten Tagen war mein Leben ein bisschen schöner gewesen. Mit dem Lebkuchenhaus und Nesquik, obwohl ich anfangs solche Zweifel gehabt hatte. Sogar im Pub war’s schön gewesen.
Schön, ganz allgemein. Trotz Beerdigung, Alkohol und pubertärer S-Wörter-Anwandlungen während der Fortbildung.
Ich war sogar davon ausgegangen, dass meine Seele auf einem guten Weg war. Dass Ivar wusste, was er tat.
Aber für meinen armen Vater war damals eine Welt zusammengebrochen. Mama hatte ihn verlassen, und er hatte seinen Kummer in Wodka ertränkt, in der Wohnung mit dem neuen Sofa und der vermeintlich modernen Tischdecke. Mutterseelenallein. Im Hintergrund Elgars Cellokonzert. Die Vorstellung war so unglaublich traurig.
Wollte ich wirklich lesen, wie sehr er gelitten hatte? Mein eigener Vater? Sollte ich nicht lieber ein bisschen warten? Plötzlich stand mehr auf dem Spiel als zuvor.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich zu Robert.
Er schwieg einen Moment.
»Ach, ich habe übrigens Ivar angerufen«, sagte er dann, »wie versprochen. Er war sehr … verständnisvoll. Du sollst dir keine Sorgen machen.«
Ivar. Gott sei Dank! Erleichtert seufzte ich auf. Verständnisvoll, ja, das war er. Und so warmherzig. Obwohl er genug eigene Probleme hatte, mit seiner Frau und dem Allmächtigen. Ich konnte nur den Hut vor ihm ziehen.
»Danke«, sagte ich. »So ein Glück, dann kann ich ihn ja wiedersehen.«
»Ja«, antwortete Robert und zögerte einen Moment. »So ein Glück.«
»Aber du, Vilma?«
»Ja?«
»Ich dachte nur … ob wir … vielleicht …«, er atmete tief ein, wartete einen Moment, atmete aus. »Na ja, dieses … Kackdreckfick … Lebkuchenhaus.«
»Lebkuchenhaus?«
»Ich dachte, wir könnten es Amdi schenken. Wenn du es nicht selber brauchst?«
»Klar«, sagte ich, »wir schenken es Amdi.«
»Sehr gut, sehr gut. Dann … komm ich die Tage vorbei und hol es ab, okay?«
»Klar«, sagte ich.
»Schön«, erwiderte Robert. »Prima.«
Ich rief Ivar nicht an. Es erschien mir noch ein bisschen zu früh, auch wenn nun dem Himmel sei Dank keine Aubergine mehr zwischen uns stand.
Stattdessen ging ich ins Wohnzimmer und nahm den nächsten Brief vom Sekretär. Hielt ihn einen Moment lang in der Hand und dachte an Papa, der ihn geschrieben und in einen Umschlag gesteckt hatte.
Dann legte ich ihn auf den Couchtisch. Ich wollte den Brief morgen lesen.
Denn eine Sache musste ich herausfinden: Wann mein Vater von mir erfahren hatte. Nicht von irgendeinem Jungen oder Mädchen, sondern von mir, Vilma.
Was hatte er gedacht? Was hatte Mama ihm geschrieben? Irgendetwas musste sie ihm ja geschrieben haben.
Dass alles an mir dran sei, zehn Zehen und zehn Finger? Dass ich ein süßes Baby sei? Oder ein Schreihals? Dass ich ohne Haare auf die Welt gekommen sei? Oder mit Locken?
Und vor allem: Hatte sie geschrieben, ich sei ihr wichtig? Dass sie mich über alles liebe?
Ja, ich musste dringend herausfinden, mit welchen Worten ich in Papas Leben getreten war.
London, den 31. Oktober 2019
Wenn mir damals jemand erzählt hätte, ich würde innerhalb der nächsten Jahre sieben Frauen verlassen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass ich sie nicht geliebt hatte, hätte ich ihn vermutlich für verrückt erklärt.
Ich, der sich nichts mehr gewünscht hatte, als für immer mit Maria zusammen zu sein (so schwülstig das klingen mag) – wie sollte ich zu so einem Leben fähig sein?
Aber um ehrlich zu sein, Vilma, ging es mir weder darum, zu leben, noch, zu lieben. Stattdessen flüchtete ich mich in den Alkohol und in den Irrglauben, die Affären würden mich trösten.
Zum Teil war übrigens mein Schnauzer daran schuld, ach, hätte mein lieber Freund Hans das nur gewusst.
Ob ich mit dem Schnauzer mehr Selbstvertrauen ausstrahlte? Möglicherweise. Sobald ich ihn mir anklebte, durchlief ich jedenfalls eine Verwandlung. In einen Vilhelm, um den es gar nicht so schlecht stand, der nichts zu verlieren hatte.
»Du hast so traurige Augen«, hat eine der Frauen einmal zu mir gesagt – ich schätze, sie meinte es als Kompliment.
Wie auch immer. Auf einmal lagen mir die Frauen zu Füßen, und ich half ihnen nicht auf. Dafür schäme ich mich bis heute.
Vielleicht wollte ich mich ja rächen. An Maria.
Denn egal, aus welchem Winkel man die Sache betrachtete, schienen doch sämtliche Spuren zu diesem mysteriösen Bertram Bang zu führen. Die Art, wie sie sich um ihn gesorgt hatte, als er krank gewesen war, ihre ständigen Ausflüchte. Und außerdem: Spielen Aussehen und Stil nicht oft eine größere Rolle, als wir es uns eingestehen wollen?
Kein Wunder, wenn sie einem Adonis ohne entstellende Narbe über der Oberlippe den Vorzug gab, einem Mann von Welt (so einer war dieser Bertram doch bestimmt?), der sie nicht ungefragt küsste und nervös in einer Napoleonschnitte herumstocherte.
Was könnte sonst der Grund sein, von dem ich nichts erfahren sollte?
Im Rückblick dachte ich auch über ihre Stimmungsschwankungen nach, darüber, dass sie es oft so eilig gehabt hatte. Waren es Gewissensbisse gewesen? Die Qual der Wahl?
Lange plagte mich die Erinnerung an unseren letzten gemeinsamen Abend. An die Bitte, mir zu versprechen, wir würden für immer zusammenbleiben.
Hätte sie doch nur mit einem simplen »Ja, für immer Vilhelm« geantwortet.
Aber nein. Dumm und bis über beide Ohren verliebt, wie ich es war, hatte ich mich mit einem »die Zukunft ist heute« begnügen müssen. Was auch immer das heißen mochte.
Nun ja, ich sammelte Indizien, die auf diesen Bertram Bang hindeuteten, und trug eine ganze Menge zusammen.
Und so grotesk es auch klingen mag, weidete ich mich an der Vorstellung, welche weniger vorteilhaften Züge der Kerl mit der Zeit an den Tag legen könnte.
Die wenigsten eignen sich dazu, verschriftlicht zu werden, aber lass es uns so sagen: Ich hegte die Hoffnung, dass er auf halber Strecke zwischen Kopf und Fuß eher unterdurchschnittlich ausgestattet war. Dass er Mundgeruch hatte, beim Essen abstoßend schmatzte – und dass ihm büschelweise die Haare ausfielen.
Und nicht zuletzt: dass er übereifrige Schweißdrüsen hatte.
Kurzum, ich wünschte dem Mann alles erdenklich Schlechte. Alles Eklige, Klebrige und Schmierige.
Allerdings währte diese Phase nicht lange. Und auch die Zeit, in der ich ihn regelmäßig auf Klopapier kritzelte, war schnell vorbei (mehr sage ich dazu lieber nicht). Um das Ganze abzukürzen: Irgendwann ging meiner Kreativität die Luft aus, und die Verbitterung – gepaart mit Absolut Vodka – gewann die Oberhand.
Es grenzte an ein Wunder, dass ich im Orchester trotzdem halbwegs vernünftige Arbeit leistete, abgesehen von ein paar unangenehmen Situationen mit Kolleginnen, denen ich den Laufpass gegeben hatte, bisweilen nur mit kurzen Briefchen – keine offene Konfrontation, so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich.
Ja, diese Einstellung wurde in den nächsten Jahren zu einer Art Mantra: so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich. Ein Motto, das sich wohl die meisten Männer auf die Fahne schreiben.
Ich scherte mich nicht um meine Mitmenschen, und sie scherten sich nicht um mich.
Und immer öfter stellte ich mir die Frage: Ist die Welt ein guter Ort? Oder sind wir Menschen bloß hier, um andere zu benutzen und benutzt zu werden, um uns zu bedienen und zu verschmähen, uns mit dem zu begnügen, was wir bekommen?
Mein einziger Trost (neben meinem unsteten Gefährten, dem Alkohol) war wieder einmal die Musik. Aber nicht jede Musik. Kein Stück, das mich an Maria erinnerte. Und niemals Brahms, sofern er nicht gerade auf dem Orchesterspielplan stand.
Aber dann, Vilma, kam der Brief. Klein und unauffällig, Name und Adresse handschriftlich auf dem Umschlag vermerkt, das V ohne Häkchen. Erst wollte ich ihn ungeöffnet beiseitelegen – bestimmt nur eine verschmähte Liebschaft, die ihrem Ärger Luft machen wollte, es wäre weiß Gott nicht das erste Mal gewesen.
Aber dann drehte ich den Umschlag um, und mein Blick fiel auf den Absender.
Der Brief war von Deiner Großtante. Ruth Veierød.
Nicht von Maria.
Obwohl es spät war, nach einem Konzert, fühlte ich mich auf einmal stocknüchtern und wacher denn je. Ich riss den Umschlag auf, zog den Brief heraus und las die wenigen Worte.
Die handgeschriebenen Buchstaben waren unverschnörkelt, der Inhalt so kurzgefasst, dass er in einer einzigen Zeile Platz fand.
Obwohl es um etwas so Endgültiges und unsagbar Ungerechtes ging:
Maria war tot. Ein Unfall.
Ruth Veierød wollte mich darüber in Kenntnis setzen.
Sonst nichts.
Oft heißt es, in solchen Momenten bleibe die Zeit stehen, und für viele Menschen mag es sich so anfühlen. In meinem Fall jedoch sprang die Zeit zurück, waren die letzten vier Jahre wie ausgewischt. Der gefaltete Brief in meinem Koffer, das Telefonat mit Maria, meine Theorien über Bertram Bang und sein Erscheinungsbild – das alles war weg.
Stattdessen war ich wieder in Asker, hielt Maria im Arm, spürte die Sommerwärme, die von ihren Haaren ausging, ihre weichen Wangen, ringsum ein Meer aus Flieder, Apfelbäumen und Rhabarber. Der Moment war paradiesisch – und so grausam weit weg von der Wirklichkeit.
Ein Unfall. Langsam realisierte ich, was passiert war.
Und genauso langsam zog die Schwerkraft meine Knie aufs kalte Parkett hinab.
Dann, in einem verzweifelten Moment, wich jegliche Wut aus meinem Körper. Machte Platz für die Trauer um diesen Menschen, den ich mit jeder Faser meines Körpers, mit Haut und Haaren geliebt hatte, mehr als alles andere. Und der jetzt nicht mehr da war.
Oje, was ist nur los mit mir? Ich schreibe, als hätte nur ich einen Verlust erlitten. Verzeih mir, Vilma – wie gedankenlos von mir. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es sich anfühlen muss, im Alter von vier Jahren die eigene Mutter zu verlieren. Vielleicht so, als würden um einen herum alle Wände eines Hauses einstürzen? Als wäre man vollkommen schutzlos?
Ich kann nur raten. Allerdings habe ich noch lebhafte Erinnerungen an die Zeit, in der die Erwachsenen so groß wirkten und so viel Sicherheit ausstrahlten. In der es einem völlig unmöglich erschien, dass sie einmal sterben könnten.
Für Dich muss eine Welt zusammengebrochen sein, Vilma. Ich kann nur hoffen, dass Du in dieser schweren Zeit viel Wärme erfahren hast. Das hoffe ich wirklich.
Ich für meinen Teil war mit meiner Trauer allein. Ich versuchte nie, sie jemandem zu beschreiben, dazu wäre ich auch gar nicht imstande gewesen.
Aber ich glaube, die Musik ist dazu imstande. Falls Du einmal Tschaikowskis letzte Symphonie gehört hast, verstehst Du, was ich meine. Dieser vierte Satz, die letzte Komposition, die er der Öffentlichkeit präsentierte, ehe er sich vermutlich selbst das Leben nahm, 1893 in Sankt Petersburg.
So traurig, so verzweifelt und zugleich so wunderschön, ein Herz, das schlägt und plötzlich verstummt – das keine Hoffnung zurücklässt und trotzdem: weiterlebt.
Ich blieb lange am Küchentisch sitzen.
Ich hätte den Brief nicht lesen sollen.
Aber nun konnte ich es nicht mehr rückgängig machen.
Nach einer Weile ging ich zum Sekretär und blätterte durch sämtliche Umschläge. Dann ging ich nach oben in mein Zimmer, um nachzuschauen, welche Nummer auf dem letzten gestanden hatte.
Nein, ich hatte keinen Brief übersprungen. Zwischen den beiden Episoden hatten vier Jahre gelegen. Vier Jahre, über die mein Vater nicht geschrieben hatte. Kein einziges Wort.
Ich ließ mich auf die Bettkante sinken und fühlte mich vollkommen leer, wie ausgehöhlt.
Großtante Ruth hatte meinen Vater über Mamas Tod informiert. Doch mich, Vilma, hatte sie mit keiner Silbe erwähnt.
Als hätte ich überhaupt nicht existiert.
Ich saß eine Weile da und hörte zu, wie draußen der Müllwagen die Zufahrten abklapperte. Papier, Plastik- und Restmüll. Irgendwo weit weg, in einer anderen Dimension.
Es war, als gehörten die Oberschenkel, an die die Bettkante drückte, einem anderen Menschen. Das Bettzeug unter meinen Fingern fühlte sich steif und fremd an. Mein Körper – wenn es überhaupt meiner war – kam mir so leicht vor, so unwirklich, wie eine verblasste Erinnerung.
Wen hatte Großtante Ruth eigentlich in mir gesehen? Nur meine Mutter? Maria mit den Zöpfen? Ihre Nichte, die sie über alles geliebt und für immer verloren hatte?
Ich nahm eine Strähne zwischen meine Finger, meine Haare waren noch so weich und lockig wie damals. Und auch genauso lang. Du hast ihre Haare, hatte Großtante Ruth immer gesagt, die Haare deiner Mutter.
Ich schloss die Augen, und da spürte ich sie im Nacken, Großtante Ruths Hände. Den Kamm, mit dem sie einen Mittelscheitel zog. Ihre Fingernägel, die meine Kopfhaut streiften, wenn sie mir Zöpfe flocht, sie strammzog und dann zwei Mal das Haargummi drumwickelte.
Danach stand sie hinter mir und blickte mit ihren Vogelaugen über meinen Kopf hinweg in den Spiegel, musterte ihr Werk und nickte zufrieden.
Sah sie im Spiegel nur sich und Maria?
Ich stand auf und trat ans Fenster, am ganzen Körper zitternd. Draußen lag der Garten. Am Apfelbaum der Nachbarn baumelte ein kitschiger Plastikweihnachtsmann.
»Und ich?«, hörte ich mich flüstern, und mein Blick wanderte zum Fliederbusch, der sich unter der Schneelast bog.
»Und Papa?«
Was dann passierte? Ich glaube, man spricht in solchen Situationen von einem Flashback. Es war, als würde ich in die Vergangenheit zurückkatapultiert, an einen Augustabend, ich saß auf der Glasveranda, während sich über dem Fjord ein Gewitter zusammenbraute. Der Donner war noch ein gutes Stück entfernt, und der Garten lag vor mir wie in stiller Erwartung. Und auch Großtante Ruth wartete.
Wenn ich so darüber nachdenke: Es muss zu der Zeit gewesen sein, in der sie anfing, sonntags in die Kirche zu gehen und nachts im Schlaf zu schreien wie ein Gespenst. Aber dieser Gott (oder wer auch immer in der Kirche das Sagen hatte) vermochte es nicht, ihrem Verhalten ein Ende zu setzen. Obwohl ich ihn immer wieder darum bat.
Ich dürfte zehn oder elf gewesen sein, und an jenem Tag war ich zum ersten Mal ohne Erlaubnis zum Kiosk gegangen und hatte mir von meinem Taschengeld Kaugummi und Brausepulver gekauft. Was mir gar nicht ähnlich sah – aber ich steckte mitten in meiner Annie-Phase und wollte mutig, frei und Gott weiß was alles sein.
Jetzt saß ich im Korbsessel auf der Veranda und zählte den Abstand zwischen Blitz und Donner in der Ferne, während Großtante Ruth auf eine Entschuldigung wartete.
»Wer etwas Unrechtes getan hat, muss um Vergebung bitten«, sagte sie. »Gott will das so.«
Tja, mit diesem Gott hatte ich noch keine nähere Bekanntschaft gemacht. Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Ich wusste nur, dass er im Alten Testament ein Tohuwabohu mit Fröschen und Heuschrecken angerichtet hatte, im Religionsunterricht hatten wir Bilder dazu gemalt.
Trotzdem musste sich etwas in mir angesprochen gefühlt haben. Wahrscheinlich mein schlechtes Gewissen. Vielleicht lag es aber auch am Himmel, der binnen kürzester Zeit vom schwülen Sommerabend zur Nacht übergegangen war. Über dem Oslo-Fjord zuckten Blitze und erleuchteten die Veranda. Die Stille war ohrenbetäubend. Ich zählte bis zehn, mindestens, dann holte der Donner den Blitz ein.
Und ja, ich entschuldigte mich, als die ersten Regentropfen auf die kleinen Glasscheiben im Verandafenster klatschten. Draußen im Garten bewegten sich die Rosenbüsche im Wind.
Mein Gewissen ließ mir trotzdem keine Ruhe. Schließlich war der heimliche Kioskausflug nur ein kleiner Vorgeschmack auf den wahren Ungehorsam gewesen: die Tasche, die unter meinem Bett lag und dort regelrecht glühte, mit Nachthemd und Süßigkeiten für Erika Strøm-Andersens Übernachtungsparty.
Und noch viel schlimmer: mein Plan, aus dem Fenster zu klettern.
Ich wurde nervös. Wie schlimm war es eigentlich, sich davonzuschleichen? Konnte einem so etwas vergeben werden?
Ich dachte gründlich nach und versuchte, meine Frage so clever wie möglich zu formulieren:
»Und wenn man etwas Unrechtes tut, wovon niemand weiß?«
Ich sah alles ganz deutlich vor mir: Wie sich Großtante Ruths Gesicht plötzlich verzerrte und irgendwie leer und fremd wirkte. Wie sie sich zum Fenster umwandte, auch wenn es gar nicht geblitzt hatte. Und obwohl ich damals nur ein Kind war, verstand ich intuitiv, dass sie sich versteckte. Sich in etwas Geheimes, Erwachsenes flüchtete.
Sie blieb eine ganze Weile so stehen, während draußen der Wind immer stärker wurde. Der Fliederbusch neigte sich nach links.
Ich weiß noch, dass ich eine kurze Hose anhatte und ein bisschen fröstelte, das Gefühl meiner nackten Beine im Korbsessel. Ich wartete. Und gleichzeitig spürte ich, dass sich etwas veränderte hatte, dass ich besser nicht hier wäre. Blitze erleuchteten die Veranda, und Großtante Ruth stand wie angewurzelt da und starrte in den Garten. Ich konnte gerade mal bis vier zählen, da donnerte es laut und ich kauerte mich zusammen.
Plötzlich murmelte sie, wie zu sich selbst: »Es gibt Dinge, die kann man nicht wiedergutmachen.«
Und dann: »Sonst verliert man alles.«
Ich spürte, dass es um etwas Großes ging. Dass es ein wichtiger Moment war, ich verstand nur nicht, warum.
Und noch heute sehe ich uns vor mir, auf der Veranda, während der Regen immer kräftiger auf das dünne Dach niederprasselte. Während Großtante Ruth langsam zu sich kam und begriff, dass ich sie gehört hatte. Einen Moment lang sah sie mir in die Augen, dann verschwand sie ins Wohnzimmer.
Ich hatte gefragt: »Was macht Gott dann?«