Der zweite Advent war längst vorbei, aber ich hatte mich noch immer nicht dazu aufgerafft, ein Lichtlein für die Hoffnung anzuzünden.
Ich ließ Papas Brief in den Schoß sinken und spürte nur eins: Es war zu spät. Zu spät für ihn, zu spät für mich.
Ich war so nah dran gewesen, ihn zu treffen, diesen Menschen, der Freudentränen geweint hatte, als er von mir erfuhr. Der mich vom allerersten Moment an geliebt hatte, sozusagen unbesehen.
Irgendwann stand ich von dem alten Rokokostuhl auf und legte den Brief auf die Kiste mit Weihnachtsschmuck, die ich vor einer gefühlten Ewigkeit vom Speicher geholt hatte. Ich trug immer noch meinen Pyjama und ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen, über das Durcheinander, das mir so gar nicht ähnlich sah: Teller und Tassen, die nicht mehr in die Küche zurückgefunden hatten, Knäckebrotkrümel und Gläser mit sauer gewordenen Milchresten. Ich hatte schon ewig nicht mehr aufgeräumt.
Hoffnung? Was ist das überhaupt?, dachte ich.
Man ist hier, lebt vor sich hin und versucht, das Überleben seiner Nachkommen zu sichern. Punkt. Aus. Ende. Und falls man keine Nachkommen hat, konzentriert man sich eben darauf, dem eigenen Tod zu entgehen, und zwar so lange wie möglich. Jeder für sich.
Tja, viel anderes hatte ich in den letzten Tagen wahrhaftig nicht getan. Ich hatte für mich selbst überlebt.
Was nicht sonderlich schwer gewesen war, ich hatte ja nicht mal einkaufen müssen. Ich konnte mich problemlos mit Vorräten aus dem Keller durchfüttern; Dosenravioli, Haferflocken in Kondensmilch, Knäckebrot mit Tomatenfisch.
Bis zum Weltuntergang konnte ich locker durchhalten.
Aus irgendeinem Grund hatte ich sogar ferngesehen, und das kam purer Selbstkasteiung gleich, da auf sämtlichen Kanälen fröhlichste Weihnachtsstimmung herrschte. Britische Premierminister knutschten hinter Bühnenvorhängen und zu Hause vergessene Kinder quälten zwielichtige Ganoven, untermalt von festlicher Musik.
Bei Guten Morgen Norwegen verkündete ein nervtötender Strahlemann seine ultimativen Geschenktipps – wie wär’s mit einer Schneesäge für Papa, dann kann er sich im Garten ein Iglu bauen? Und vielleicht eine Steppweste für Mama, damit sie mollig warm durch die kalten Tage kommt?
Nein danke.
Und warum sollte man überhaupt darauf hoffen, dass sich irgendwann alles zum Guten wendet? Betrachtete man die Welt als Ganzes, war doch der Großteil der Menschheit ziemlich übel dran, und ich gehörte eben dazu.
Aus dem Radio drang »What a wonderful World« – na ja, ich hegte so meine Zweifel.
Kurz spielte ich auch mit dem Gedanken, Alkoholikerin zu werden, aber das schien mir viel zu anstrengend zu sein, schließlich hatte ich keinen Nerv einkaufen zu gehen, weder Alkohol noch sonst was.
Trotzdem holte ich eine alte Flasche Rotwein aus dem Keller, die ich bei einer Weihnachtsfeier bekommen hatte. Als ich daran schnupperte, fiel mir ein Artikel ein, den ich irgendwo gelesen hatte, wonach sexuell frustrierte Fruchtfliegen sich häufig mit gegorenen Früchten trösteten.
Nein, so was wollte ich mir nicht nachsagen lassen.
Andererseits hatte ich gehört, mit Alkohol im Blut habe man größere Chancen, Stichverletzungen zu überleben.
Aber na ja, dass eine Fünfunddreißigjährige im Pyjama ausgerechnet an dem Tag im eigenen Heim niedergestochen wurde, an dem sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit dem Alkohol verfiel, hielt sogar ich für unwahrscheinlich.
Also kippte ich den Wein in den Ausguss und hängte meine Alkoholikerinnenkarriere an den Nagel. Es war doch eh alles egal. Ich hatte nicht mal mehr Lust, Hippen zu backen.
An den Weihnachtsliedern in der Schule kam ich allerdings nicht vorbei. Jeden verdammten Tag »O Tannenbaum, die Oma hängt am Gartenzaun« und »Schiefer die Glocken nie klingen«.
»Du bist in letzter Zeit so … mies drauf«, sagte Sølvi eines Tages im Lehrerzimmer. »Stimmt was nicht?«
»Es ist nichts«, antwortete ich. Ich hatte keine Lust, beleidigt zu sein. Eigentlich hatte ich auf überhaupt nichts Lust. Am allerwenigsten darauf, ihr von meinem Vater zu erzählen, der nichts gewusst hatte, von meiner Mutter, die nichts erzählt hatte, oder von Großtante Ruth, die sowieso ein Leben lang geschwiegen hatte.
Sølvi zögerte einen Moment. Wahrscheinlich wartete sie darauf, dass ich noch etwas hinzufügte.
Aber dann, als ich nur stumm auf die lackierte Tischplatte starrte, versuchte sie etwas anderes: »Dieser Pfarrer. Ist er eigentlich … nett?«
Als Gesprächspartner meinte sie wohl. Bestimmt war die Frage gut gemeint, aber nett? Prompt sah ich Ivars käsige Pobacken vor mir, die seit dem einschneidenden Thujabusch-Erlebnis immer wieder vor meinem inneren Auge auf und ab hüpften.
»Nee«, wiederholte ich kopfschüttelnd.
Was hatte ich eigentlich erwartet? In Sachen Liebe, meine ich. Als ob ich, Vilma, in solchen Angelegenheiten je Erfolg haben würde. Adam und Eva hatten es ja nicht mal im Paradies hinbekommen.
»Ich fand ja diesen Robert süß«, sagte Sølvi.
Abrupt stand ich auf, trat an das große Fenster zum Schulhof und nahm das Wetter in Augenschein. Der Wind peitschte den Schnee waagerecht über das Schaukelgerüst, an dem eine vergessene Steppjacke hing.
Sølvi wickelte ihr Sandwich aus. »Ein Mann muss vor allem nett sein.«
Wieder schnürte es mir den Hals zu.
»Auf den Rest kann man eigentlich pfeifen.«
Ich seufzte und pfiff auf das Wetter, setzte mich wieder hin und nahm eine Tüte Mandeln vom Gemeinschaftsteller. »Welchen Rest?«
»Na, wenn’s was Festes sein soll«, sagte Sølvi. »Ein knackiger Hintern allein reicht irgendwann nicht mehr …«
Meine Güte, allmählich hatte ich wirklich genug von Hintern! Frenetisch kaute ich auf einer Mandel herum.
»… er muss vor allem nett sein.«
Sie lachte und schob sich einen Bissen von ihrem Sandwich in den Mund.
»Meiner daheim zum Beispiel hat nicht die geringste Ahnung von Autos. Und kochen kann er auch nicht. Ehrlich gesagt kann er nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen.«
Das klang schon mehr nach Sølvi.
»Aber er ist nett«, fuhr sie fort. »Und abends unter der Decke kann ich meine Füße an seinen aufwärmen.«
Füße, Hintern … offenbar entscheidende Faktoren, wenn es um die große Liebe ging. Na, meinetwegen.
Sølvi lachte. »Als er damals versucht hat, mich rumzukriegen, hat er mich auf ein Spiegelei eingeladen. Mit Zervelatwurst. Mehr bekam er nicht hin.«
Sie knüllte das Butterbrotpapier zusammen und sagte dann: »Eins steht fest: Der Traumprinz sieht für jede von uns anders aus.«
Eigentlich war es ein nettes Gespräch gewesen, es gab keinen Grund dafür, auf dem Heimweg zu heulen. Aber genau das tat ich.
Wobei, was heißt heulen? Ich spürte vor allem diesen Kloß, der sich seit ein paar Tagen zwischen meiner Brust und meinem Hals hin und her bewegte.
Sagen wir, ich war traurig, als ich durch den Schnee nach Hause stapfte.
Als ob ich mir etwas aus Knackpos machen würde, dachte ich.
Oder aus Spiegeleiern und Nägeln.
Als wüsste ich nicht, wer netter zu mir gewesen war als jeder andere.
Doch das Ende der Fahnenstange war damit noch nicht erreicht. Nein, die Welt bot mir ständig neue Gelegenheiten, zu spät dran zu sein, zum Beispiel jetzt, als es an der Tür klingelte und ich um zwei Uhr nachmittags immer noch im Pyjama rumlümmelte.
Amdi! Ich hatte seine Klavierstunde vergessen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm aufzumachen.
»Hast du geschlafen?«. Amdi starrte verwundert auf meinen Aufzug – karierte Baumwollhose und Strickpullover.
»Das sind meine Sportklamotten«, stotterte ich.
Im Grunde war es egal, ob er mir glaubte. Sein letzter Besuch war schließlich schon schräg genug gewesen. Kurz vorher hatte ich einen von Papas Briefen gelesen, in dem er schrieb, er wolle im Fjord verstreut werden, sodass ich die geplante Erdbestattung kurzerhand in eine Einäscherung umwandeln musste.
Zunächst hatte sich das Bestattungsbüro quergestellt, und dummerweise war das Telefonat mit Amdis Klavierstunde zusammengefallen. Während ich um einen Termin für den Verbrennungsofen förmlich betteln musste, hatte Amdi neugierig gelauscht, mich hinterher groß angeguckt und gefragt: »Du willst deinen Vater backen?«
»Nur verbrennen. Aber er ist schon tot.«
Daraufhin hatte er nur die Schultern gezuckt und sich wieder dem Klavier zugewandt.
Ein Glück, dass ihn meine Pyjamahose jetzt genauso unbeeindruckt ließ.
Es war unsere letzte Stunde vor dem Weihnachtskonzert. Ehrlich gesagt wäre sie gar nicht nötig gewesen, denn Amdi hatte alles unter Kontrolle, es gab nichts zu verbessern. Meine einzige Sorge war die Akustik in dem dämlichen Teppichladen, aber glücklicherweise lag dieses Problem außerhalb meines Verantwortungsbereichs.
Also brachte ich dem Jungen zwei neue Stücke bei und zeigte ihm, wie man elegant die Bühne betrat und zum Instrument ging. Und natürlich, wie man sich verbeugte und Applaus entgegennahm.
Amdi zeigte mir im Gegenzug auf seinem Handy ein paar »Memes« oder wie diese albernen digitalen Spielereien hießen. Schließlich öffnete er eine gute alte Karikatur, die Robert ihm geschickt hatte: Ein Mann saß am Klavier, kratzte sich den Kopf und starrte auf einen Zettel mit der Aufschrift: Press any key .
»Papa musste mir den Witz erklären«, sagte Amdi und schien darauf zu warten, dass ich lachte. »Das hier hat Robert mir auch geschickt.«
Er zeigte mir ein Video von einem Elch, der auf einen Mähroboter trat, und Amdi lachte so herzhaft, als sähe er das Filmchen zum ersten Mal. Aus Pflichtgefühl rang ich mir ebenfalls ein Schmunzeln ab.
»Wusstet du, dass er früher gehänselt wurde?«, fragte Amdi plötzlich.
Ich versuchte, das Thema wegzuwitzeln. »Der Elch?«
»Robert«, erwiderte Amdi ernst. »Weil er immer so komische Wörter sagt.«
»Ach was.«
»Doch, echt!« Er nickte eifrig. »Er hat geglaubt, dass ihn nie jemand gernhat.« Da lachte er plötzlich glockenhell. »Aber ich hab ihn ja gern. Und du auch.«
Ich antwortete nicht.
»Wenn er das nächste Mal hier ist, müssen wir Verstecken spielen!«
»Verstecken?« Ich blickte ihn verwundert an.
»Ja, klar! Wofür braucht man sonst so ein riesiges Haus? Robert hat schon Ja gesagt.«
Ich warf einen Blick auf die Uhr und spürte schon wieder diesen Kloß im Hals. Was jetzt? Amdis Eltern würden ihn erst in einer Stunde abholen. Aber Verstecken spielen?
Gegen das Verschwinden hatte ich nichts einzuwenden, allerdings wollte ich gar nicht gefunden werden.
»Du kannst das Haus ein bisschen schmücken«, sagte ich schnell und ging zu der Kiste mit dem Weihnachtsschmuck.
»Cool«, sagte Amdi und folgte mir.
Er lag immer noch obenauf, der Brief, den ich am Morgen zuvor gelesen hatte. Mit Papas altmodischen, verschnörkelten Buchstaben, in blauem Kuli. Ich wollte ihn beiseitelegen, damit Amdi einen Blick in die Kiste werfen konnte, in der allerhand Kram lag, Kobolde, Tannenzapfen, Engel … mir war schnurzpiepegal, wo der Junge den Krempel hinhängte, Hauptsache, Robert hatte nichts damit zu tun.
Doch als ich den Brief in die Hand nahm, fiel durchs Fenster ein letzter Sonnenstrahl, direkt auf das matte Papier, sodass man beinah hindurchsehen konnte. Dabei bemerkte ich, dass auf der Rückseite etwas geschrieben stand. Wenige Zeilen, eingeleitet mit zwei Großbuchstaben.
Während Amdi in die Kiste abtauchte, drehte ich den Brief um und las:
PS : Apropos Geheimnisse, Vilma …
Ich musste an dieses Kästchen denken, von dem ich Dir erzählt habe. Erinnerst du dich? Das Kästchen mit Marias Schätzen: Perlen, Glanzbilder mit Katzen- und Engelmotiven, die herzförmigen Steine, die ich ihr geschenkt hatte.
Ich glaube, ich habe noch nicht geschrieben, wo sie es versteckt hatte: unter einer losen Holzdiele in der Abseite in ihrem Zimmer, es gibt dort einen Hohlraum (es macht mich richtig glücklich, dass ich mich im Haus meiner Tochter so gut auskenne). Ob es immer noch dort liegt?
Ich wandte mich wieder Amdi zu.
»Aber zuallererst gehen wir auf Schatzsuche«, sagte ich und war bereits auf dem Weg in Richtung Treppe.
Mein Bett war ungemacht, auf dem Boden lagen Klamotten verstreut, aber das kümmerte Amdi nicht. »Hast du Abseite gesagt?«, fragte er und sah sich um.
In meinem Zimmer, das einmal Mamas Zimmer gewesen war.
Ich nickte und deutete auf die Wand, an der der Schreibtisch stand. Ohne eine Sekunde zu zögern, kroch Amdi in die kleine Kammer und konnte sich darin sogar aufrecht hinstellen.
»Hier ist ja gar nichts.« Er drehte sich um die eigene Achse.
Dann leuchteten seine Augen auf. »Darf ich mir hier ein Geheimquartier einrichten?«
Unter anderen Umständen hätte ich gelächelt. Aber jetzt sagte ich nur »Heute nicht« und kroch ebenfalls in die Abseite hinein. Es roch nach Holz und mindestens zehn Jahre altem Staub. »Erst müssen wir eine lose Diele finden.«
Gesagt, getan. Systematisch suchte Amdi die kleine Kammer ab, von Wand zu Wand, mit einem Eifer, wie ihn nur Kinder und Hunde aufbringen können. Behände kroch er auf allen vieren herum und fuhr mit den Fingernägeln jede einzelne Ritze entlang, als befände er sich mitten in einer spannenden Schatzsuche.
Und natürlich war es Amdi, der die lose Diele fand. Sie war breit, aber kaum länger als ein Lineal, und ließ sich leicht anheben, sie knarrte nicht einmal.
Dann saß Amdi auf staubigen Knien da und schaute stolz zu mir hoch.
Es war ein besonderer Moment. Ich glaube, das merkte sogar der Junge. Er machte keinerlei Anstalten, den Gegenstand herauszunehmen, der nur ein paar Zentimeter unter uns lag: eine kleine hölzerne Schatulle, bemalt mit verschnörkelten Rosen auf blauem Untergrund.
Kein einziges Staubkörnchen war zu sehen, als wäre sie erst gestern hier versteckt worden.
Langsam sank ich auf die Knie, und als ich die Schatulle herausnahm, zitterten meine Hände, aber nur ein bisschen.
»Oh, das sind ja Edelsteine!«
Amdi strahlte übers ganze Gesicht, als ich den Deckel abnahm. »Ein richtiger Schatz, Vilma! Darf ich?«
Mit geradezu rührender Vorsicht nahm er einen Stein heraus, er war grün und herzförmig. »Schau mal!«
Ich schaute auf den Stein, der vieles, aber gewiss nicht edel war, und auf die anderen wundersamen Schätze meiner Mutter. Hier lagen sie, die rauen, unförmigen Herzen, die mein Vater vor sechsunddreißig Jahren für sie gesammelt hatte. Aus Schiefer, Glimmer, Milch- und Rosenquarz. Dazwischen Plastikperlen und Papierchen, vermutlich die Glanzbilder.
Und ganz am Rand: eine kleine, merkwürdig verbogene Büroklammer.
Ich musste ein paar Mal schlucken. Dann nahm ich das komische Ding heraus. Es war winzig und kalt in meiner Hand, und es bedurfte einer ordentlichen Portion Fantasie, um ein Herz darin zu erkennen.
Aber das machte nichts.
Ich wusste ja, wer es geformt hatte. Und wer mit einem Kloß im Hals die Hand darum geschlossen hatte, so wie ich in diesem Moment.
»Wer hat die Steine gesammelt?«, wollte Amdi wissen.
»Mein Vater«, flüsterte ich.
»Den du backen wolltest?«
»Verbrennen«, korrigierte ich, »aber ja. Er hat sie meiner Mutter geschenkt.«
»Ist sie auch tot?«
Ich nickte.
»Darf ich mir die Steine genauer ansehen?«
Wir blieben eine Weile in der Abseite sitzen, und Amdi sortierte die Steine und Perlen auf kleine Haufen. Ich musste immer wieder schlucken und hatte das Gefühl, mich gleichzeitig im Jetzt und in der Vergangenheit zu befinden. Als gehörte ich weder hier- noch dorthin.
Dann wurde es still. Kein Klackern von Perlen und Steinen auf den Holzdielen.
»Was ist das?«
Amdi reichte mir die Schatulle. Sie war ganz leicht und roch nach Farbe und Kiefer. Aber da war noch ein anderer Geruch, den ich nicht sofort einordnen konnte. Dann bemerkte ich, dass die Schatulle noch nicht leer war.
Ein von Hand beschriebenes Blatt Papier lag darin, und mein Blick fiel auf die ersten zwei Wörter:
Lieber Vilhelm
Die Buchstaben waren verschnörkelt und dicht aneinandergedrängt, das V hatte links oben ein kleines Häkchen.
Ich schaute zu Amdi hoch, der sich aufgerappelt hatte und jetzt an einer Spinnwebe herumfingerte.
»Amdi«, sagte ich. »Ich glaube, den Brief muss ich allein lesen. Magst du … so lange ein bisschen Klavier spielen?«
Ich wartete, bis er im Wohnzimmer angekommen war und sich ans Klavier gesetzt hatte.
Dann, zu den Klängen von Schumann und Grieg, gespielt mit der Hingabe eines Neunjährigen, las ich den Brief aus der geheimen Schatulle meiner Mutter.
Asker, den 15. Juni 1988
Liebster Vilhelm,
Du warst bestimmt überrascht, als Du meinen Namen auf dem Umschlag gesehen hast. Und so seltsam es auch klingen mag, ich schreibe, weil ich nach London komme. Zu Dir. Ich habe einen Flug und ein Hotelzimmer gebucht, sag also bitte nicht Nein.
Natürlich habe ich nicht das Recht, etwas von Dir zu verlangen, das würde ich nie tun, Vilhelm. Aber – es geht hier um etwas, das größer ist als Du und ich. Deshalb hoffe ich, Du wirfst den Brief nicht gleich weg, auch wenn Du allen Grund hast, auf mich wütend zu sein.
Ich will versuchen, Dir alles zu erklären.
Ein paar Tage vor Deiner Abreise nach London wurde eine schwere Krankheit bei mir diagnostiziert. Eine Krankheit, die mein Nervensystem angreift und nach und nach jeden Muskel, bis ich irgendwann nicht mehr sprechen, gehen und, ja, nicht mehr atmen kann.
Man könne nichts dagegen tun, sagten die Ärzte.
Und niemand ist schuld daran, höchstens das Schicksal.
Ich kann nicht mal sagen, dass es ein Schock war. Mein Hausarzt und ich hegten schon einen Verdacht, bevor ich Dich kennenlernte.
Vilhelm: Jetzt weißt Du, warum ich anfangs so zögerlich war. Ich war mir nicht sicher, ob ich jemanden in mein Herz lassen oder diesem Jemand erlauben darf, mich in sein Herz zu lassen.
Aber dann sagtest Du, Dir sei Unwissenheit lieber. Erinnerst Du Dich? Dass es keinen Sinn mache, sich im Vorhinein zu ängstigen?
Wir saßen im Treppenhaus vor Deiner Wohnung, das werde ich nie vergessen. Ich war auf dem Weg zum Arzt, um endlich Gewissheit zu haben. Dass ich bei Dir klingelte, war rein impulsiv.
Du kennst mich, Vilhelm: Wenn’s drauf ankommt, folge ich meinen Gefühlen. Koste es, was es wolle.
Und noch nie war es so richtig gewesen wie in dieser Situation.
Denn nach unserer Unterhaltung ging ich nicht zum Arzt, auch nicht in den darauffolgenden Monaten. Was ich im Übrigen bis heute nicht bereut habe.
Nur dass ich diesen Bertram Bang erfinden musste (so ein dämlicher Name!), um Deinen Rat einzuholen … verzeih mir, Vilhelm, dass es nicht wenigstens ein Mädchenname war. Ich hoffe, ich habe Dich damit nicht verunsichert.
Denn natürlich gab es immer nur Dich. Damals auf der Treppe hast Du mich darin bestärkt, mich für die Hoffnung zu entscheiden, und mir damit den glücklichsten Sommer meines Lebens beschert – es klingt sicher naiv, aber so war es einfach. Und ich werde Dir dafür ewig dankbar sein, Vilhelm, das sollst Du wissen.
Warum ich trotzdem nichts gesagt habe? Nicht mal, als ich Gewissheit hatte?
Obwohl mir die Worte zuwider sind, schreibe ich sie nun nieder: Ich wollte nicht länger leben.
Es ist schrecklich, es so schwarz auf weiß zu sehen, aber damals war ich fest entschlossen: Ich wollte mich nicht von der Krankheit beherrschen lassen, niemandem eine Bürde sein. Nein, lieber wollte ich einen Schlussstrich ziehen – aus eigener Kraft.
Wie hätte ich Dich mit so etwas belasten können?
Es schien mir das Beste, Dich nicht einzuweihen, deshalb schrieb ich, wir könnten nicht mehr zusammen sein.
Ich war davon überzeugt, eine Trennung sei weniger schmerzhaft für Dich als ein Verlust.
Ich dachte, ich täte das Richtige.
Mir war ja klar, was Du sagen würdest (und vermutlich jetzt gerade denkst): Ich hätte Dir sofort alles erzählen müssen und dass Du bis zum bitteren Ende bei mir bleiben würdest. Dass wir diesen steinigen Weg gemeinsam bestreiten könnten.
Aber Vilhelm, mir graute vor diesem Weg.
Und Du? Ja, eigentlich hattest Du es selbst gesagt: Den Gedanken, dass ich vor Dir sterbe, könntest Du nicht ertragen.
Natürlich hattest Du es damals nicht so gemeint. Und trotzdem, Vilhelm, ich wollte Dir kein Leben mit einer Pflegebedürftigen zumuten. Mit einer Frau, die nur noch sterben wollte.
Und nenn es von mir aus Stolz, aber ich wollte, dass Du mich so in Erinnerung behältst, wie ich damals war. Dass Du Dich daran erinnern würdest, was wir zusammen hatten, Du und ich. Ja, genau das habe ich mir gewünscht: dass Du eines Tages voller Liebe an uns zurückdenkst.
Aber das war damals. Heute habe ich Angst, dass Du mich für eine Diebin hältst, die Dir etwas sehr Wertvolles genommen hat. Deshalb bin ich auf dem Weg zu Dir. Zu spät, aber besser als nie.
Es ist nämlich so, dass die Krankheit langsamer voranschreitet, als die Ärzte erwartet hatten. Daher kann ich nicht klagen. Natürlich fällt mir manches schwerer als früher, aber ich kann immer noch gehen. Und reisen. Noch habe ich die Gelegenheit, ein paar Dinge richtigzustellen, geradezubiegen.
Doch zuallererst muss ich Dir für Deine Beharrlichkeit danken. Dafür, dass Du nach meinem Brief nicht gleich aufgegeben, sondern weiterhin angerufen hast, obwohl ich Dich ausdrücklich darum gebeten hatte, Dich nicht mehr zu melden. Deine Beharrlichkeit war wichtiger, als wir beide ahnen konnten.
Oh, Vilhelm, was musst Du gedacht haben, als Tante Ruth damals ans Telefon ging?
Du verstehst wahrscheinlich, dass ich selbst nicht die Kraft dazu hatte. Deshalb hatte ich ihr erzählt, zwischen uns sei alles aus, und bat sie, Dir auszurichten, ich wolle nicht mit Dir sprechen.
Und sie folgte meinem Wunsch.
Aber darüber hinaus wusste sie nichts, noch nicht. Ich hatte Angst, sie könnte sich einmischen oder mich davon abhalten, mein Leben zu beenden.
Wenn Du wüsstest, wie sehr ich geweint habe, Vilhelm, heimlich, sobald das Telefon klingelte. Jedes Mal.
Weil Du nicht aufgegeben hast.
Und genau deshalb habe ich weitergemacht. Mit dem Leben. Ich wartete darauf, dass Du aufgibst. Ich wollte mir sicher sein, dass Du nicht eines Tages vor der Tür stehst und auf diese Weise erfährst, dass ich in den Fjord hinausgeschwommen bin, um nie wieder zurückzukehren.
Deshalb habe ich so lange durchgehalten, bis mein Leben (oder was davon übrig war) einen neuen Sinn bekommen hat. So lange, bis ich die allergrößte Entdeckung gemacht habe.
In den darauffolgenden Monaten, ja Jahren, habe ich nämlich einzig und allein für sie gelebt (es ist so lächerlich einfach, wenn einem die Zeit durch die Finger rinnt):
Vilhelm, Du hast eine Tochter. Wir haben eine Tochter. In ein paar Wochen wird sie vier, sie heißt Vilma.
Das war der schönste Name, der mir einfiel.
Oje, ich kann nicht aufhören zu weinen. Ein Glück, dass der Stift trotzdem weiterschreibt.
Und Du hast allen Grund zur Freude! Die Kleine ist lustig und sehr lieb, sie hat braune Zöpfe, Lachgrübchen und sie singt immerzu. Sie ahnt nicht, dass ich nicht mehr lange bei ihr bin.
Ob es wehtut, dass ich nicht miterleben werde, wie sie groß wird?
Ja, manchmal will ich sie einfach nur fest an mich drücken und nie wieder loslassen. Aber gleichzeitig sind wir Menschen so unglaublich anpassungsfähig, ich eingeschlossen. Außerdem (ist es nicht eigenartig?): Ich glaube, ich bin dankbarer als andere Mütter. Denn trotz der Umstände wiegen die hellen Momente schwerer als die dunklen, denn ja, auch für helle Momente blieb noch genug Zeit.
Und ich bin unendlich dankbar, dass ich überhaupt so etwas erleben durfte.
Ich hoffe, Dir wird es genauso gehen.
Auch wenn ich weiß, dass Du Dir etwas anderes gewünscht hast, Vilhelm. Du wolltest, dass wir frei bleiben und um die Welt reisen. Du wolltest keine Kinder, nicht in den nächsten zehn Jahren, das weiß ich noch.
Als ich von der Schwangerschaft erfuhr, war daher mein erster Gedanke: Könnte ich sterben und Dich zu einem alleinerziehenden Vater machen? Deine Träume zerstören? Ja, all das ging mir durch den Kopf; die Krankheit, der Tod – das kleine neue Leben.
Später, nachdem ich mich ein wenig gesammelt hatte, formte sich ein anderer Gedanke: Was, wenn Du eine andere gefunden und Dir ein neues Leben aufgebaut hattest – sollte ich mich aufdrängen, Dir weitere Probleme bereiten? Nach allem, was ich getan hatte, wie hätte ich so dreist sein können, Dein Leben erneut auf den Kopf zu stellen?
Das Schicksal – oder wem wir nun die Schuld geben wollen – macht es uns manchmal wirklich nicht leicht.
Zumal mir die Ärzte nicht viel Zeit gaben. Höchstens ein Jahr. Daher beschloss ich, die wenigen Monate, die mir blieben, einzig und allein dem Kind zu widmen, so gut es eben ging.
Trotzdem sollst Du wissen, dass ich nie vorhatte, Dich so lange im Unwissen zu lassen, wirklich nicht. Tante Ruth musste mir versprechen, nach meinem Tod mit Dir Kontakt aufzunehmen.
Aber jetzt lebe ich immer noch, vier Jahre später. Wie soll ich mein Schweigen rechtfertigen?
Damit, dass ich immer noch auf den Tod warte?
Ich weiß es ja selbst nicht, die vergangenen Jahre waren so überwältigend. Ich konnte kaum klar denken. Die Krankheit, das Kind. Tante Ruth, die mir riet zu warten.
Leider bist Du für sie immer noch derjenige, der mich hat sitzen lassen, obwohl ich ihr mindestens hundert Mal erklärt habe, dass es damals allein meine Entscheidung war.
Ich muss dazusagen, sie ist nicht mehr sie selbst seit meiner Diagnose. Mal verdrängt sie alles, als wäre ich gar nicht krank, und schon im nächsten Augenblick klammert sie sich an mich und hat Angst, mich zu verlieren und verlassen zu werden.
Deshalb höre ich nicht mehr auf sie, auch wenn das sicher herzlos klingt. Ich habe ihr nicht mal erzählt, dass Vilma und ich nach London fliegen werden. Noch nicht.
Im Moment sieht sie nur sich selbst, glaube ich. Sich selbst und ihren Schmerz.
Wobei ich selbst ja kaum besser war.
Deshalb: Verzeih mir, Vilhelm. Das ist alles, was ich sagen kann. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Du mir eines Tages für all die Jahre verzeihen kannst, die ihr verloren habt, Vilma und Du.
Ich hoffe und glaube nämlich, Du wirst sie mit offenen Armen empfangen, wenn wir uns sehen. Sie braucht einen Vater. Sie braucht Dich.
Und auch ich denke ständig an Dich, Vilhelm. Jeden Abend hole ich meine Schatzkiste hervor und wiege die kleinen herzförmigen Steine in der Hand.
Und ehrlich gesagt vergieße ich dabei auch die eine oder andere Träne. Vor allem, weil wir zusammen so etwas Schönes hatten.
Aber so spielt das Leben. So heißt es doch, nicht wahr?
Es ist schon spät. Deshalb lege ich den Brief in meine Schatzkiste, ehe ich ihn morgen früh zur Post bringe, ehe ich den Koffer packe und mich mit der kleinen Vilma auf den Weg mache. Nach London. Zu Dir.
Ich kann es kaum erwarten, Dich wiederzusehen, Vilhelm. Und falls es eine neue Frau an Deiner Seite gibt – bitte hab keine Angst, dass ich versuche, Dich zurückzugewinnen. Nur eins sollst Du wissen: Ich liebe Dich immer noch.
Deine Maria, für immer und ewig.
PS : Sie hat Deine Nase.
Wie in Trance ließ ich den Brief sinken, fühlte mich wie hinter einer Glaswand, außerhalb meiner Gefühle und meines Körpers, in einem zeitlosen Raum zwischen Damals und Heute, wo ich nur eins tun konnte: betrachten.
Den nie abgeschickten Brief, der hier in der Abseite neben mir lag. Die aufgehäufelten Perlen und Steine. Fremde Knie in einer karierten Pyjamahose. Der Atem einer anderen, der immer flacher wurde.
Und vor mir: die bemalte Schatulle, die immer noch nicht ganz leer war, wie ich jetzt sah. Alles passierte wie in Zeitlupe, als nähmen die Befehle meines Gehirns Umwege durch meinen Körper, bis mein Arm endlich gehorchte und sich nach den letzten zwei Blättern in Mamas geheimer Schatulle streckte.
»Reisedokumente« stand ganz oben. Fornebu – Heathrow, ein Erwachsener, ein Kind. Und dann das Abreisedatum: 22. Juni 1988.
Sechs Tage nach Mamas Tod.
Ich blieb eine Weile sitzen. Fuhr mit dem Daumen über das Papier. Über Mamas und meinen Namen. Spürte einen Kloß im Hals und ein Kribbeln im ganzen Körper.
Immer wieder strich ich über das Datum und die Wörter Arrival und Departure .
Über die Reise, die nie stattgefunden hatte.
Dann kamen die Tränen, die alles mit sich rissen, mein Zwerchfell löste sich von der Bauchdecke, mein Körper von meinen Gedanken. Ich konnte nicht aufhören zu weinen, während Amdi im Erdgeschoss Klavier spielte, hörte mich selbst laut und unkontrolliert schluchzen. Dann kam es mir vor, als krümmte sich mein gesamter Körper zusammen, als hätte ich vergessen, wie man Luft holt.
So wie damals hinter dem Fliederbusch. Ich war genauso einsam, genauso traurig, genauso verzweifelt.
Nur kannte ich jetzt die Wahrheit.
Dass meine Mutter ihren Vilhelm bis zum letzten Atemzug geliebt hatte, dass eine Krankheit die zwei auseinandergebracht hatte. Dass sie mir beide nur das Beste gewünscht hatten. Das Allerallerbeste.
Und dann, während mir die Tränen über die Wangen liefen, nahm ich den Brief und drückte ihn so fest an mich, als könnte mein Herz das Papier aufsaugen. So fest und verzweifelt, dass meine Kiefergelenke schmerzten.
»Mama«, schluchzte ich. »Papa.«
Obwohl es sinnlos war.
Obwohl sie mich nicht hören konnten.
Denn ich sah uns trotzdem vor mir, unsere kleine Familie, wie wir uns in die Arme fielen – endlich vereint, so, wie es sein sollte. In London. Mein Vater, der vielleicht ein paar Freudentränen verdrückte, nein, er weinte ganz bestimmt und nahm mich hoch, während ich ihn verwundert ansah. Meine Mutter, die endlich dort war, wo sie hingehörte.
Und ich sah mich selbst, Vilma, wie ich umarmt wurde.
Für einen Moment war dieses andere Leben zum Greifen nah gewesen.
Nach einer Weile konnte ich nicht einmal mehr denken und gab mich voll und ganz den Tränen hin. Bis sie irgendwann keine Kraft mehr hatten und ich mich fühlte wie damals als Kind – mein Atem ging stoßweise, ich schnappte krampfartig nach Luft.
Erst da merkte ich, dass Amdi zurückgekommen war, er berührte mich vorsichtig, wartete kurz und ging dann wieder nach unten.
Die Zeit geriet aus den Fugen.
Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist Robert. Auf einmal stand er in der Tür, mit seinen zerstrubbelten Haaren und dem karierten Hemd.
Er fragte mich nicht, ob alles in Ordnung sei. Es war nicht nötig.