Als Kind, ich muss etwa zehn gewesen sein, spielte ich bei einem meiner ersten Musikschulkonzerte Harald Sæveruds Rondo Amoroso . »Amoroso« bedeutet liebevoll und zärtlich, aber für mich hat das Stück auch immer etwas Wehmütiges gehabt. Und ich glaube, so habe ich es damals gespielt, zärtlich und wehmütig – tja, schon damals hatte ich wohl einen Hang zum Melancholischen.
An das Klavierspiel an sich kann ich mich kaum erinnern, dafür umso mehr an den Applaus. Es gab einen richtigen Beifallssturm, bei einem Musikschulkonzert – Standing Ovations. Ich musste sogar ein zweites Mal auf die Bühne.
»Wundervoll«, sagten die Leute anschließend zu Tante Ruth, »diese Hingabe.«
Das alles war so lange her. Und alles war so anders gewesen.
Zwar hatten auch damals die Stühle viel zu eng beieinandergestanden, aber damit hörten die Gemeinsamkeiten mit der heutigen Veranstaltung auch schon auf. Dem Weihnachtskonzert der Musikschule im Teppichladen. In fünf Minuten ging es los.
Wenn ich ganz ehrlich bin, war ich fast so angespannt, als müsste ich selbst auf die Bühne. Ich fühlte mich wie eine Sprinterin im Startblock, die jeden kleinsten Nerv, jede Muskelfaser im Zaum halten musste. Aber heute ging es nicht um mich, sondern um Amdi, ich selbst saß auf einem Plastikstuhl in der zweiten Reihe. Ringsumher türmten sich Teppiche, und von der Decke baumelte ein monströser aufblasbarer Schneemann.
»Toi, toi, toi«, sagte ich zu Amdi, der sich neben mir auf seinen Oberschenkeln warmspielte.
Natürlich verstand er nicht, was ich meinte.
»Das heißt ›viel Glück‹.«
»Ah, cool.«
Er lächelte, wandte sich um und winkte seinen Eltern, die ein Stück weiter hinten saßen; wie immer waren die vorderen Reihen für die Schüler- und Lehrerschaft reserviert.
»Meine Eltern filmen mich gleich«, erklärte er stolz.
»Toll.« Damit wären sie wohl nicht die Einzigen. Vor zehn Jahren hatte höchstens der eine oder andere Vater mit seiner Videokamera am Rand gestanden, aber heutzutage reckten alle ihre Smartphones in die Höhe wie Flaggen am Nationalfeiertag.
Als ich mich umblickte, entdeckte ich ein paar Stühle weiter Elton John. Bei dem Gedanken an seinen Auftritt meldete sich meine Nervosität prompt zurück, wenn auch aus anderen Gründen (tut mir leid, dass ich das so offen sage).
Ich nickte Amdi noch einmal aufmunternd zu. »Vergiss nicht, wenn du dich verspielst, ist das kein Weltuntergang. Okay?«
»Okay.« Er trommelte weiter auf seinen Oberschenkeln herum. Dann fragte er plötzlich: »Du, Vilma?«
»Ja?«
»Darf ich auch noch bei dir üben … wenn wir ein eigenes Klavier haben?«
Ich musste ein paarmal schlucken, ehe ich mühsam ein »Selbstverständlich« über die Lippen brachte. Ich glaube, meine Stimme rutschte sogar ins Falsett.
Seltsam, was dieses Kind immer wieder in mir auslöste.
Ich lächelte und wiederholte flüsternd: »Selbstverständlich.«
Im nächsten Moment schallte die Stimme unserer Rektorin laut und nasal von der Bühne herab, die aus mit Flickenteppichen abgedeckten Europaletten bestand.
»Ich begrüße Sie herzlich zu unserem diesjährigen Weihnachtskonzert!« Sie breitete die Arme aus und stieß dabei gegen einen Stapel Perserteppiche.
Aber das war noch nicht das Komischste an der Szene: Nein, Rigmor Andersen, so hieß unsere Rektorin, trug zur Feier des Tages nicht nur ein Weihnachtsmannkostüm, sondern auch einen Sombrero, um die Internationalität des Weihnachtsfests zu unterstreichen.
»Lassen Sie sich von uns auf eine Weltreise entführen – auf den weihnachtlichen Schwingen der Musik!«
Auf den weihnachtlichen Schwingen der Musik? Die alte Vilma hätte über so einen Ausdruck nur laut gelacht, aber in dem Moment war ich von einer liebevollen Nachsicht erfüllt.
Doch worin genau bestand die angekündigte Weltreise ? In dem vierhändigen Klavierstück, das unser argentinischer Kollege komponiert hatte? Oder in dem Didgeridoo, das Birger mitgeschleppt hatte? Und was die Kostümierung anbetraf: Nachdem Kåre gebeten worden war, seinen indianischen Kopfschmuck abzusetzen, versprühte nur noch der Fjällräven internationales Flair; sein Outfit bestand aus einem Cowboyhut und einer knarrenden Lederhose.
Na ja, sei’s drum. Die bis an die Zähne mit Smartphones und iPads bewaffneten Eltern und Großeltern klatschten gewohnt enthusiastisch Beifall.
Dann ging das Getöse los, theoretisch zumindest, denn wir konnten kaum etwas davon hören.
Die Kinder zupften herzallerliebst an ihren Gitarren herum, doch der Großteil des Charivaris wurde von den gut hundert Wollteppichen in allen erdenklichen Farben und Mustern verschluckt. Ich meinte, »Stille Nacht« herauszuhören, Amdi tippte auf »Santa Lucia«.
»Wunderbar«, flötete anschließend der Fjällräven und erklomm in seiner knarrenden Lederhose die Bühne, die Schulleitung hatte die Moderation offenbar unter sich aufgeteilt. »Und als Nächstes, verehrtes Publikum: ›Can You Feel the Love Tonight‹?«
Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl nach unten, so wie in Ivars Volvo vor ein paar Wochen. Denn jetzt nahm Elton John am Klavier Platz, und das versprach eine mindestens genauso unangenehme Erfahrung zu werden wie besagte Autofahrt. Angesichts des aufgestellten Flügeldeckels bestand zu allem Übel die realistische Gefahr, dass wir Elton Johns Darbietung tatsächlich hören würden.
Und wir hörten ihn. Aber, o Wunder: Die Melodie war vom ersten bis zum letzten Ton wiederzuerkennen. Nicht, dass die Luft vor Liebe vibrierte (streng genommen vibrierten hier drinnen ja kaum die Schallwellen), aber trotzdem: Als der Junge sich hastig und linkisch verbeugte, strahlte er so stolz, dass ich nicht umhinkam, noch lauter zu klatschen. Er war glücklich. Talentfrei, aber glücklich. Und das war auch nicht zu verachten.
Es war erstaunlich, wie sehr mich die Veranstaltung rührte. Mich, die Schülerkonzerte sonst todlangweilig fand und sich all die Jahre über dies und das aufgeregt hatte.
Zum Beispiel über die Kinder, die ihren pompösen Namen nicht gerecht werden, über all die Savannah-Desirées, die einen mit ihrer Version von »Ich kann Geige spielen« (was für ein Euphemismus!) quälen. Oder über diese Suzuki-Kinder, die sich ihren Geigenbogen meist nur wie ein Einhorn an die Stirn halten (angeblich hilft das gegen Nervosität!) und trotzdem Jubelstürme einheimsen, weil sie sozusagen gerade erst der Windel entschlüpft sind.
Aber heute? Zu meiner eigenen Verwunderung richtete sich meine Aufmerksamkeit auf völlig andere Dinge: die konzentrierten Blicke der Kinder, ihr flüchtiges Lächeln ins Publikum, die stolzen Gesichter hinter den in die Luft gereckten Handys. Nicht mal all die ungerechtfertigten Bravo-Rufe machten mir etwas aus.
Ja, ich ertrug sogar »What a wonderful World«, ohne im Stillen zu denken, wie unzutreffend das meistens war.
Ich applaudierte, und Amdi tat es mir nach.
»Du bist als Nächstes dran«, flüsterte ich ihm zu, während wir Hildurs Star-Schülerin lauschten, die zugegebenermaßen sehr schön spielte.
Dann merkte ich, wie mein Herz ein paar zusätzliche Schläge einlegte. In meinen dreizehn Jahren als Klavierlehrerin war das noch bei keinem einzigen Konzert vorgekommen. Denn jetzt betrat Amdi die Bühne, gelassen und selbstsicher, legte eine Hand auf den Flügel und machte eine tiefe Verbeugung, so, wie ich es ihm beigebracht hatte. Das Publikum klatschte, dann wurde es still.
Da saß er, mein Amdi, in Anzug und Fliege, seine Füße reichten nicht an die Pedale. Amdi, der Robert angerufen hatte, als ich in der Abseite in Tränen ausgebrochen war, der extrastarken Kakao gemacht und das Lebkuchenhaus mit Süßigkeiten verziert hatte – der Junge, der Türen öffnete und freiwillig Bach hörte.
Gelang es ihm, die Zuhörerinnen und Zuhörer zu verzaubern? Ich glaube schon. Denn plötzlich war sie zu spüren, diese ganze besondere Stille, die nur dann entsteht, wenn das Publikum aufrichtig berührt ist und mitfiebert, ja fast das Atmen vergisst.
Amdi spielte Schumanns »Erster Verlust«, dann den Walzer von Grieg. Als hätte er nie etwas anderes gemacht; jede Phrasierung saß, jede Klimax, jedes Ritardando. Schon wieder füllten sich meine Augen mit Tränen. Schon wieder spielte Amdi, als ginge es um sein Leben, um das, was uns Menschen ausmacht. Und die ganze Zeit lagen mir zwei kleine Wörter auf den Lippen: mein Junge.
Dann kam der Applaus. Standing Ovations, so, wie ich es vor über zwei Jahrzehnten selbst erlebt hatte. Ich drehte mich um und lächelte Mariam und Gebre zu, die stolz und auch ein wenig überrascht aussahen.
Amdi musste mehrmals zurück auf die Bühne, um sich zu verbeugen. Danach nahm er nassgeschwitzt neben mir Platz und strahlte so fröhlich wie an dem Tag, als er zum ersten Mal zu mir gekommen war, mit Notentasche und Schneeflocken im Haar.
Es war so lange her und gleichzeitig überhaupt nicht.
Ich wuschelte ihm durch die Locken, dachte an damals und jetzt und daran, dass Amdi später Pianist werden könnte, wenn er wollte.
Daran, dass sich die Welt immer weiterdreht. Ja, das tut sie wirklich.
Nach dem Konzert, als Berthas Lebkuchen, Pulverkaffee und der übliche Sirup serviert wurden, kam plötzlich der Fjällräven zwischen den Teppichen auf mich zu und räusperte sich.
»Du, Vilma … du, Vilma.«
»Du, Åge-Per … du, Åge-Per.«
Er holte tief Luft. »Also, ehrlich gesagt hatte ich eine Weile so meine Zweifel, was deine Methoden angeht. Aber das eben?« Er streckte mir die Hand entgegen. »Super gemacht, gratuliere!«
Nun ja, streng genommen sagte er »Fuper gemacht«, aber sei’s drum. Ich ergriff seine Hand und schüttelte sie freundlich. Da bekam ich doch tatsächlich ein Lob von dem Mann, der mir am liebsten das Metronom weggenommen hätte. Als wollte er etwas wiedergutmachen, und ich wusste nicht mal, ob ich das verdient hatte.
Ich musterte ihn von Kopf bis Fuß, vom Cowboyhut bis zur knarrenden Lederhose, und wollte erst sagen, dass Amdi eben außergewöhnlich begabt sei, dass jeder das Gleiche aus ihm herausgekitzelt hätte. Aber ich sagte etwas völlig anderes.
Denn im selben Moment überkam mich wieder dieses, wie soll ich sagen, neue Wohlwollen gegenüber der Welt. Gegenüber Menschen, Pflanzen und Tieren, ja fast eine Art Verbundenheit mit allem, was lebte, vom Blumenkohl bis zur Schnecke.
Gleichzeitig wurde mir klar, dass ich nie wieder Quizfragen stellen würde, deren Antworten »Ibsen«, »Sommernachtstraum« oder »Sargassosee« lauteten. Denn plötzlich wünschte ich diesem Kerl mit den Fahrradhosen und Ballonreifen nur das Beste. Ob er nun einen Helm trug oder nicht.
»Gleichfalls. Tolles Konzert«, sagte ich.
Er wirkte verblüfft, lächelte aber.
Seine Reaktion gefiel mir, und ich wollte noch mehr sagen, es konnte ja ruhig ein bisschen geflunkert sein.
»Schicke Hose übrigens«, fügte ich hinzu und reckte einen Daumen.
Als ich Amdi nach mir rufen hörte, drehte ich mich um.
»Willst du sehen, wie ich mir acht Lebkuchen auf einmal in den Mund stecke?« Er stand neben der Keksdose und hüpfte fast vor Aufregung.
Natürlich konnte ich nicht Nein sagen. Warum auch?
Mit der gleichen Hingabe, mit der er Grieg und Schumann spielte, stopfte Amdi sich einen Lebkuchen nach dem anderen in den Mund, bis seine Backen sich derart aufgebläht hatten, dass ich im Geiste prophylaktisch den Heimlich-Handgriff durchging.
Nachdem ich Amdi versichert hatte, dass ich auf keinen Fall mit ihm konkurrieren konnte, trank er stolz einen Schluck Sirup und fragte schließlich:
»Magst du Heiligabend zu uns kommen?«
Ich blinzelte. Heiligabend? Ich war so überrascht, dass ich schon wieder schlucken musste.
Dann begriff ich, was hier vor sich ging: Der Junge wollte mir eine Freude machen. Dass er das Herz am rechten Fleck hatte, war mir ja von Anfang an klar gewesen. Allerdings war ich mir ebenso sicher, dass er hier auf eigene Faust operierte. Verstohlen schielte ich zu seinen Eltern hinüber, die sich gerade mit jemandem unterhielten.
Da ich weder ein Ja noch ein Nein über die Lippen brachte, sagte ich nur: »Du hast ganz toll gespielt, Amdi. Herzlichen Glückwunsch!«
Aber der Junge ließ nicht locker.
»Du kannst das Lebkuchenhaus mitbringen«, sagte er und trank den letzten Schluck aus seinem Glas.
Aha, daher wehte der Wind. Der Ärmste wartete sehnsüchtig auf das Lebkuchenhaus, während die unförmige Leckerei in meiner Küche nur Staub fing.
»Das Lebkuchenhaus kriegst du auch so«, sagte ich lächelnd. »Keine Sorge.«
Ein bisschen würde ich es vermissen, dachte ich, dieses zuckrig-infantile Ungetüm.
»Okay«, sagte Amdi kopfschüttelnd. »Aber nur, dass du’s weißt, Robert kommt auch.«
Sofort wurden meine Wangen warm. Natürlich war das ein schöner Gedanke. Mehr als das sogar. »Robert will doch sicher seine Familie besuchen. Im Ausland.«
Hatte Robert nicht erzählt, seine Schwestern seien nach England und Australien ausgewandert? Bestimmt würde er dort die Weihnachtstage verbringen.
Amdi schüttelte triumphierend den Kopf.
»Will er nicht«, sagte er.
»Doch«, widersprach ich.
»Will er nicht.« Er lächelte mich verschmitzt an. »Soll ich dir was verraten, Vilma?«
»Was denn?«
»Robert hat Flugangst.«
Auf dem Heimweg fiel es mir plötzlich auf: Ich sang vor mich hin, und es klang weder schön noch schrecklich. »Singing in the Rain«, im Takt mit meinen Schritten.
Eigentlich hätte es schneien sollen, aber das tat es nicht. Also sang ich im Regen, obwohl wir bald Weihnachten hatten.
Wann ich das letzte Mal gesungen hatte? Ich wusste es nicht.