Am Tag vor Heiligabend nahm ich den letzten Brief meines Vaters aus dem Körbchen auf dem Sekretär. Die Engel lächelten mir sanft zu, und das rote Spankörbchen war an den Rändern verstaubt.
Ja, ich hatte mich von meinem Vater verabschiedet, als ich ihn zum zweiten Mal in meinem Leben gesehen hatte. Und damit auch das letzte Mal. Wobei, der weißhaarige Mann mit den schlanken Händen in dem sterilen Raum … nein, das war nicht mein Vater gewesen, nicht so ganz.
Mein Vater war ein junger, frischverliebter, verzweifelter und quicklebendiger Mann – später etwas älter und vielleicht trotz allem glücklich. In den Briefen, in der Geschichte, die er mir hinterlassen hatte.
Er hatte auf der Fähre geflirtet, herzförmige Steine gesammelt und vergeblich in der Londoner Wohnung auf Mama gewartet. Und er hatte vor Freude geweint, als er von seiner Tochter erfuhr.
Die Geschichte meines Vaters. Der schönste Adventskalender, den ich je hatte.
Der wahre Abschied stand mir erst bevor. Jetzt, in der Abenddämmerung, das letzte Kapitel.
Aber zuerst legte ich den Brief noch einmal auf den Sekretär und beschloss Teelichter und ein paar lange weiße Kerzen anzuzünden. In den Kerzenhaltern am Klavier, auf der Kommode und auf dem glänzenden Sofatisch, ja sogar auf den Fensterbänken und im Kamin.
Dann löschte ich das Deckenlicht und betrachtete die glimmernden Lichter in der Dunkelheit.
Einen Moment lang blieb ich vor dem Sekretär stehen, andächtig, wie vor einem letzten Salut. Vorsichtig nahm ich den Brief, hielt ihn kurz an meine Wange und dachte daran, dass mein Vater ihn auch einmal in den Händen gehalten hatte. Dann hatte er das Kuvert zugeklebt und seine Geschichte zu einem Ende gebracht. Und währenddessen hatte er an mich gedacht – vor Kurzem erst, es war lediglich ein paar Wochen her.
Jetzt stand ich hier und hielt denselben Brief in der Hand, wie um das Gewicht seiner Worte ein letztes Mal zu spüren.
Es war ein seltsames Gefühl. Denn plötzlich kam es mir vor, als könnte ich das Gewicht tatsächlich spüren. Bildete ich es mir nur ein, oder war der Brief schwerer als die anderen? Dann fiel mir auf, dass der Umschlag an einer Ecke leicht ausgebeult war.
Ich riss ihn auf, griff vorsichtig hinein – und wusste augenblicklich, was meine Fingerspitzen berührten.
Ein warmes Gefühl durchströmte mich. Das Gefühl, mit jemandem verwandt, ein Nachkomme zu sein, einen Platz in einer Linie zu haben. Zwischen Zeige- und Mittelfinger fischte ich eine Kette mit einem kleinen Anhänger aus dem Umschlag: ein goldenes Herz mit einer winzigen Perle.
Ich legte die Kette auf meine Handfläche, strich mit dem Zeigefinger darüber und drehte den Anhänger um.
»Dein V« stand auf der Rückseite.
Natürlich. Genauso hatte Papa es in den Briefen geschrieben.
Ich musste lächeln: Mamas Vilhelm, der Einzige, mit dem sie je hatte zusammen sein wollen. Und jetzt war er auch mein V.
V wie Vater, mein Vater.
Und vielleicht, schoss es mir durch den Kopf, stand das V auf eine wundersame Weise ja auch für Veränderung.
Schließlich setzte ich mich hin und legte mir die Kette um. Und als ich den letzten Brief aus dem Umschlag zog, dachte ich: Genauso war es auch als Kind gewesen. Beim Adventskalender kam das Beste immer zum Schluss.
London, den 9. November 2019
Liebe Vilma,
das meiste ist wohl mittlerweile gesagt. Die eigene Geschichte niederzuschreiben, ist keine schlechte Herausforderung. Aber ich frage mich jetzt, da ich mir die Briefe noch einmal durchgelesen habe: Wieso komme ich immer wieder auf den Sternenhimmel zurück? Auf die Voyager-Raumsonden und ihren Weg in die Unendlichkeit?
Ich glaube, es geht um die Reise – die Lebensreise, wenn man so will.
Nicht, dass ich vorhätte, in naher Zukunft ins Gras zu beißen, aber im Alter schwirren einem solche Gedanken zwangsläufig im Kopf herum. Und sollte es so sein, dass Du mich nicht persönlich treffen willst – so möchte ich doch gern ein paar Gedanken mit Dir teilen, solange ich noch die Möglichkeit dazu habe.
Denn wie ist es? Kommen wir am Ende an, oder geht unsere Reise immer weiter?
Tja, leider hat Dein alter Vater keine Antwort in petto. Aber eins steht fest: Die Atome, aus denen ich in diesem Augenblick bestehe, werden auch nach meinem Tod weiterleben. In einer Pflanze, vielleicht in einem Grashalm (insgeheim hoffe ich aber auf ein Buschwindröschen). Und wenn ich hier auf Erden ein paar gute Dinge vollbracht habe, werden sie hoffentlich einem anderen Menschen Nutzen bringen, der sie dann ebenfalls weitertragen kann.
Denn darum geht es, Vilma, um eine Fortsetzung – darum, dass wir etwas hinterlassen, was weiterlebt. Etwas Schönes, das noch mehr Schönheit hervorbringt, und so weiter.
Denk nur an alles Vergangene und Tote, das uns permanent entgegenleuchtet. Und damit meine ich nicht nur die vor Millionen Jahren erloschenen Sterne am Himmel, sondern vor allem auch die Sterne auf unserer winzigen Erde; die großen Komponisten zum Beispiel, die tagtäglich zum Leben erwachen, wenn ihre Werke gespielt werden.
Dass wir all das erleben dürfen, dafür sollten wir dankbar sein.
Wenn ich so darüber nachdenke: Ich hatte ein schönes Leben, das hoffentlich noch ein paar weitere Überraschungen für mich bereithält. Und mit welchem Recht könnten wir klagen, wir, die wir zu diesem Zeitpunkt der Geschichte leben?
Die Generationen vor uns mussten so viel Elend ertragen und sind oft jung gestorben. Mozart wurde nur fünfunddreißig, Schubert einunddreißig.
Doch obwohl sie so wenig Zeit hier auf Erden hatten, erstrahlt ihr Licht noch heute.
Bei der Gelegenheit muss ich an einen Münchner Kollegen denken, der vor vielen Jahren seine zwei Kinder durch einen Autounfall verlor. Einmal haben wir uns über die Tragödie unterhalten, und da meinte er, trotz allem habe er zu einer Art Seelenfrieden gefunden.
»Ob kurz oder lang«, meinte er, »das Wichtigste ist, dass sie hier waren. Dass sie dieses Wunder erlebt haben. Dass sie auf der Erde leben, durchs Gras laufen und schöne Musik hören durften.«
Ich bin hier, Vilma. Und ich wurde geliebt.
Ich hatte die Musik, und ich möchte glauben, dass ich mit meinem Instrument ein kleines bisschen Schönheit in die Welt gebracht habe.
Denn all das Schöne, das wir Menschen erschaffen, ist uns doch ein Trost, wenn die Welt gerade düster erscheint. Denk nur an all die Bilder, die mit der Voyager-Raumsonde ins Weltall reisen. An die Geräusche, die Musik.
Darin, Vilma – zeigen wir Menschen uns von unserer besten Seite.
Aber das größte Geschenk, welches das Leben mir gemacht hat – und das auf meine alten Tage –, bist Du, Vilma. Du bist ein Teil von Maria und mir, und ich kann mein Glück noch immer kaum fassen.
Für den Fall, dass wir uns nicht persönlich begegnen: Darf ich alter sentimentaler Mann Dir einen letzten Rat mit auf den Weg geben?
Versprich mir, dass Du Deine Zeit hier auf Erden nutzt, dass Du durchs Gras läufst, singst, liebst und schöne Musik hörst. Dass Du Dich nicht fürchtest. Nein, öffne die Tür, zünde Kerzen an, und begegnet Dir die Liebe, dann halte sie fest.
Ja, liebste Vilma: Mach die Welt schöner, nur ein klitzekleines bisschen. Auf Deine ganz eigene Weise.
Ich legte den Brief beiseite, holte den Laptop, und während er hochfuhr, kuschelte ich mich in die grüne Wolldecke.
Dann rief ich die Homepage der NASA auf, klickte mich auf die Seiten über die Voyager-Sonden und die Golden Records, auf denen auch die derzeitige Distanz zur Erde angezeigt wurde.
Und ich begann zu lesen. Im Dämmerlicht, umgeben von den immer noch brennenden Kerzen.
»To the makers of music – all worlds, all times .«
So lautete das eingravierte Grußwort auf den Golden Records, die in Richtung Ewigkeit sausten, damit sie vielleicht eines Tages von intelligenten, außerirdischen Lebensformen gefunden würden.
Vermutlich würden die Aliens nur Bahnhof verstehen, und trotzdem war der Spruch irgendwie schön, auch wenn er nicht alles wiedergab, was auf den Platten abgespeichert war. Bilder, Geräusche, Musik – unterwegs im kosmischen Meer, so, wie Papa es geschrieben hatte.
Als Erstes hörte ich mir die Grußbotschaften in fünfundfünfzig Sprachen an, Stimmen von Frauen und Männern von allen Kontinenten dieser Welt.
Danach kamen die Geräusche. Donner, Wind und Regen gingen sanft und harmonisch in Froschquaken und das Zirpen von Tausenden Grillen über.
Dann: Fußschritte, Herzschläge, Autos, Züge. Eine Mutter, die ihr greinendes Kind tröstet.
Das Ganze mutete wie eine Art Präsentation an. Das Thema: Das sind wir. Das ist die Erde. Ein Resümee der Geschichte unseres Planeten. Alles, worauf wir stolz sind und was wir erschaffen haben, auf diesem kleinen, zerbrechlichen, in der Milchstraße rotierenden Wunder.
Es war wundervoll. Ja, auch die Bilder: Pulsarkarten mit der genauen Position der Erde, lächelnde Kinder, die rund um einen Globus standen. Strohhüte, Röntgenaufnahmen, Geigen, Notenblätter, eine Mutter, die ihr Baby stillt.
Die Erde und wir, in Bildern, Geräuschen und Musik – Momentaufnahmen, ein bisschen wie die Flaschenpost mit dem Foto meiner Eltern. Wie Lichtstrahlen, die von einem scheinbar vergänglichen Moment aus in die Unendlichkeit reisen.
Unterm Strich muss ich trotzdem sagen, dass mich die Musik am meisten faszinierte. Wahrscheinlich ist das in meinem Fall genetisch vorprogrammiert.
Melodien und Rhythmen aus allen Winkeln der Welt, dieser unbändige Wille, etwas zu erschaffen, Zugehörigkeit zu empfinden, andere zu berühren und berührt zu werden. Mozart, ein indischer Raga, »Johnny B. Goode«. Peruanische Hochzeitsmusik und senegalelische Trommeln. Musik aus Konzertsälen und von Reisfeldern, Melodien rund um Lagerfeuer und Weihnachtsbäume.
So schön. So leidenschaftlich.
Stimmte es womöglich doch, dass alles andere in Vergessenheit geraten würde? Dass nach uns nur das Gute bestehen bleiben und auf lange Sicht überleben würde?
Vielleicht könnte ich ja doch daran glauben. Oder wenigstens darauf hoffen – dass die Welt trotz allem schön war.
Ich blieb lange so sitzen. Das Brandenburgische Konzert hob ich mir bis zum Schluss auf. Als ich mich dann zurücklehnte und der Musik lauschte, brannten immer noch ein paar Kerzen. Für meinen Vater, der in München im Orchester gesessen und das Leben und die Liebe noch vor sich gehabt hatte. Meinen Vater, der weiterlebte, in der Musik, die er so sehr geliebt hatte.
Ja, genauso fühlte, besser gesagt hörte , es sich an: Die Musiker und der Dirigent hatten ihre ganze Seele in dieses Bach-Stück gelegt, und jetzt drang ihre Leidenschaft aus den Lautsprechern an mein Ohr.
Als spielten sie jetzt, in diesem Moment. Alles schien so lebendig. Jeder einzelne Ton.
Und auch mein Vater, Vilhelm. Es war, als bräuchte ich nur den Arm auszustrecken, um ihn zu berühren.
Keine Ahnung, wie lange ich so dasaß und versuchte, seine Bratsche aus dem Klangmeer herauszuhören. Und dass es mir nicht gelang, war nicht weiter schlimm. Im Gegenteil, es war wundervoll, wie die einzelnen Stimmen miteinander verschmolzen, zu einer gemeinsamen Botschaft, an uns und andere. Die Botschaft, dass wir eines Tages etwas Schönes hinterlassen werden, das dort draußen weiterlebt, noch lange nachdem die Erde und wir, ihre Bewohner, fort sind.
Ein Beginn und ein Ende. Alles auf einmal.
Ich klappte den Laptop zu. Drehte den Brief um und las die allerletzten Zeilen, die Papa geschrieben hatte:
Und last but not least, liebste Tochter: Sei Deinen Mitmenschen freundlich gesinnt. Auf die Größe des Universums gerechnet, sind wir doch nur so wenige. Wir sind unendlich kostbar, jeder Einzelne von uns.
Vater
Dann passierte es einfach. Ich spielte Edvard Griegs »Dank«.
Die Kerzen flackerten, und durchs Fenster fiel das Licht der Straßenlaternen. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass ich mich ans Klavier gesetzt hatte.
Keine Ahnung, wie schön und ausdrucksstark es klang.
Ich weiß nur, dass es sich anfühlte, als ergäbe plötzlich alles einen Sinn. Als wäre meine Seele wieder vollständig, als würde eine Kraft durch mich hindurchströmen, bis in meine Finger und ins Instrument.
Ich kann es nicht erklären. Es braucht auch keine Erklärung.
Musik lässt sich nicht erklären.
In den folgenden Stunden saß ich am Klavier und spielte alle Stücke, an die ich mich erinnerte. Bach und Brahms, ein Impromptu von Schubert.
Grieg, Haydn, einen Walzer von Chopin.
Für Papa, für Mama und für alles, was einmal gewesen war.
Und nicht zuletzt: für alles, was noch kommen würde.