6.

Der Wecker klingelte und tötete all ihre Nerven, die noch nicht aufnahmebereit waren. Als Agnes Schabowski sich nach dem Schränkchen drehte, auf dem der Wecker Signal gab, war eine Barriere. Die Decke bildete eine Wulst, über die sie den Arm heben musste. Sie hatte in dem breiten Bett nicht allein gelegen. Natürlich hatte es sie in diesen Ausmaßen gekauft, weil sie genau das beabsichtigt hatte: Mit dem Partner an der Seite aufwachen. Das jedoch war sehr selten geschehen, und wenn lag der Partner nur einen Morgen neben ihr. Die Hoffnung starb zuletzt, doch hatte die Kommissarin kaum welche, je einen Mann zu finden, der es mit ihr aushielt, vor allem, den sie an ihrer Seite duldete. Das waren nicht viele, und die in Betracht kamen, waren verheiratet, schwul oder zu dominant.

Auch unter der zusammengeruschelten Decke lag keiner. Aber es hatte Emile Fraconard dort gelegen. Sie sah noch immer die schwarzen Locken, die über den Bettbezug lugten. Das Inlett musste sie gestern Abend noch aus dem Wäschefach holen. Es lag in der Truhe, auf der ihre Tontechnik stand. Monatelang hatte sie sich vorgenommen, diesen behelfsmäßigen Aufbau zu ändern, doch nie die Initiative ergriffen. Das zusätzliche Bettzeug war bereits Jahre in dieser Truhe verwahrt, ohne dass sie jemals Bedarf danach hatte. CD-Player und Disc-Recorder waren in steter Benutzung. Sie hatte es bei diesem Status belassen, stets in der Hoffnung, dass er zerstört würde. Gestern nun musste sie vor den Augen Emile Fraconards ihre Bude umräumen. Das war ihr peinlich, noch mehr, als der Lover sein Bett selber bezog und die Tontechnik wieder zurück an ihren Platz räumte. Vor dem Einschlafen hatte Schabowski sinniert, ob das nicht ein Zeichen für die Dauer der Beziehung sein konnte. Emile hatte offensichtlich nicht die Absicht, das Inlett sehr schnell wieder in der Truhe zu verwahren. Dass diese Aufgabe über kurz oder lang ihr obliegen würde, verdrängte Agnes Schabowski. Der Lover hatte ihr Bett in aller Heimlichkeit längst verlassen. Sie wusste nicht wann. Agnes Schabowski war zufrieden, geschafft und glücklich eingeschlafen. Der Morgen danach war ätzend. Das Klingeln des Weckers – ein schrecklicher Laut, der ihr ihre Einsamkeit ins Bewusstsein hämmerte.

Emile Fraconard war ein Phantom. Der sehr gegenwärtige Hainar Krumpholz hatte sie aus dieser unsäglichen Schmittschen Festveranstaltung geleitet. Er hatte ihr ins Ohr geflüstert und gefragt: Müssen Sie aus dienstlichen Gründen länger hier verweilen? Schabowski hatte ob dieser Direktheit mit dem Kopf geschüttelt. Und Hainar hatte sie einfach untergehakt und sie zum Ausgang des Präsidiums geschoben. Sie konnte noch darauf bestehen, ihre persönlichen Sachen aus dem Büro zu holen. Dann fand sich Schabowski auf der Straße wieder. Laufen oder bist du mit Auto? Sie hatte stumm auf ihren Autostellplatz gewiesen, Hainar hatte sie gefahren und vor Leipzigs höchstem Dach gestoppt. Sie waren delikat speisen gewesen. Der Blick über die beleuchtete Stadt war beeindruckend, doch Schabowski hatte mehr in Hainars Gesicht zu lesen versucht und war Analphabetin geblieben. Bis er ihr Bett bezogen hatte. Das war jetzt eine Leerstelle. Nichts Neues und zum Heulen. Schabowski versuchte zu lächeln.

Mit einem Schlag war der Wecker verstummt, und Schabowski schwang sich trotz ihrer Verlassenheit gut gelaunt aus dem Bett. Die Nacht war himmlisch gewesen. Sie hatte nicht mehr daran geglaubt, je Emile Fraconard wieder zu begegnen. Hainar Krumpholz hatte Potenz und Charakter, den Franzosen aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Schabowski pfiff bei der Morgentoilette. Auf die Dusche verzichtete sie, sie hoffte so, Hainars Geruch nicht zu verlieren. Auf dem Küchentisch fand sie eine auf den Rand der Zeitung geschriebene Notiz: Wann wiederholen wir diese Nacht? Sofort, wenn du willst, dachte Schabowski. Ich habe nicht geträumt, sagte sie sich, Hainer und sein Bleiben wird Wirklichkeit. Dann streifte ihr Blick unabsichtlich die Uhr an der Wand. Um Gottes willen, gleich zehn! Sie hatte verschlafen. Aber warum hatte Hainar ihr den Wecker verstellt?

Das Telefon riss Schabowski aus ihren Gedanken. Der Schmitt würde sie im Büro vermissen. Oder der Michalk verlangte seine tägliche Aufgabenstellung. Zu eigenem Denken schien der Lackaffe nicht fähig. Leicht wütend, klemmte sich Schabowski den Hörer unter das Ohr und nuschelte: „Noch daheim, mir geht es nicht ...“

„Gut geschlafen?“ Emile!

„Wunderbar.“

„Du hast so rührend ausgesehen, als ich dich verlassen musste, dass ich dachte, du sollst dich ausschlafen dürfen.“

„Dafür war deine Nacht kurz.“ Schabowski hätte beinah Liebling gesagt, konnte aber noch ihre Lippen verschließen. Ihre Mutter hätte ihr wie immer den Rat gegeben: Mädchen, nicht gleich immer alles und sofort. Aber die Kommissarin musste an eine Zukunft denken, in der Hainar eine gewichtige Rolle spielte. Nach einer Nacht! Ihre Mutter hatte natürlich recht.

Hainar sprach weiter und ahnte nichts von ihren wirren Gedanken. „Prozesse lassen sich nicht am Morgen des angesetzten Termins verschieben.“

„Und was sage ich meinem Chef?“

„Der Herr Kriminaldirektor wird heute Morgen mit seinem Kater kämpfen.“

Kurze Pause, dann sie wieder intim. „Wann bist du gegangen? Ich hab’ dich vermisst.“

„Ab fünf habe ich frei.“

Eigenartige Antwort, aber Schabowski hatte richtig vermutet: Auch Hainar wollte eine Zukunft. Mit ihr.

„Am Abend bin ich zu Hause. Du weißt, wo ich wohne.“

„Ich freue mich.“

„Na, ich erst.“

Damit hatte Hainar Krumpholz aufgelegt. Schabowski kam nicht dazu, sich seine Nummer vom Display zu notieren. Sie würde ihn heute Abend wiedersehen! Bis dahin würde sie sich jeden Gedanken an diesen Mann verkneifen. Unmöglich, ihre Gedanken schlugen Purzelbäume. Sie müsste das Inlett nie wieder in die blöde Truhe stopfen. Die Breite ihres Bettes war auch in dieser Nacht vonnöten wie in allen Nächten, die noch kommen. Sie würde einkaufen gehen und ein Abendmahl zaubern. Sie würde Sekt kalt stellen und Bier und Wein und Spirituosen kaufen und Pralinen und Snacks und Mundwasser, dass sie im Badschränkchen verstecken würde. Er sollte sich wohlfühlen, der Lover, und sie niemals, niemals, niemals wieder verlassen. Wenn sie die Texte gekannt hätte, hätte sie dämliche Schlager gesungen. So pfiff Agnes Schabowski bekannte Melodien.

Blieb der verschlafene Arbeitsbeginn. Bastian Michalk würde sie fragen, warum und wieso sie zu spät auf Arbeit erschien. Der Kollege schien ihr wie eine Stechuhr die Minuten anzurechnen, die sie als Chefin auf Arbeit verbrachte. Der und sein Kumpel Dominic Bleicher, das waren die rechten Führungskräfte. Denen sprang die Karrieregeilheit aus allen maßgeschneiderten Anzügen, aus jedem Lächeln, aus jedem Satz. Schabowski änderte abrupt ihre Pläne und würde nicht ins Büro fahren und Michalk Auskunft geben. Sie würde nochmals Gerlind Hopstocks Familie aufsuchen, auch wenn sie deren Aussagen auswendig kannte. Sie würde die Tochter der Verschwundenen in ihrer Angst trösten. Sie würde noch mal das Zimmer der Vermissten betreten und in allen Schüben und Fächern und Taschen nach nichts suchen. Und dem Michalk würde sie sagen, er solle besser zuhören, wenn sie die Aufgaben verteilte. Sie habe ihren Besuch bei den Hinterbliebenen lange genug angekündigt.

Schabowski meldete bei Familie Fischer ihren Besuch nicht an. Beate Fischer war berentet und bezog das Geld der Stufe eins für die Pflege ihrer dementen Mutter. Gatte Toralf saß seit drei Monaten seine Altersteilzeit ab. Die Fischers würden daheim sein, denn Beate vermochte es nicht, das Haus zu verlassen. Sie hatte stets Hoffnung, ihre Mutter käme zurück. Diese Hoffnung hatte Schabowski nicht, aber sie dauerte diese Familie, die litt, unsagbar litt. Vor allem Beate. Irgendein Punkt würde kommen, an dem sie ansetzen konnten und und die Mutter wiederfinden würden. Irgendwann. Tot oder lebendig. Für alles andere hatten die Fischers kein Verständnis. Der Fall muss geklärt werden! Dafür trug Schabowski die Verantwortung als Leiterin der Mord eins.

Die Straße nach Wiederitzsch war verstopft. Ein Lkw war an eines der vielen Straßenbahnhäuschen gefahren und hatte sich quer gelegt. Die Verkehrspolizei verwies die ankommenden Fahrzeuge auf Nebenstraßen, die Schabowski nicht kannte. Jeden anderen Tag hätte sie wüst in Stadtplänen geblättert und gesucht, wo sie sich befand, und diese Stadt, ihre Bewohner und die unübersichtlichen Straßen verflucht. Heute ließ sich Schabowski treiben. Die Sonne schien. Der Frühling sprengte die Knospen. Recht spät in diesem Jahr. Oder hatte sie den Winter verpasst? Der Kommissarin gerieten die Gedanken erneut auf Abwege, in denen Emile Fraconard am Strand winkte und ihr Fruits de Mer bezahlte. Hainar Krumpholz stand aufgeregt vor ihr und bat sie immer wieder, seinen Freund und Geschäftspartner zu finden, ihr wichtigster Prozess war anberaumt worden. Schabowski wusste nicht, welches Urteil damals gefallen war. Sie würde Hainar danach fragen. Aber eigentlich interessierte es nicht.

Das Haus der Fischers machte auch von außen einen traurigen Eindruck. Der Garten schien ungepflegt, obwohl die Blumen blühten. Eine Bank stand verlassen in der bunten Pracht. Gerlind Hopstock hatte dort ihr Gesicht gern in die Sonne gehalten, hatte Beate Fischer erzählt. Und Oma hatte bis zu ihrem Verschwinden noch im Garten gehäckelt, gekehrt und gerecht. Jetzt lagen auf den kleinen Wegen schrumplige Blätter. In den Beeten waren Maulwurfshügel zu sehen. Auf der Wäschespinne vergilbte ein alter Lappen.

Schabowski drückte die Klingel. Beate Fischer musste hinter der Tür gestanden haben, so schnell wie sie öffnete. Ihr Lächeln erstarb, als Schabowski mit dem Kopf schütteln musste. Beate Fischer trat zur Seite und ließ die Kommissarin schweigend ins Haus.

Schabowski kannte den Weg zur Küche. Inmitten von Gewürzen und Töpfen schien Beate Fischer unbelasteter als in den anderen Zimmern. Im Büro der Kriminalpolizei war die Zeugin zu eigenem Sprechen kaum fähig, in der vertrauten Umgebung kam sie ins Erzählen. Schabowski hatte genau zugehört, aber nie einen Ansatz für die Suche gefunden. Auf dem Herd köchelte eine Pfanne. Es roch nach Braten, obwohl es noch nicht Mittagszeit war. Schabowski nahm auf der verschlissenen Eckbank Platz.

„Einen Kaffee?“

Beate Fischer hatte die Frage noch gar nicht gestellt, da hatte sie bereits die Kanne unters Wasser gehalten und zählte Esslöffel Pulver in die Maschine.

„Ja, gern“, sagte Schabowski. Sie hatte zu Hause weder gefrühstückt noch Kaffee getrunken. Schon stellte Beate Fischer einen Kuchen aus der Assiette vor sie hin. Er war krümelig und schien, mehrere Tage an der Luft gestanden zu haben.

„Oma hat gut gebacken. Die kannte Rezepte, kann ich Ihnen sagen ...“

Aus Pietät und Hunger legte sich Schabowski ein Stück auf den gereichten Teller, wobei es zerbröselte. Beate Fischer setzte sich auf den äußersten Rand eines Stuhles und verhakelte ihre Finger.

„Auch bei den Kindern hat sich Oma nicht gemeldet.“

Gerlind Hopstocks Enkel wohnten in Wittmund, Weil der Stadt und Boston, USA. Dass Oma mit ihrem verlorenen Kurzzeitgedächtnis dorthin gelangt war, schien eine fixe Idee Beate Fischers, von der sie nicht abließ. Unwahrscheinlich, dass die Verschwundene überhaupt wusste, dass sie Enkel besaß. Noch unwahrscheinlicher, dass sie wusste, wo die wohnten. Gemeinhin erinnerten sich Demente an Kindheit und Schule und erste Liebe, nicht an die Ereignisse, die in den letzten Jahren geschehen waren. Schabowski blieb die Hoffnung, dass sie von persönlicher Pflege verschont blieb, sowohl was ihre Eltern, als auch sie selber betraf. Sohn Paul bedurfte, schwer behindert, steter Aufmerksamkeit. Das Heim leistete mehr, als sie als Mutter jemals bereit war zu geben. Sie verdrängte diese unliebsamen Gedanken und dachte, wenn schon nicht der Liebe, so doch an den kommenden Sex mit Hainar Krumpholz heute Abend.

„Wann verschwand Ihre Mutter?“ Schabowski mochte weder Frage noch Antworten hören. Zigmal hatte Beate Fischer ihr Auskunft gegeben. Die Kommissarin hatte diese zigmal in Protokolle und Berichte getippt. Und jetzt saß sie hier in der Küche und gab der verzweifelten Tochter Hoffnung, weil sie sich am Morgen nicht auf Arbeit getraut hatte, weil sie Angst vor diesem Lackaffen Bastian Michalk hatte, weil ihr der Job als Chefin über den Kopf wuchs, weil dieser Fall nicht zu klären war.

Beate Fischer stutzte nicht bei Schabowskis Fragen, sie tat alles, um ihre Mutter wiederzufinden. „Es war ein Dienstag. Ich gehe alle vier Wochen zum Frisör und bitte meinem Mann, für diese Zeit, auf Oma zu achten. Aber Toralf war mit seinem Freund unterwegs, sie bauen Schiffsmodelle und waren zu einem Wettkampf gefahren. Meine Mutter schlief, als ich ging. Waschen und Spitzen schneiden, keine halbe Stunde hat das gedauert. Ich war bestellt. Aufs Föhnen hab ich verzichtet. Färben habe ich schon 95 aufgegeben.“ Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr halblanges Haar. „Das Grau gehört zu meinem Leben dazu. Was die sich heute in die Haare schmieren, davon halte ich nichts.“ Beate Fischer schüttelte den Kopf, fasste sich an die Schläfen, als ob sie damit den Sitz der Frisur kontrollieren wollte. Dann gurgelte die Maschine. Beate Fischer goss den Kaffee in Tassen. Der roch stark. Schabowski sammelte Kuchenkrümel von ihrem Teller und aß. „Ich wollte ja gar nicht zum Haaremachen. Aber die Blicke meines Mannes, ein einziger Vorwurf. Du kannst dich nicht so gehen lassen, sagt er immer zu mir. Ich verstehe ihn ja, ich bin kaum für ihn da. Vier Jahre geht das nun mit der Pflege. Ich bin am Ende. Aber meinen Mann lass ich’s nicht spüren.“

Schabowski überlegte, ob sie Fruits de Mer kaufen sollte, aber so würde sie Hainar mit Emile gleichsetzen. Beide Männer waren nicht zu vergleichen. Einer verlor. Schabowski wusste nicht, welcher. Beate Fischer sprach weiter. Sie rieb sich die Augen. Sie fühlte sich schuldig. Ob Schabowski Austern irgendwo auftreiben konnte?

„Als ich wieder daheim war, lag Oma nicht mehr im Bett. Ich habe sofort gesucht, gerufen, telefoniert. Seitdem ist meine Mutter verschwunden. Wäre ich nicht zum Frisör gegangen ... Mein Mann hat gar nichts gesagt, als er heimkam. Beim Wettkampf hatten die beiden verloren. Als er wieder zu Haus war, ist er sofort auf sein Zimmer gegangen und hat an seinen Modellen gebastelt. Wahrscheinlich ist Toralf sogar froh, wenn ihm Oma nicht mehr den Nerv raubt.“

„Wo wohnte Ihre Mutter, bevor sie bei Ihnen einzog?“ Auch das Wiederholung. Lößnig, Neubaugebiet, Zwickauer Straße. Alle Möglichkeiten haben sie dort abgesucht: Moritzhof und Silbersee, Schulen, Heime, den Park nach Probstheida, selbst auf dem Südfriedhof hatten Polizisten hinter die Büsche geschaut. Nichts. Keine Spur von Gerlind Hopstock.

„Sie wissen’s ja, Lößnig.“

„Und vor der Wohnung in Lößnig? Dort haben wir in fast jeden Winkel gesehen. Vielleicht hat sie die Zeit noch früher verwechselt. Wo wohnte sie als junge Frau?“

„Ich bin in der Südvorstadt geboren. Dreimal sind wir dort umgezogen. Steinstraße. Kantstraße. Arndtstraße. Bernhard-Göringstraße 114. Als ich auszog, hat Oma die kleine Wohnung in Lößnig genommen. Nah am Grünen. Mit der Straßenbahn gut erreichbar, schnell in der Stadt. Nach dem Kriege war sie in Markranstädt einquartiert. Sie kam ja aus Breslau, hatte ihre Familie verloren, Kriegsflüchtling. Ist nicht leicht gewesen, Sächsin zu werden, sagt sie noch heute. Hat ihren Dialekt auch nie ablegen können. Schlesisch spricht gar keiner mehr, oder?“ Beate Fischer schaute der Kommissarin direkt in die Augen. Schabowski nickte und wusste nicht warum. „Nach der Wende ist Oma oft in ihrer Heimat gewesen und hat uns alle die Orte gezeigt, wo sie gespielt hat.“

„In Polen wird Ihre Mutter nicht sein.“

„Wie auch. Sie würde den Bahnhof in Leipzig nicht finden und der ist der größte Europas. Autofahren hat Oma nie gelernt. Fliegen Flugzeuge von hier nach Breslau?“ Beate Fischer lächelte, empfand ihre Sätze vielleicht als Scherz in aussichtsloser Situation. Galgenhumor. Schabowski schüttelte ihren Kopf. Eine surreale Situation, wenn nicht Kaffee und Kuchenkrümel wären. Beate Fischer schob diese zusammen, beleckte ihren Finger und ditschte sie auf. Dann schrak sie zusammen. An der Haustüre wurde geschlossen. Toralf Fischer stand im Rahmen. Knapp sechzig, immer noch muskulös, das T-Shirt ausgeleiert und verwaschen, modische Jogginghosen in grellen Farben, Jesuslatschen.

„Die Erdbeeren fünf Euro das Pfund. Ich werde 17 Uhr noch mal gehen. Dann verkaufen sie alles zum Spottpreis. Wahrscheinllich haben sie mit Goldstaub gedüngt.“ Erst jetzt schien er, Schabowski wahrzunehmen. „Guten Tag, Frau Kommissarin. Was Neues?“

„Leider nein.“

„Was wollen Sie denn noch von uns erfahren? Wir haben doch alles gesagt und alles beschrieben bis hin zum Schlüpfer. Sie muss die halblangen grünen angehabt haben.“

Toralf Fischer klang verbittert. Einen Ehealltag hatte er seit vier Jahren nicht mehr, und auf dem Markt kosteten die Erdbeeren pro Pfund fünf Euro.

„Sie hat uns nicht geschrieben und auch kein Bild gemalt. Die nahm einen Bleistift und hat in ihrem Zimmer die ganzen Tapeten beschmiert. Und die Windeln haben gestunken, als hätten wir sechs Neugeborene im Haus. Und ständig ist die hinter einem her und hat so geschnalzt mit der Zunge. Ein ekelhaftes Geräusch.“ Und Toralf Fischer zog lautstark die Luft durch die Mundwinkel. „Tagein, tagaus. Wir hätten sie in ein Heim geben sollen, da hätte sie nicht davonlaufen können.“

„Ich kann ja Oma nicht anbinden!“

„Sag ich auch nicht. Aber du hast seit vier Jahren keine Minute Ruhe gehabt.“

„Ihr Tod ist keine Alternative. Nur weil sie uns in unserem Leben stört!“

„Aber wir hätten uns Hilfe holen können. Guck dich an, du siehst aus, als hättest du wochenlang nicht geschlafen.“

„Ich habe morgen Termin beim Frisör.“

„Ich lieb dich auch so, meine Kleine.“ Damit legte Toralf Fischer den Arm um seine Frau und gab ihr einen schüchternen Kuss an die Wange. Jetzt lächelte seine Frau wirklich. Schizophrene Situation.

„Wenn ich dich nicht hätte, mein Großer.“ Beate Fischer schaute am Gatten nach oben. Der gab ihr einen Kuss.

Agnes Schabowski fühlte sich ob dieser Intimität seltsam berührt. „Wenn ich noch mal in das Zimmer Ihrer Mutter schauen dürfte ...“

„Da hat jetzt Toralf seine Werkstatt.“ Beate Fischer fühlte sich schon wieder schuldig.

„Seit fast einem halben Jahr haben wir auf den Raum verzichtet. Und wenn Oma wiederkommt, dann bestimmt nicht zu uns.“

„Toralf!“

„Dieses Affentheater mache ich nicht noch mal mit!“

„Ich bitte dich, Toralf! So vor den Leuten.“ Beate Fischer fiel der Kopf auf die Brust. Die Hände vor den Augen, sah es aus, als müsse sie weinen. Jetzt war der Kommissarin die Situation peinlich.

„Wenn ich noch mal auf ihre Sachen schaun könnte?“

„Klar!“

Toralf Fischer machte kehrt. Das schien für Schabowski eine Aufforderung, ihm zu folgen. Der Gatte öffnete die Kellertür und wies nach unten.

„Dort die fünf Säcke.“