Er sah ihn vor sich, und er konnte ihn schmecken: Benjamin Wolters Schwanz. Er schien ihm in der Erinnerung bei Länge und Umfang überdurchschnittlich. Die Spitze der Eichel schloss und öffnete sich im Rhythmus des Pulses wie ein Fischmaul. Auf, zu. Auf, zu. Ein kleiner Tropfen zog einen Faden. Mit seinem Finger fing ihn Merghentin auf. Mensch, was haben wir zusammen gefickt!
Der Zeuge war nicht nackt, sondern stand im schmucken Anzug vor dem Kommissar und lächelte. Merghentin starrte ihm auf die Hosen. Ja, er hatte mit Benjamin Wolter gefickt. Ausdauernd und zu Beginn der Affäre mehrmals am Tag. Soweit den Kommissar die Erinnerung nicht trog, war Wolter sein erstes, Monate dauerndes Verhältnis in Leipzig gewesen. Wolter wohnte damals außerhalb der inneren City noch bei Mutti. Deswegen verbrachten sie die meiste gemeinsame Zeit und das Ficken in Merghentins Bude. Das war damals in der Südvorstadt gewesen, glaubte er sich zu erinnern. Er hatte zum ersten Mal Seidenbettwäsche bezogen. Merghentin wusste nicht mehr, warum ihre Beziehung auseinandergegangen war. Sicherlich hatte er Kilian kennengelernt. Obwohl der ja erst beim CSD seine Wege gekreuzt hatte. Das war vor sieben, acht, drei Jahren? Merghentin verlief sich in seinen Gedanken, während Benjamin Wolter das Lächeln gefror, wahrscheinlich hatten ihn Zweifel befallen, ob er die richtige Wortwahl einem Beamten gegenüber getroffen hatte. Mensch, was haben wir zusammen gefickt!
„Ja.“ Merghentin versuchte mit Würde, die peinliche Situation zu überspielen. Doch leicht gelang ihm dies nicht. Die Erinnerungen machten das schwer. Zum anderen sah der Bursche auch heute noch attraktiv aus. Und zwischen seinen toten Beinen regte sich Lust, und er saß im Büro eines Beamten, wo sich solche Gedanken verboten. „Wie geht es dir denn?“
„Ach, weißte, Mutti“, und Merghentin hatte Angst, dass Benjamin sein ganzes einsames Leben vor ihm ausbreiten würde. Während ihrer Beziehung hatte er sich nie von Mutti gelöst. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum er sich von ihm getrennt hatte. „Sie ist jetzt auf Kur, aber was musste ich reden, dass sie ...“ Und Wolter machte eine verzweifelte Geste. „Bis zum Landrat ist der Fall hochgespielt worden. Und der ist gnadenlos. Mit Erzwingungshaft hat er Mutti gedroht.“
„Die Leiche im Zwenkauer See ist deine Mutter!“
„Aber nicht doch!“ Benjamin Wolter war ehrlich erschrocken. „Mutti sitzt in Bad Kösen und inhaliert oder schwimmt oder schläft, vermute ich mal. Die Gute hat mit der Leiche gar nichts zu tun. Die Leine von ihrem Hund war zu kurz. Sie hatte ihn im Garten angeleint, weißte, dass das Hundchen nicht auf die Straße hinausläuft. Vier Meter statt sechs, hat die Leine gemessen. Der Tierschutz hat sie angezeigt. Den Prozess hat meine Mutti verloren. Vor dem Gesetz sind alle gleich. Von wegen! Urteil: fünfzig Euro Strafe. Aber die will Mutti nicht zahlen. Ich unterstütze sie dabei. Dem Tier geht’s bei ihr sehr gut. Besser kann’s einem Hund gar nicht gehen. Kommt noch so weit, dass wir vor der Bürokratie kapitulieren! Aber die droht mit Haft! Ich meine, meine Mutter ist fünfundsiebzig.“
All diese Fakten schienen Kommissar Merghentin nicht zum Fall zu gehören. „Du hast die Leiche gefunden?“
„Ja, weil ich mit der Mandy aus war. Sie muss ja mal raus, immer im Garten, das ist auch für einen Hund wie Gefängnis.“ Der Kommissar konnte den Worten des Zeugen noch immer nicht folgen und fragte sich, ob sie in gemeinsamen Zeiten auch so aneinander vorbeigequatscht hatten.
„Du hast eine Freundin?“
„Nein, ich bin so schwul wie vor zehn Jahren.“
Was! Zehn Jahre kannten sie sich. Das konnte nicht stimmen. Merghentin rechnete und fand sich nicht so alt, dass er Benjamin Wolter in seine frühe Jugend einordnen konnte. Vor zehn Jahren, da war er noch gar nicht in Leipzig gewesen. Da saß er auf der Schulbank und paukte Deliktgruppen, Verhörstrategien, soziale Determinanten bei Straffälligkeit. Zeit war vergangen, aber nicht so viel, dass sich Merghentin verrechnen musste.
„Wie bist du denn auf die Leiche gestoßen?“
„Mandy, das ist Muttis Hund, das Corpus Delicti, wenn man so will ...“ Unmotiviert kicherte Benjamin Wolter. Merghentin stellte sich auf eine problematische Protokollführung ein. „Also ab und an fahre ich mit dem Hund aus. Und jetzt, wo Mutti zur Kur ist, trage ich für ihren Schatz sowieso die Verantwortung. Also sind wir zum See, mal schauen, wie und ob sich da was getan hat. Bei manchen Projekten fragt man sich ja, ob jemand überhaupt wusste, was er da plante. Durch den City-Tunnel sollten doch auch schon die Züge vor drei Jahren, ... vier? Naja ... In Zwenkau in den Tagebau läuft’s Wasser, zusehen kann man da, wie es steigt. Wird ein toller Badestrand, würd’ ich behaupten, besser als Kulkwitz und Cospuden zusammen.“
„Aber auch weiter weg.“
„Ja. Aber mit Auto ein Katzensprung. Ich bin ja lieber zu den Autobahnseen, weißte, Naunhof, wo wir uns kennengelernt haben.“
Merghentin erinnerte sich. Er war damals nicht zufällig an dieses Ufer gekommen, aber zufällig hatte er sein Badetuch neben Benjamin Wolter gelegt. Sie waren ins Gespräch geraten, und später hatte er ihn mit nach Hause genommen. Fall geklärt. Mensch, was haben wir zusammen gefickt!
„Wie ist denn das mit dem Rollstuhl passiert. Ist ja schrecklich.“ Eine verlegene Pause. „Ich meine, wenn du nicht drüber sprechen willst, vollkommen okay, vollkommen okay, Grischa, ist das. Ich habe da vollstes Verständnis.“ Wolter hob seine Hände, als hätte er ein unzüchtiges Angebot von ihm bekommen. Wenn dem so wäre, würde sich Merghentin eine andere Reaktion erhoffen.
„Dumm gelaufen. Aber dafür ist jetzt nicht die Zeit.“ Er hatte keine Lust vom Schwulenstrich und dem Fall zu erzählen, zumal er nicht wirklich wusste, was er da tat oder wollte. Er wachte auf, zerstochen, gelähmt. Den Mörder hatten sie vorher schon dingfest gemacht. Der ihm das angetan hatte, war nie gefasst worden. Scheiße! Sein Leben war von Minute an ein andres geworden.
„Ich hab’ heute frei und war mit der Mandy schon draußen.“
„Benjamin, wir müssen ein Protokoll aufnehmen. Du bist Zeuge bei einem Verbrechen. Das mit dem Rollstuhl gehört nicht zur Sache ...“
„Okay, du musst nicht, wenn du nicht willst. Ich weiß, wie schwer unangenehme Wahrheiten fallen.“
„Benjamin, ich habe kein Problem, mit dir über den Rollstuhl zu reden, aber nicht jetzt und nicht hier. Du hast eine Leiche gefunden.“ Merghentin wendete sich seinem Computer zu. Der Bildschirmschoner gab das Bild von Eike Proksch wieder frei. Vermisst seit 27. Januar. Personenbeschreibung: 1,78 m, schlank, aschblonde Haare, Augenfarbe ...
„Ist das der Junge?“
„Wir wissen es nicht.“ Der Kommissar klickte sich zu den Protokollformularen und legte eine neue Datei an. „So, Benjamin, wie ist’s nun gewesen ...“
„Ich habe einen Schwarm Krähen in dieser Einöde gesehen. Schön ist’s ja dort wirklich noch nicht. Gras, tote Bäume, Dreck, Müll. Die Vögel hackten auf irgendwas rum. Und aus reiner Neugier bin ich da hin und habe diese Leiche gefunden.“
„Wo?“
„Wenn ich das wüsste. Zeigen kann ich dir’s ganz genau, das ist von der Zschocherschen gradeaus, Knauthain, weißte, noch weiter. Also, wenn ich dich fahre, find ich es wieder. Ganz sicher.“
Merghentin wusste, dass mit dieser Vernehmungsstrategie nicht mehr als drei Sätze zu Protokoll zu nehmen wären, die ihren Ermittlungen nützten. Die konnte er aus dem Gedächtnis verfassen. Die Unterschrift des Zeugen würde er auch noch später erhalten. Ein Satz hatte sich in seinem Gehirn verhakt: Wenn ich dich fahre ... Egal, was der Kohlund sagte. Merghentin würde ihm beweisen, wozu er fähig war. Schnell schrieb er für den Leiter der Mordkommission zwei eine Mail als Arbeitsnachweis und hing die Vermisstenakte des Eike Proksch an. Die gespeicherte DNA-Analyse des Verschwundenen sendete Merghentin an Professor Jaenicke, Universität Leipzig, Gerichtsmedizin. Sollten sie dort die Analysedaten vergleichen. Mit etwas Glück konnte der unbekannte Tote auf diesem Wege identifiziert werden. Die zu Eike Proksch ermittelten Fakten widersprachen nicht denen des Leichenfundes: männlich, jung, vier Monate Liegezeit oder länger. Jetzt war die Recherche im Haus und am Computer an anderen, nicht mehr an Grischa Merghentin.
„Auf geht’s!“
Merghentin rollte seinen Stuhl unterm Tisch vor, der Kaffee schwappte dabei zum dritten Mal über. Benjamin Wolter hielt ihm die Tür.
„Ich fahre, du lotst.“