Sie hatte auf den hintersten Stühlen im Wintergarten Platz genommen. Glasscheiben trennten diesen Esstisch von Raucherinsel und Freisitz. Draußen vor den Fenstern bemühten sich die Platanen um Laub. Noch standen sie kahl. Allerdings hatten erste Sonnensuchende bereits auf den Stühlen im Freien Platz genommen. Bedienungen fragten nach den Wünschen und brachten Bierhumpen und Speiseteller. Er glaubte, den Qualm der fetten Zigarre zu riechen, die ein Mann im glänzenden Zwirn im Rauchereck schmauchte. Dessen Begleiterin ließ glucksendes Kichern vernehmen.
Kohlund schritt immer weiter aus, als ob er so Alexias Nachricht schneller erführe. Er hatte sich das Hirn zermartert und Jaenickes Ausführungen zur Todesursache des Jungen kaum folgen können. Möglich ist alles. Allein der Fundort der Leiche lässt auf Fremdbeteiligung schließen. Ihre Aufgabe, Monsieur. Dann hatte der Professor maliziös gelächelt, und Kohlund hatte den Sektionssaal verlassen. Die Blicke der Studenten waren ihm dabei wie einer Geistererscheinung gefolgt. In der Cafeteria hatte der Professor nichts anderes gesagt, nur geräuschvoll am Plastebecher genippt, als würde ihm dieses Gesöff schmecken. Über Jaenickes genaue Analyse konnte sich der Kommissar im später nachzureichenden Protokoll informieren. So viel war jedoch schon jetzt klar: Indizien bestätigten weder eine natürliche noch eine unnatürliche Todesursache. Vielleicht ein Selbstmord. Vielleicht ein Unfall. Vielleicht ein vom Himmel gefallener Engel. Kohlund hatte kein Gehirnareal frei, das sich mit dem Schicksal des jungen Toten vom Sektionstisch beschäftigen konnte. Seine Ehefrau hatte ihn um einen Treffen gebeten, sofort, wenn es möglich war, sofort. Alexia war beim Arzt gewesen. Scheiß Diagnosen beherrschten Kohlunds Gedanken: Krebs, Herzschwäche, Muskelschwund? Jetzt lief der Kommissar auf seine wartende Frau zu, und Alexia blickte ihm entgegen und lächelte sanft. Es war wie im Film. Manchmal liefen Paare aneinander vorbei.
Hier trafen sie sich. Alexia stand auf und streckte ihrem Gatten beide Hände entgegen. Die waren leer. Der Ring glänzte am Finger. Die Scheidung hatte sie offensichtlich nicht beantragt. Auch zeugte ihr Gesichtsausdruck nicht von einer üblen Katastrophe oder tödlichen Krankheit. Kein Abschiedsgeschenk. Keine Blumen. Keine Mappe auf dem Tisch. Auf den ersten Blick, alles alltäglich. Es war Kohlund ein Rätsel, was Alexia von ihm wollte. Sie lächelte noch immer, mehr für sich als ihn an.
„Grüß dich.“
„Was ist denn so dringend, dass ich deinetwegen alles stehen und liegen lassen muss?“
„Mir zuliebe würdest du deine Zeit nicht opfern?“
„Alexia, bitte, das ist doch Firlefanz, und unsere Flitterwochen sind über zwanzig Jahre schon her.“
„Vielleicht sollten wir uns mehr umeinander kümmern, jetzt, wo die Kinder fast aus dem Haus sind.“
„Tun wir das nicht?“
„Eigentlich weiß ich nicht, was dich wirklich bewegt. Allein wie du mich jetzt anguckst. Vielleicht habe ich dich niemals gekannt.“
„Alexia, bitte!“ Kohlund hatte keinen Bock auf ein Gespräch über die Zukunft und ihr gemeinsames Leben. Er machte sich darüber keine Gedanken oder er schob sie weit von sich. So wie es war, war es gut. Wir leben in der besten aller möglichen Welten. Wahrscheinlich erwartete Alexia jetzt von ihm ein Liebesgeständnis, das er nicht bereit war, ihr auf Befehl zu geben. „Wenn du neue Herausforderungen suchst, ich habe nichts dagegen. Schließe dich einer Gymnastikgruppe an. Oder besuche ein Seminar in Kräuterkunde. Carpe diem. Bin sehr dafür, wenn Frauen sich selbst kennenlernen wollen. Die Kollegin Schabowski belegt gerade eine Kurs Pilates, wenn du möchtest, frage ich sie, ob du an ihm noch teilnehmen kannst.“
Sehr versonnen sagte Alexia: „Ich brauche dich. Mehr denn je.“
Wie sie ihn anlächelte, musste Kohlund seiner Frau einen Kuss geben. „Was wäre ich ohne dich.“ Und sie setzten sich beide.
Ein dunkler Kellner trat an ihren Tisch. Kohlund glaubte auf seinem Namensschild Lofoten zu lesen und wunderte sich. Alexia hatte wahrscheinlich schon in die Karte gesehen: „Einen Allasch, bitte, eiskalt.“
„Allasch servieren wir immer vom Eise gekühlt. Da entfaltet er erst seine Wirkung.“
Kohlund war erschüttert: Allasch tranken Lokalpatrioten und sensible Touristen. Kohlund zählte sich weder zur einen noch zur anderen Kategorie. Der Schnaps galt in der Stadt als Spezialität, die man nur vor Ort anbot. Außerdem war es Mittwoch Mittag. Er war berufstätig, sah um diese Zeit keinen Anlass für einen Allasch gegeben. Hatte er den Hochzeitstag vergessen? Er erinnerte sich, dass sie Ende Juli geheiratet hatten. Er hatte im feinen Anzug geschwitzt, sodass er sich selbst roch. Er konnte sich nicht erinnern, ob er sich damals Spray unter die Achseln gesprüht hatte. Gab es denn das damals schon? Jetzt gingen seine Kinder eigene Wege, und seine Frau brauchte ihn mehr denn je. Midlifecrisis. Einen Allasch, bitte, eiskalt.
„Für mich ein Gezapftes.“
„Einen Allasch und ein Bier“, wiederholte Lofoten, „sehr wohl.“
„Ich brauche den Schnaps, um wieder denken zu können“, flüsterte Alexia und ihrem Gatten ins Ohr. Kohlund graute vor ihren weiteren Worten.
„Sonst noch Wünsche, die Dame, der Herr?“
„Danke. Nein.“
Lofoten verbeugte sich und verschwand. Kohlund war sauer. „Was soll denn das? Ich habe eine unbekannte Leiche, und du willst mit mir mittags schon saufen.“
„Ich habe es jetzt erfahren, und ich muss es dir jetzt sagen. Und ich habe mich dagegen entschieden. Egal, was du sagst.“
Kohlund konnte die Andeutungen seiner Frau nicht entschlüsseln. Alexia blickte zu dem fetten Raucher hinter der Scheibe. Dessen Begleiterin ließ ein weiteres sehr schrilles Kichern ertönen. Kohlund strich seiner Frau sanft über die zitternden Finger. Dann blickte er sich um, als wäre ihm die intime Geste plötzlich sehr peinlich. Aber es waren nur wenige Gäste im Raum. „Was ist’s denn, dass du so ein Geheimnis draus machst?“
„Wenn du jetzt schon so drauf bist, habe ich noch mehr Angst, wie du reagierst.“
Alexia sprach in Rätseln, die er nicht gewillt war zu lösen. „Also nun mach, ich habe nicht ewig Zeit. Willst du allein in den Urlaub? Willst du umziehen? Ich sage dir gleich, den Stadtteil Grünau verlasse ich nicht.“
„Vielleicht liebe ich einen anderen Mann?“, stellte sie die Gegenfrage.
„Ich bitte dich, Alexia, das hättest du nie vor mir verheimlichen können.“
„Doch.“
Damit hatte Alexia recht. Der Kommissar hatte in seiner Arbeit von genug solchen intimen Geheimnissen erfahren, die selbst Ehepartner sich einander nicht anvertrauten. In Folge wuchs sich ihr Schweigen zu Katastrophen aus. Verheimlichte Lover, verheimlichte Kinder, verheimlichte Gelder, unausgesprochene Wut.
„Du willst mich verlassen?“
„Nein.“
„Du bist krank.“
„Kann ich so nicht sagen. Eher gesund.“
Lofoten kam und platzierte vor Kohlund das Bierglas. Bei der Positionierung des Allaschs zögerte er. Alexia nahm ihre Hände vom Tisch. Lofoten stellte das Schnapsglas vor sie hin. Dessen Ränder waren von der Kälte beschlagen. „Wohl bekomm’s!“ Dann war der Kellner wieder verschwunden.
Alexia schob den Allasch auf dem Tisch hin und her. Dann kühlte sie ihre Hände am Glas. „Ich lasse es wegmachen. Ich kann nicht noch einmal. Den ganzen Stress ...“ Plötzlich sah Alexia ihm direkt in die Augen.
Ihr Gatte hatte noch immer kein Wort verstanden. „Wie bitte?“
„Ich bin schwanger.“
„Das ist unmöglich. Du bist Mitte vierzig, ich über fünfzig!“
„Ich will’s auch nicht haben.“
„Schwanger?“
Alexia nickte. „Ich habe es selbst nicht glauben können. Achte Woche. Ich habe den Arzttermin schon. Viel Zeit bleibt nicht mehr.“
„Abtreibung?“ Er klang schüttert.
Sie nickte wieder, ihre Hände wärmten den Allasch. Sie blickte zum Raucher und dessen kicherndem Fräulein. „Ich will kein Kind mehr in meinem Alter. Die Windeln. Das Schreien. Die Angst bei Schule und Job.“
Er ergriff ihre Hände und schwieg.
Sie sprach weiter: „Es ist nicht mehr lang hin bis zur Rente, da wäre das Kind noch nicht mal raus aus der Schule. Da wird man nicht Mutter. Und so plötzlich. Ich stelle mir meine Zukunft nicht mehr mit kleinem Kind vor. Babys, nein, danke.“
„Aber den Sex hast du gewollt.“ Kohlund war irgendwie beleidigt und wusste nicht, warum er es war. „Ich dachte, du verhütest.“
„Du dachtest ... es ist trotzdem passiert.“
„Dann klappt’s noch mit uns. Wir sind nicht alt.“
„Lars, überlege, ein Kind!“
„Du möchtest es nicht?“
„Ich kann einfach nicht.“
Alexia fummelte in ihrer Tasche und brachte ein verschwommenes Abbild zum Vorschein. Ultraschall, und ein kleiner Fleck sollte sein Kind sein. Sein Kind! Kohlund schaute darauf wie auf ein unscharfes Bild mit Ufos am Himmel. Dann schob er das schwarzweiße Ding von sich. Alexias Allasch kam ins Kippen und machte die Tischdecke feucht.
„Ich bin der Vater. So einfach weg wie nie gewesen, geht das nicht. Es ist auch mein Kind, Alexia.“ Es klang wie eine Drohung.
„Deswegen sage ich dir’s ja.“
„Aber so zwischendurch können wir diese Entscheidung nicht treffen.“
„Ich habe mich entschieden. Nein. Nein. Nein.“ Ihr begannen Tränen über die Wangen zu laufen. „Ich kann’s nicht noch einmal.“
„Alexia, lass uns in Ruhe darüber nachdenken.“
„Willst du wirklich jetzt noch mal ein Kind?“ „Aber einfach Mensch weg, wie niemals gewesen, ist doch keine Lösung des Problems.“
„Ich will kein Kind haben!“
Alexia schrie diesen Satz. Die wenigen Gäste blickten sie an. Die Dame hinter der Scheibe kicherte nicht mehr. Kohlund leerte sein Glas in einem Zug. Der fette Raucher blies Qualm gegen die Scheibe.
„Ich will das Kind nicht!“
Widerspruch getraute sich der Kommissar nicht zu äußern.
„Ich! Will! Das! Kind! Nicht!“