Sie verließen die Hauptstraße am Ende der Welt. Jedenfalls sah es für Merghentin so aus: Krater, dürre Bäume im Wind, Grasbüschel und Müll. Sie waren gen Süden aus der Stadt gefahren. Dorthin, wo sich noch immer die Bagger durchs Land gruben. Merghentins Bruder war stets begeistert, wenn er in diese Ödnis fuhr. Xaver war Spezialist für die Renaturierung des Drecks, den Tagebaue hinterließen. Xaver empfand den Leipziger Südraum als gelungenes Beispiel für wiedererstandene Landschaft. Merghentin hatte Zweifel.
„Jetzt links.“ Benjamin Wolter wies zur Verdeutlichung seiner Weisung mit der Hand. „Genau hier hab ich das Auto geparkt und Mandy ist hinausgesprungen und hat sich sofort in der Leine verhakt. Wer weiß, ob nicht auch hier Tierschützer die Länge nachmessen.“ Sein Lachen klang gekünstelt. Die ganze Fahrt über hatte Benjamin von nichts anderem als der drohenden Erzwingungshaft seiner Mutti geredet. Merghentin wusste nicht, ob er Benjamins Mutter je kennengelernt hatte. Nach den Erzählungen sah er sie vor sich: klein, robust, zäh. Sie werden sich an ihr die Zähne ausbeißen, war sich der Sohn sicher und stolz. Erzwingungshaft niemals!
Merghentin bog auf einen mit Schotter planierten Platz. An dessen hinterem Rand verlor sich ein provisorischer Imbiss. Seine zerrissene Markise verursachte eigenartige Geräusche. Daneben stand eine aus der NVA-Zeit herübergerettete Gulaschkanone mit hoher Esse in der Tarnfarbe grün. Eine sehr dünne Frau putzte die Scheiben am Imbisswagen. Hinter der Theke wendete ein stattlicher Mann braune Bratwurst. Für diese erwartete Merghentin kaum Esser. Wer sollte sich hierher verirren? Die Imbissbude musste schon sehr lange dort ihren Platz haben, ließen Farbe und Interieur vermuten. Entweder stand sie schon Jahre oder der Betreiber hatte sie gebraucht übernommen und nix dran getan. Überm Fenster des Wagens stand der Reklameschriftzug: Frankie goes to Badestrand. Er bestand aus farbigen Glühbirnen, die nicht leuchteten. Die gleichen Worte bemerkte Merghentin auf den knallroten T-Shirts und Base-Caps der beiden Mitarbeiter in pissgelber Schrift. Frankie goes to Badestrand. Reichlich dämlich fand der Kommissar diesen Namen für eine Bude, aus der nicht mehr herausgereicht wurde als Bratwurst, Bier und mittwochs hauseigene Spezialitäten. Auch Schwimmringe, Luftmatratzen und Schnorchel hätten an diesem Badestrand befremdet. Mit einem solchen löste die Gegend keine Assoziationen aus. Heute verhieß das Tagesangebot auf der mit Kreide beschriebenen Tafel: Kuchen, von Omi selbst gebacken. Der Kommissar verspürte mit einem Mal Appetit, würde aber erst nach der Inspektion des Tatorts hier einkehren. Er hievte seinen Rollstuhl von der Rückbank und verbat sich Benjamins Hilfe.
„Hinterm Barkblatz vier-finfhundert Meder nach lingse, dann sähnse das weißrote Band vonner Kribo.“ Der Buffetier schaute von seinen Würsten kaum auf. Merghentin nahm an, dass die Worte ihnen als sensationsgierigen Besuchern galten und schwieg. Mit geübten Handgriffen schwang sich der Kommissar in sein Gefährt.
„Weeßch“, entgegnete Benjamin und blickte ostentativ zum Kiosk, wo die dünne Frau ihr Putzen einstellte und den Wassereimer neben dem Wagen ins Gras kippte.
„Wo lang?“, fragte der Kommissar, um seine Fahrbereitschaft zu melden.
„Hinterm Parkplatz vierhundert Meter nach links, ich seh’ schon die Absperrung flattern.“ Benjamin fasste nicht zu den Griffen am Rollstuhl, Merghentins Blick hatte es ihm verboten.
„Dann los!“ Und der Gelähmte griff kräftig in die Räder. Schwerer als gedacht, stellte Merghentin fest und überspielte seine körperliche Anstrengung. Benjamin lief neben ihm her. Und erzählte weiter von Mutti und Mandy und einer Behörde, die der Mutti Tierquälerei vorwarf.
„Musste dir vorstellen, die renovieren das Haus, und wir binden Mandy an den Apfelbaum im Garten, weißte, der, der die schönen roten, großen und süßen Äpfel wachsen lässt. Kannste dich erinnern?“ Benjamin wartete Merghentins Reaktion nicht ab, lief ihm zwei Schritte voraus. So sah Benjamin Wolter nicht, dass die Unebenheiten und der Sand des Bodens Merghentin das Vorwärtskommen nur mit großer Anstrengung möglich machten. „Weißte, und da kommt der Herr Dr. Wenzke, Herr Dr. Christoffer Wenzke, der sich bei Vier Pfoten sehr engagiert, und zeigt Mutti an. Mandys Leine sei angeblich zwei Meter zu kurz. Musste dir vorstellen, kommt sich Mutti vor wie ein Al Capone oder Haarmann. Schwerverbrecher! Sie hat doch gar nichts Gesetzeswidriges getan! Aber der Doktor Wenzke schleift sie vor den Kadi. Unglaublich! Möchte wissen, was der gegen Mutti hat. Und außerdem würde ich fragen, wofür der seinen Doktor erhielt. Wahrscheinlich so ein Fall Guttenberg oder Silvana Doppelname. Ich könnte kotzen!“
Merghentin war versucht zu sagen: Vorm Richter landet kein Mensch ohne Grund. Und in der Erzwingungshaft schon gar nicht. Justizirrtümer waren selten. Andrerseits las man täglich von Behördenwillkür und Steuergeldverschwendung, Ulvi und Gustl Mollat. Benjamins Mutter musste gegen eine Vorschrift verstoßen haben, war sich der Kommissar sicher. Umsonst setzte sich das Räderwerk der Justiz selten in Bewegung. Benjamin allerdings fühlte Mutti und sich zu Unrecht verdächtigt und redete und redete, als hinge vom Fall Mandy und deren kurzer Leine sein Leben ab.
„Ich meine, das Hundchen sollte mal an die frische Luft, in einem Zimmer hat Mandy ja gar keinen Auslauf. Weißte, und da kommt der Dr. Wenzke und behauptet, Mutti würde ihren Liebling quälen und zu kurz an der Leine halten. Kam der mit Maßband, gloobste nich! Zwei Meter fehlten bis zum Gesetz.“
Relax don't do it, when you want to go to it, relax don't do it, when you want to come, relax don't do it, when you want to come, when you want to come. Der Kommissar summte den Hit der frühen Achtziger. Frankie goes to Badestrand. Fantasie konnte er den Betreibern nicht absprechen. Nur ob es den Imbiss noch gab, wenn der Badestrand wirklich da wäre? Andere Unternehmer sahen rein äußerlich schon geschäftstüchtiger aus. Die beiden vom Badestrand wirkten wie über Jahrzehnte konservierte Ossis. Allein die Hygiene würde bei Bratwurstmann und dünner Putze für ein Verbot sorgen. Von Marketing und Präsentation ganz zu schweigen. Imbiss und Gulaschkanone gehörten samt Frankie und Frau ins Museum.
„Die fuffzch Euro Strafgeld hat Mutti natürlich nicht überwiesen und exakt begründet, warum sie die nicht zahlt.“ Benjamin kam vom Thema nicht los. Merghentin gab geduldig ab und an zustimmende Laute. „Diese Sesselfurzer haben nix anderes zu tun, als die alte Frau zu piesacken. Erzwingungshaft, überlege mal, Mutti ist 75. Wegen fünfzig Euro! Einer muss doch den Beamtenärschen mal zeigen, dass man so mit ehrlichen Bürgern nicht umspringen kann. Aber ein Anwalt ist teuer. Und wer legt sich mit unserem Staat an? Ich bin bloß froh, dass Mutti sich jetzt erholt. Die sah schon ganz elend aus, sodass ich dachte, lang ist nicht mehr hin bis zum Infarkt. Die muss alles auch mal vergessen können. Gestern lag schon wieder ein Schreiben vom Regierungspräsidium im Kasten.“ Benjamin schritt kräftiger aus. Merghentin konnte kaum folgen. Dann blieb der Freund stehen, lief wieder zu Merghentin zurück und streckte den Zeigefinger gegen ihn aus. „Sag mal, kennst du nicht einen Anwalt, der diesen Fall übernimmt? Du hast doch ständig mit Leuten vom Gericht und so was zu tun. Soll ja auch nicht umsonst arbeiten, aber den Regelsatz können Mutti und ich nicht bezahlen. Ich habe mich informiert.“ Benjamin lächelte schüchtern. „Du kennst doch Gott und die Welt, Grischa. Denk mal nach. Mandy, Mutti und mir zuliebe.“
„Wo genau hast du denn den Toten gefunden.“
Benjamin wandte sich abrupt ab. Merghentin schien er beleidigt. Aber dieser Fall Hundeleine war für den Kommissar weder interessant noch kannte er einen Anwalt, der für nichts und wieder nichts die Interessen von Mandy und den Wolters wahrnahm.
Benjamin wies auf die flatternden Fähnchen. „Dort irgendwo.“
„Das würde ich mir gerne genauer ansehen.“
„Wie willste denn dorthin kommen?“
„Vielleicht kannste mich schieben?“
„Mit einem Mal ist dir meine Hilfe etwas wert. Aber wenn ich dich nur um einen Rat bitte ...“ Starren Gesichts verschwand Benjamin aus Merghentins Gesichtsfeld und versuchte, den Rollstuhl über Grasnarben und Dreckhaufen zu schieben. Merghentin legte unter großer Verrenkung seine auf Benjamins Hand.
„Aus dem Hut kann ich keinen Anwalt zaubern. Und jeder ist für diesen Fall auch nicht geeignet.“
„Schon gut.“
Benjamin schob. Merghentin hörte sein Keuchen. Langsam bewegten sie sich zum Absperrband. Dann kippte der Rollstuhl. Mit großer Kraft hielt ihn Benjamin in Schrägposition. Merghentin versuchte, sein Gewicht zu verlagern, um wieder auf allen Rädern zu stehen. Beide keuchten wie nach einem Marathonlauf.
„Was musst du denn auch unbedingt in diesen Dreck hier.“ Benjamins Stimme hörte man seine Wut an. „Völlig hirnrissig, diese Expedition.“
„Ich geb dir an Frankies Badestrand einen aus. Vielleicht haben die dein Lieblingseis im Angebot.“
„Dass ich nicht lache.“
„Wo lag der Tote?“
„Vielleicht 30 Meter von hier.“
„Na dann!“
„Das ist doch aussichtslos. Und was willst du denn hier überhaupt finden? Der Arzt hat gesagt, die Leiche hat schon Monate gelegen.“
„Aber wie kommt die hierher? Der ideale Ort für einen Selbstmord ist das nicht. Ist der Tote gelaufen? In Stöckelschuhen und Minirock? Über diese Ödnis, in der man versinkt? Ein Freier wird hier kaum nach einem Sexpartner suchen. Kein Auto, kein Fahrrad. Das nächste Wohnhaus Kilometer entfernt. Feiern Jugendliche hier ihre Feten? Weit weg von Elternhaus und Schule?“
Benjamin bückte sich und hielt eine Schnapsflasche in der Hand. Glenfiddich Single Malt Scotch Whisky. „So einsam ist’s hier vielleicht doch nicht.“
„Steck die Flasche in eine der Taschen am Rollstuhl.“
„Was soll denn so ein Dreckding beweisen?“
Nichts würde es beweisen. Benjamin hatte recht, und diese Ausfahrt war reine Opposition, konnte kein Ergebnis bringen. Die Kollegen hatten hier jeden Stein gewendet, jeden Haufen durchstoßen, um Indizien zu finden. Jede Kippe, jedes Papierfitzelchen, jedes unerklärliche Ding hatten sie katalogisiert und in die Kriminaltechnik gebracht. Berger war Profi. Der hatte nichts übersehen. Aber Merghentin wollte Kohlund beweisen, dass seine Arbeitskraft zu mehr als der Schreibtischrecherche taugte. Deswegen steckte er in dieser Wüste hier fest. Purer Trotz. Er ärgerte sich.
„Ungefähr hier habe ich gestanden, als ich aufmerksam wurde.“ Benjamin schüttelte sich angesichts seiner unschönen Erinnerungen. „Da wo jetzt die Krähe hockt, lag er dann.“
„Genug gesehen.“
Benjamin war überrascht, sagte jedoch nichts. Er ruckte an den Griffen, versuchte vergeblich, den Rollstuhl aus dem Dreck zu heben.
„Du bist zu schwer.“
„Versuch’s von vorn.“
Benjamin fasste die kleinen Räder unter den Füßen und hob den Rollstuhl mit ihm an. Merghentin geriet in Rücklage. Nur ein kurzer Schauer von Schreck durchfuhr ihn. Auch Kilian hatte ihn aus solch misslichen Lagen befreien müssen. Passierte. Benjamins Kopf lag fast in seinem Schoß. Ehedem hätte solche Position Merghentin in Erregung versetzt. Auch jetzt konnte er sie nicht völlig unterdrücken und sah auf Haare, die nicht mehr dicht wuchsen. Daran litt Benjamin sicherlich. Er hatte stets Wert auf seine äußere Erscheinung gelegt. So sehr sich Benjamin mühte, der Rollstuhl steckte fest im Boden. Bewegung unmöglich.
„Heb mich hoch und stoß das Gefährt mit deinen Fuß auf festeres Land.“
Benjamin fasste den Kommissar unter den Achseln. Kein unangenehmes Gefühl, und Benjamin tat es erstaunlich professionell. Doch auch unter Benjamins Fußstößen und Gewackel bewegte sich der Rollstuhl keinen Zentimeter. Vielmehr, er kippte. So standen sie wie ein selbstvergessenes Pärchen und fanden keine Lösung, die die Situation beenden könnte. Peinlich war sie Merghentin nicht.
„Lass mich runter.“
„Liegste im Dreck.“
„Bin ich gewohnt.“
Sehr vorsichtig ließ Benjamin Wolter den Freund zu Boden gleiten. Fast liegend schaute Grischa Merghentin zu, wie Benjamin den Rollstuhl aus der Erde wühlte und ihn zum Weg hin transportierte. Besser als auf einen Bildschirm starren, redete sich der Kommissar ein. Er wusste nicht, was er wirklich von diesem Ausflug erwartet hatte.
„Am besten nehm’ ich dich jetzt auf den Rücken.“
Wie selbstverständlich hockte sich Benjamin vor ihn hin. Merghentin schlang seine Arme um dessen Hals. Dann standen sie aufrecht, und Benjamin klemmte sich Merghentins leblose Beine unter die Achseln. Er schlug nicht die Richtung zum Rollstuhl am Weg ein, sondern trat das Absperrungsband nieder.
„Siehste die frischaufgeworfene Erde, dort war er halb vergraben, halb eingemüllt.“
„Irgendwann hätte er unter Wasser gelegen.“ Wahrscheinlich hatte der Täter genau das beabsichtigt. Dass sich der junge Mann diesen deprimierenden Ort für seinen freiwilligen Abschied von der Welt ausgesucht hatte, weigerte sich der Kommissar anzuerkennen. „Kein Ort zum Sterben.“ So wie es hier aussah, stellte man sich gemeinhin den Mond vor. Bergrücken von schwarzem Staub. Gesprengte Krater. Steine, die sowohl von Bautätigkeiten als auch aus der Kohleverbrennung stammen können. Dazwischen Müll. Längst hatte man erkannt, dass dies eine Kippe war, die in zwei Jahren nicht mehr zu sehen sein würde. So entdeckte Merghentin einen Kühlschrank mit offener Tür, Karosserieteile und etwas, das aussah als wäre es die Spitze einer Rakete. Unwirtlich wie der Planet des Todes.
„Diese Landschaft ist schon gestorben.“ Benjamin klang bitter.
„Sie wird schöner denn je“, entgegnete Merghentin, ohne selbst überzeugt zu sein. „Frag meinen Bruder. Und wer hätte vor Jahren an Kulkwitz, Cospuden oder Belantis gedacht.“
„Der künstliche Eindruck wird bleiben. Nie wird es natürlich hier aussehen, eher wie ein Golfplatz mit zweckgebundenen Teichen.“
„Miesepeter! Sieh, wie sie bauen.: Eigenheime, Anlegestellen. Hier wird mal mehr Leben sein als in Sankt Peter Ording oder auf Herrenchiemsee“, sagte Merghentin und fuhr Benjamin durch die wirren Haare. „Und nun geb ich dir von Omas Kuchen am Badestrand was aus.“
„Hast du diesen Ausflug geplant?“, fragte Benjamin überrascht.
„Nein, aber Frankie bietet ihn extra heute von Oma gebacken an seinem Badestrand an.“ Damit wies Merghentin zum leuchtenden Imbiss.
Benjamin schritt aus. Als er Grischa Merghentin in den Rollstuhl setzte, kamen sich ihre Gesichter ganz nah. Der Kuss war natürlich und nicht zu verhindern. Relax don’t do it, when you want to go to it, relax don’t do it, when you want to come, relax don’t do it, when you want to come, when you want to come. Leidenschaft wuchs. Die Männer konnten sich nicht voneinander lösen.
„Schmeckt besser als Kuchen.“
„Keine Frage.“