12.

„War er sexuell abartig? Neben der Norm?“

„Mir nicht bekannt.“

„Schwul?“

„Keine Ahnung.“

Er wusste, dass er falsche Fragen stellte. Und er war nicht beim Thema, geschweige denn auf Arbeit. Alexia wollte kein Kind. Auch er konnte es sich nicht vorstellen, noch mal Vater zu werden. Und natürlich entschied seine Frau über ihren Bauch selbst. Aber ein Wörtchen mitzureden, würde er doch als Vater da haben. Ich! Will! Das! Kind! Nicht! war im Schock gesprochen. Alexia hatte noch nicht nachdenken können. Kohlund bemühte sich um Verständnis. Es fiel ihm schwer. Er hatte widersprochen, weil er widersprechen musste. Er – Vater, in diesem Alter? Er sah sich nicht zwischen Windelpaketen, Breitöpfen und auf der Straße der Frage von jedem Passanten gewiss: Na, mit dem Enkelchen aus?

Jetzt saß Kohlund Kollegen Böer gegenüber, der an einem Hühnerflügel nagte und sich die Finger leckte. Der Kommissar versuchte, nicht auf sein Gegenüber zu blicken, und beschaute die Reihe der Kollegen, die sich geduldig der Essensausgabe näherten. Andere saßen vereinzelt an den Tischen, von denen das Sprelacart blätterte, als hätten diese Möbel schon vor der Wende an diesem Platze gestanden. Ein stetes Gemurmel herrschte. Ab und zu unterbrochen von der dicken Kantinenfrau, die lautstark Fünfunddreißig bitte die Neun! oder Zweimal für eins! durch den Saal brüllte.

„Schmeckt wie in der Broilerbar.“

Kohlund war nicht nach Speisen, selbst wenn sie schmeckten. Er hatte Böer gesucht und in der Kantine gefunden. Der Kommissar folgte der von Merghentin auf dem Computer hinterlassenen Spur. Eike Proksch, fünfzehn, verschwunden seit 27. Januar. Viel gab die Akte nicht her: Der Knabe hatte sich an jenem Datum bei einer Fete seiner Klassenkameraden blicken lassen und war danach nie wieder gesehen worden. Die Aussagen der anwesenden Schüler glichen sich. Proksch wurde gemieden. Nur wenige fanden ihn sympathisch. Er war neu an diese Schule gekommen, fand schwer Kontakt. Lehrern war gezieltes Mobbing nicht aufgefallen. Aber in den sozialen Netzwerken waren Spuren davon zu finden: Wir werden dich so in den Dreck treten, dass du dich selbst nicht mehr magst. Muttisöhnchen, schwuler Schleimer, pfurtzbleeder Wiggser. Eike Proksch hatte sich nicht unterkriegen lassen. Er hatte sich gewehrt und um seine Kontakte und Freunde gekämpft. Deshalb war er auch zur Fete bei Jean-Claude Wöhler erschienen. Von der war er irgendwann, keiner konnte sich an die genaue Uhrzeit erinnern, verschwunden und blieb es. Mit Marisa Schwerdtner verband Eike vielleicht mehr als nur Klassenkameradschaft. Aber auch sie hatte gegen seine Anwesenheit in Wöhlers Haus gestimmt. Die Gruppe hatte in einer Diskothek die Nacht durchgetanzt und setzte die Feier bis zum nächsten Abend im Eigenheim der Wöhlers fort. Halbjahresabschluss. Zeugnisse. Bergfest. Jean-Claudes Eltern fuhren derzeit schon Ski in den Alpen bei Königsleiten. Ihr Sohn sollte nach der Zeugnisausgabe ins Ferienhaus nachkommen. Das hatte Jean-Claude eine Woche darauf auch getan. Wo Mitschüler Eike Proksch abgeblieben war, wusste keiner, und es interessierte auch niemanden von ihnen.

„Vielleicht ist jener Eike Proksch die Leiche im Zwenkauer See.“

„Dann müsste ich mich nicht mehr mit einem Haufen Abiturienten rumplagen. Da sind kaum Vernünftige drunter. Du hast Kinder in diesem Alter, kommst mit ihnen wohl besser klar. Gern darf die Mordkommission den Fall übernehmen.“

„Du meinst, die Schulfreunde sind Schuld an Prokschs Verschwinden?“

„Schuld. Nichtschuld. Sie sind die Letzten, die ihn gesehen haben. Und Freunde sind die in meinen Augen auch nicht gewesen. Die haben ihn, den Proksch, ganz schön gedisst. Siehste, jetzt spreche ich schon genauso wie die“, sagte Böer und knaubelte letzte Fetzen Fleisch von einem Knochen. Mit fettglänzenden Fingern zerteilte er weiter die Keule. Als Böer mit der Gabel eine Kartoffel zerdrückte, rutschte ihm das Besteck aus der Hand. Einige Spritzer davon erreichten Kohlunds Hemd. Er übersah sie. „Proksch hatte es schwer. Ich hätte nicht in seiner Haut stecken mögen.“

Kohlund grüßte Kollegen mit Kopfnicken und wunderte sich, dass er viele neue Gesichter entdeckte. Das konnten nicht alles Hospitanten und Praktikanten sein. In alten Zeiten hatte er jeden im Präsidium gekannt. Jetzt kam er sich vor, als säße er im Schnellimbiss oder in der neuen Mensa der Uni.

„Nicht in seiner Haut stecken mögen?“

„Proksch galt als Streber, kämpfte um jede Zensur, diskutierte. Seine Eltern sind aus Königstein, Taunus, hier zugezogen. Der Vater bekleidet einen höheren Job bei der Staatsbank. Es war, als würde die Klasse Proksch nicht nur für die Eurokrise, sondern auch für ihre schlechten Noten verantwortlich machen.“ Ein Stückchen Hühnerhaut blieb Böer im Bart hängen. „Echt gut, dieser Hahn.“

„War dieser Proksch wirklich solch Streber?“

„Glaube ich nicht. Er musste aufgrund seines Schulwechsels die elfte hier wiederholen. In manchen Fächern hatte er Vorlauf. Im Sport war er schlecht, keine Mannschaft wollte ihn haben. Blieb immer über. Außenseiter.“

„Unsportlich sah er nicht aus.“

„Du meinst die Leiche?“

Böer lächelte. Er galt als Pedant und Verfechter einer gepflegten deutschen Sprache. Jetzt hatte er ihn bei einer Unsauberkeit im Ausdruck erwischt. Kohlund hoffte, dass der Kollege nicht zu einem Vortrag vom Verfall von Syntax und Wortgut ausholte und beim Nagen am Hühnerbein verblieb.

„Ja.“ Kohlund musste den Impuls unterdrücken, Böer eine Serviette für die fettigen Finger zu reichen. „Die Vermisstmeldung des Proksch passt auf unseren Toten. Wir haben sonst keinen Anhaltspunkt. Deswegen meine Fragen an dich.“

„Verstehe.“

Und wieder hieb Böer seine Zähne ins Broilerfleisch. Kohlund fand diese Art der Speisung wenig ästhetisch, aber da war er wahrscheinlich falsch erzogen. Was heute an Fastfood auf Straßen und Bänken vertilgt wurde, hatte mit der ihm beigebrachten Esskultur nichts mehr zu tun. Wie gern aß Kohlund gepflegt in einem Restaurant höherer Kategorie. Wie lang hatte er es mit Alexia nicht mehr getan. Mit Schrecken erinnerte er sich, dass er soeben von einem solchen Mittagsmahl kam. Ich! Will! Das! Kind! Nicht! Ich auch nicht, hatte er nicht sagen können, und das Gegenteil behauptet. Mein Gott! Ich will!

„Die männliche Leiche trug Frauenkleider. Bist du bei deinen Recherchen auf Indizien solcher Neigung bei Proksch gestoßen?“

„Nein. Ich hatte eher den Eindruck, dass er seine Jungfräulichkeit für die große Liebe aufsparte.“

„Kein Sex?“

„Wenn man von den üblichen Wichsvorlagen absieht.“

Wenn Böer das Thema beim Essen widerstrebte, ließ er es sich nicht anmerken. Andrerseits waren auch zerteilte Leichen oder Unfallopfer Kantinengespräch.

„Vielleicht kannst du mal einen Blick auf das Foto werfen?“

„Schieb rüber. Kann grade nicht.“ Und zum Beweis hielt ihm Böer seine fettglänzenden Finger entgegen.

Kohlund zog die Fotos aus einem Umschlag und legte sie wie beim Offiziersskat vor Böer auf den Tisch. Der griff nach einem weiteren Stück Broiler und besah sich danach die Bilder genauer. Kohlund bemerkte, wie Thorst Schmitt samt Gefolge in den Speisesaal schritt. Andrea Dressel kämpfte wohl um ihren Arbeitsplatz im Vorzimmer des neuen Direktors und eilte voraus. Der Hengstmann bewahrte eine Haltung, als ob er Schmitt die Schleppe trug. Und Dominik Bleicher klemmte ein Stoß Akten unter dem Arm, sekündlich erwartete der wohl neue Instruktionen. Diese Viererbande – ein furchtbarer Anblick.

Böer räusperte sich. „Kann sein. Kann nicht sein. Der hat ja nun auch schon lange Tage im Dreck gelegen. Von dem Proksch haben wir nur Schnappschüsse und ein gestelltes Foto von der Konfirmation.“

„Kinder lassen sich in dem Alter ungern von den Eltern ablichten.“

„Eher von Modefotografen und Modelscouts á la Heidi Klum.“

„Selbst mit solch Hochglanzfoto könnteste den Proksch mit der Leiche nicht vergleichen. Da hilft nur die DNA-Analyse.“

„Hast ja recht.“

„Wollte nur fragen. Wenn du bestätigen könntest, dass der Tote Eike Proksch ist, hätte mir das Wege und Zeit verkürzt.“

„Yupp.“ Böer zerdrückte die letzte Kartoffel und ditschte damit den Rest von der Soße. „Je länger ich auf den Toten so draufschaue ... es könnte der Proksch sein. Ja ... könnte. Ist aber ein Gefühl kein Beweis. Dagegen spricht wiederum der Fummel, den der tote Junge hier trägt: Pumps, Blüschen, Minirock. In seinen spärlichen Briefen an Bekannte und Oma im Taunus hat Eike immer von großer Liebe und Mädchen und Disko gesprochen. Marisa Schwerdtner hat er da öfter erwähnt.“

„Geht die mit ihm in die Klasse?“ Wäre ging die richtige Zeitform gewesen?

„Ja. Aber sie zeigte wenig Hang, sich mit einem Spasti ausm Westen abzugeben. Kinder sind grausam. Und Hinweise auf homosexuelle Kontakte haben wir nicht gefunden. Auch die Wichsvorlagen zeigten Damen aus Playboy und Hustler, selbst Hardcore fand sich in Eike Prokschs Sammlung.“

„Wir hatten damals nur’s Magazin und Die Funzel“, sagte Kohlund. Auch Böer musste bei der Erinnerung lächeln.

Plötzlich warfen Gestalten Schatten auf ihren Tisch, die verblieben. Kohlund blickte ins Gesicht des Kriminaldirektors.

„Wie ich höre, sind die Herren aktiv bei der Sache: Hardcore und Funzel!“

Böer sprang vom Tisch auf. Sein Teller wäre abgestürzt, hätte ihn Kohlund nicht gestoppt. Die Viererbande um Kriminaldirektor Thorst Schmitt hatte neben ihnen Spalier bezogen. Der Direktor griente, seine Adjutanten machten strenge Gesichter.

„Der Fall Eike Proksch“, rechtfertigte sich Böer und blinzelte. Ihm im Bart glänzten mehrere Fetttropfen. „Vielleicht mit der Leiche ausm Zwenkauer Teich da identisch.“

„Schön, wenn Sie den Fall schnell klären können. Kollegen Bleicher sitzt bereits die Presse im Nacken.“

Bleicher verneigte sich, als wäre er eben Queen Elisabeth vorgestellt worden.

„Wir warten auf Professor Jaenickes Gen-Analyse. Vorher können wir gar nichts zu sagen.“ Kohlund fand es widerlich, wie Schmitt hier den volksnahen Chef mimte.

„Dann viel Erfolg, liebe Kollegen.“

Der Direktor drehte sich in Böers entgegengestreckte Hand und griff zu. Kohlund hörte förmlich das Broilerfett schmatzen.

„Herr Direktor! Ich serviere für Sie im kleinen Saal“, schrie die Dicke von der Theke und eilte mit vollen Tellern durch eine Seitentür.

Dominik Bleicher reichte tatsächlich Thorst Schmitt eine Serviette. Dann schritt die Delegation weiter. Die Audienz war beendet. Wie Schmitt sich benahm, würde es nicht mehr lang dauern, und der gehörte zu jener gesellschaftlichen Schicht, die Gesetze beschloss und durchsetzte, sich aber nicht an sie hielt. Schmitts Aufstieg hatte begonnen, er schritt durch das Fußvolk und nahm dann im Chambre separée Platz. Die Dicke hielt ihm die Tür.

Böer blickte dem Zug nach, wie einer exterritorialen Erscheinung, und rieb seine Hand. Das Gemurmel im Saal wurde wieder vernehmbar. Aus der Ferne hörte Kohlund Kindergeschrei. Absurd. Er hätte jetzt gern einen Allasch bestellt.