13.

Als der Imbiss wieder in Merghentins Blickfeld geriet, leuchtete der Name Frankie goes to Badestrand rot, gelb, grün, blau. Offensichtlich stand er jetzt voll im Geschäft. Die farbigen Glühbirnen erinnerten an die von alten Karussells auf Rummelplätzen. Nur die dumpfe Musik fehlte. Aus der Gulaschkanone kroch Dampf und zog in dünnen Fäden gen Himmel. Solch Szenerie verband sich gemeinhin mit grausamen Hollywood-Filmen. Rollercoaster. Tanz der toten Seelen. Es. Die eifrige Putzfrau konnte der Kommissar nirgendwo ausmachen. Aber Frankie wendete noch immer stoisch die Würstchen. Vor dem Kiosk stand allerdings jetzt eine Schlange von hungrigen Menschen. Auf dem Schotterplatz hatten reichlich Autos und Laster geparkt. Offensichtlich hatte Frankie, Badestrand und Imbiss einen guten Ruf über die Stadtgrenzen Leipzigs hinaus. Die Gäste grüßten von den Bänken, als sich Kommissar und Zeuge dem Thekenfenster näherten. Eine große Familie.

„Was willste?“, fragte der Kommissar Benjamin Wolter. „Ich geb’ einen aus.“

„Sag mal, das Ding ist ja völlig verdreckt.“ Benjamin puhlte am Rollstuhl und besah sich danach seine Fingernägel.

Der dicke Mann hinter den Bratwürsten empfand Wolters Worte offensichtlich als Kritik. „Ich kann Ihnen gern einen Eimer mit Wasser rausreichen.“

„Zweimal vom selbstgebackenen Streusel und ist das da sächsische Eierschecke?“

„Steht doch dran.“ Die Wut des Wirtes war größer, als von Merghentin vermutet. Der Kommissar ignorierte den aggressiven Tonfall.

„Dann auch davon zwei und zwei große Kaffee.“ Und zu Benjamin gewandt sagte Merghentin: „Mit Zucker und Sahne?“

„Steht auf dem Tisch“, sagte Frankie und haute Kuchenstückchen auf Teller.

„Das Ding ist ja völlig versifft. So lass ich dich nicht unter Leute.“ Benjamin kroch noch immer um Merghentins Rollstuhl und betrachtete ihn wie einen neuen Anzug im Herrenausstatter. „So kannst du nicht unter die Leute!“

Merghentin erinnerte sich, dass Benjamin ein Pedant war und winkte ab. „Dieser Dreck stört keinen außer dir. Hast du jemals vorher die Speichen eines Rollstuhls betrachtet?“

„Stell du dem Herrn deine Fragen“, und Benjamins Blick wies auf den Buffettier. „Ich setz dich an einen Tisch und hole den Eimer mit Wasser.“ Er nickte dem Wirt freundlich zu. Und dann unterzog er Merghentins Rollstuhl erneut einer eingehenden Kontrolle. „Das ekelt einen ja, damit kannst du nicht fahren.“ Und Benjamin kratzte jetzt Schlamm von den Speichen und klopfte wild gegen Sitzfläche und Taschen.

„Vorsicht! Ist zerbrechlich.“

„Fährste Meißner Porzellan spazieren?“ Sogar Frankie hinter den Würsten musste nun grinsen. Dann erhob sich Benjamin Wolter und umschlang den Kommissar mit seinen Armen.

„Lass das!“

Aber Benjamin hatte seinen Partner bereits aus dem Stuhl gehoben und platzierte ihn in einem schwarzen Stuhl aus Plaste, der bedenklich knackte. Die Kraftfahrer blickten auf von ihren Tellern und folgten dem Geschehen mit Interesse.

„Hast du im Altenheim gearbeitet?“, fragte Merghentin.

„Nein, aber Oma hat vier Jahre gelegen. Und Mutti hat’s allein nicht gepackt.“

Damit saß Merghentin unter den speisenden Gästen vom Badestrand. Die Decke auf dem langen Tisch zierten außerordentlich bunte Blumen. Aus der Zuckerdose ragte ein hellgrüner Plastelöffel. Merghentin besah sich die Milch im Sahnekännchen. Die schien frisch. Der dicke Frankie brachte den Kuchen, seine dünne Kollegin den Kaffee. Benjamin bat die Frau um einen Eimer mit Spülmittel und Lappen. Dann waren die Reinigungskräfte samt Rollstuhl hinterm Kiosk verschwunden.

„Sechs fünf ’ndvierzich“, sagte der Dicke und hielt die Hand auf.

Merghentin suchte nach seinem Portemonnaie, das Benjamin mit dem Rollstuhl verbracht hatte. „Moment, wenn mein Begleiter wieder zurück ist.“ Er zuckte entschuldigend die Schultern. Frankie war im Begriff zu gehen. „Hätten Sie eine Minute?“, fragte der Kommissar. Missmutig blickte der Dicke ihn an.

„Warum?“

„Ich bin Kommissar und ermittle im Fall des unbekannten Toten aus dem Zwenkauer See.“ Er wies mit dem Finger in die Richtung, in der er das Absperrband vermutete. Vom Kiosk aus zu sehen war der Fundort der Leiche nicht.

„Die haben schon zwei Tage lang jeden Stein umgedreht. Und nicht nur dort. Auch bei mir sind sie gewesen.“

„Sie sind nah dran mit Ihrem Imbiss. Auch ich hätte an Sie ein paar Fragen.“

Der Dicke schaute, als verstünde er nicht.

„Ich kann mich ausweisen.“ Und Merghentin klopfte sich auf Hemd und Hose, griff in Täschchen und Taschen mit dem Wissen, dass er dort keinen Ausweis finden würde. Mit wachsender Wut begriff der Kommissar, dass sich auch sein Dienstausweis in einem der Beutel am Rollstuhl befand. Er war ja sonst nie ohne dieses Gefährt unterwegs. Jetzt hatte ihn Benjamin, dieser fürsorgliche Kerl, in der Wildnis ausgesetzt.

Frankie nickte. „Versteh schon. Im Rollstuhl.“

„Ja.“ Merghentin hatte keinen Grund, aber die Situation war ihm peinlich. „Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Ich bin keine Autowäsche“, sagte Frankie und musste über seinen Witz lachen. Merghentin schaute verschreckt. „Vielleicht sind auch Sie Journalist oder Privatdetektiv. Der Matula gibt sich immer als alles Mögliche aus. Sherlock Holmes war ein Meister der Verwandlung. Warum sollte ich Ihnen Auskunft geben?“

Noch vor Jahren hätte Merghentin diesen Satz als Provokation empfunden. Heute lachte er. „Ich bin wirklich behindert, und ich stehe wirklich im Dienste der Polizei.“

„Glaub’s Ihnen ja. Und selbst wenn ... Mir ist nichts aufgefallen. Außerdem haben mich das Ihre Kollegen schon zehnmal gefragt. Von hier ist die Stelle im See nicht zu sehen.“ Auch der Wirt sah sich um und wies mit dem Finger in die Richtung. „Sie können mit dem Auto auch noch näher ran. Hat mich schon gewundert, dass Sie’s hier stehen ließen.“

„Muss manchmal auch mal raus aus ...“ Die Schizophrenie dieses Satzes erkannte selbst Frankie.

„Sie sind ein eingespieltes Team. Sieht man.“

Es verwunderte Merghentin nicht, dass der Wirt es so sah. Benjamin erwies sich auch als erstaunlich geschickt ihm Umgang mit ihm und der Behinderung. Außerdem war Merghentin Benjamins Nähe nicht unsympathisch. War sie ja nie gewesen. Mensch, was haben wir zusammen gefickt! Auch wenn sich Merghentin nicht mehr so recht daran erinnern konnte, wie und warum ihr Verhältnis auseinandergegangen war. Er spürte den Geschmack ihrer gemeinsamen Nächte nach dem Kuss nicht nur auf seiner Zunge.

„Ihnen ist nichts aufgefallen?“

„Nein. Mal kommen so Klassen oder Gruppen, die hier am See die Sau rauslassen. Decken sich manchmal bei mir mit Spirituosen noch schnell ein. Achte ich drauf, unter sechzehn war keiner der Käufer.“

„Ich bin nicht vom Ordnungsamt“, wurde der Kommissar beinahe amtlich. „Mordkommission. Grischa Merghentin“, stellte er sich verspätet vor.

„Ein Junge ist öfter gekommen. Lief immer allein hier lang und stand in der Nähe vom Fundort der Leiche. Bei dem hatte ich befürchtet, der tut sich was an. Kann aber auch alles Zufall gewesen sein.“

„Und dieser Junge ist nicht der Tote?“

„Ausgeschlossen! Vor drei Wochen erst war er hier. Die Leiche soll ja bereits Monate ...“ Der dicke Frankie kratzte sich hinter dem Ohr. „Vielleicht wohnt der hier in der Nähe. Fuhr mit dem Rad immer wieder hier lang. Aber das tun viele.“

„Warum ist Ihnen dieser Junge aufgefallen.“

„Der passte irgendwie nicht. Die jungen Menschen kommen meistens in Gruppen. Die Alten auch. Nur die Fanatischen rennen allein durchs Gestrüpp. Manche trainieren Marathon hier oder Biathlon oder tun’s für die Gesundheit. Dass das helfen soll, kann ich nicht glauben.“ Und Frankie besah sich unabsichtlich den eigenen Bauch.

„Ich auch nicht“, sagte Merghentin, obwohl er anderer Überzeugung war.

„Nee, der war kein Sportler. Der war hier, weil er irgendwie litt oder so. Man hört ja manchmal von gemütskranken Menschen. Der sah aus, als ob er sich gleich etwas antun würde. Ich habe ihm eine Cola spendiert.“

„Wie alt war der Junge?“

„Fünfzehn? Sechzehn? Aber in diesem Alter kann man sich gewaltig verschätzen. Der Hannelore Elsner sieht man ja auch ihre fünfundsiebzig nicht an.“

Merghentin verwunderte dieser Vergleich. „Würden Sie ihn wiedererkennen?“

„Sicher doch: Der war nicht nur einmal mein Gast.“

„Haben Sie viele Gäste?“

„Sagen wir’s so, ich kann überleben. Mehr nicht.“

Merghentin fasste einen Entschluss. „Jetzt werde ich Omas Kuchen probieren. Wie alt ist denn die Dame?“

„Sie ist meine Frau und bringt ihrem Kumpel grade Eimer und Wasser.“ Frankie bemerkte offensichtlich, dass Merghentin überrascht war. „Schreib ich von Sabine an diese Tafel, kauft’s doch kein Mensch. Oma hat was Solides. Meinen Sie nicht?“

„Ja.“ Merghentin nippte am Kaffee, der seine Hitze bereits verloren hatte. „Hatte der Junge besondere Kennzeichen? Narben?“

„Nee. Besondere Kennzeichen keine. Dicke Hose unterm Arsch. Ein Fahrrad, wo der Sattel auf dem Hinterreifen klebt. Basecap bis zum Kinn.“ Wie zur Bestätigung schob Frankie seins weit über die Stirn. Merghentin bemerkte, dass darunter kaum Haare wuchsen. Die wenigen waren vom Schweiß verklebt. Als Merghentin sich nach den Bratwürsten umsah, stand die dünne Sabine dahinter. Der Kommissar biss in den Kuchen. Er schmeckte, und der Kommissar nickte der Oma freundlich zu.

„Wir werden ein Protokoll aufnehmen müssen.“

Frankie hob die Schultern. „Ich muss morgen früh sowieso in den Großmarkt. Gegen sieben kann ich bei Ihnen sein.“

„Geht’s auch gegen neun?“

„Ungern. Aber es geht.“ Und dann hatte der Buffettier genug von der Unterhaltung. „Die Würste verbrennen.“ Frankie griff nach Benjamins Pott und trug ihn wieder in den Wagen. „Ich stell ihn in die Mikrowelle, wenn Ihr Freund wieder da ist.“

„Danke.“

Merghentin genoss Sabines Kuchen. Er schmeckte tatsächlich nach altem Rezept. Aber das konnte sich der Kommissar auch einbilden. Gäste kamen und gingen. Auf dem Parkplatz herrschte reger Betrieb. Hatte sich Merghentin gar nicht vorstellen können. Frankie goes to Badestrand schien offensichtlich mehr als ein Geheimtipp. Bauarbeiter saßen neben Lkw-Fahrern. Am Rande des Tagebaus gruben Bagger eine Verbindung zum nächsten See. In wenigen Monaten soll hier eines der perfektesten Gebiete Naherholung erlauben. Und auch auf den Tourismus hofften die Planer. Merghentin war da skeptisch. Er fuhr lieber an steile Küsten oder in zerklüftete Berge. Wo aktive Erholung angesichts seiner Bewegungssituation nicht einfach war. Aber noch immer fand er Sonnenuntergänge im Hochgebirge oder am Meeresstrand sehr romantisch. Hier am Zwenkauer See konnte er nicht davon träumen. Der Kommissar blinzelte in die mittlerweile kräftig scheinende Sonne. Vom Kuchen aß er drei Stück. Nachdem er einen zweiten Pott Kaffee ausgetrunken hatte, erschien Benjamin wieder. Der Rollstuhl glänzte. Er stellte ihn wie seine Tanzpartnerin vor.

„Da war der Dreck von Jahren drauf. Wie neu sieht der jetzt aus.“

„Ich werde dich engagieren.“

Sie schauten sich in die Augen, und Merghentin war es, als hätte Benjamin ihm in die Seele geblickt. Nein, sein Leben war nicht so, wie er es vor anderen leichtnahm. Es gab Minuten, da verzweifelte Grischa Merghentin und hatte es satt. Er mochte nichts sagen, nichts sehen, nichts hören. Nichts. Gar nichts. Und niemals wieder würde er dazugehören. Jedes Gesicht wurde zur Qual, jeder Tag zur Belastung. Selbst heute, wo er es geschafft hatte, für ein paar Minuten aus dem dämlichen Präsidium wegzukommen, kotzte ihn sein Dasein an. Was hatte er denn hier zu suchen? Die vage Beschreibung eines Knaben und eine versiffte Schnapsflasche würden den Fall nicht lösen, war sich der Kommissar sicher. Nein, es war sinnlos, für die Mord zwo Recherchen vor Ort durchzuführen. Kohlund würde ihn niemals auf dem Rücken durch den Tagebau tragen. Fast alles war nicht mehr möglich: Ein schneller Sprung in den Eisladen. Ein spontaner Kinobesuch. Ein Glas mit Bier mit den Kumpels am Stehtisch. Mit Benjamin für einen kurzen Orgasmus hinter die Büsche. Es war alles unmöglich. Merghentin saß fest. Und er würde sein Leben lang festsitzen. Scheißleben! Merghentin hatte wohl mit der Faust auf den Tisch neben den Kuchen gehauen. Alle blickten ihn an. Benjamin schaute stolz.

Penibel gereinigt, blitzte der Rollstuhl in der Sonne. Grischa Merghentin vermochte nicht mal, das blöde Gefährt mit einem kräftigen Tritt umzustoßen. Er war gelähmt. Der Rollstuhl stand wie ein Vorwurf am Esstisch bei Frankie goes to Badestrand und wartete, dass der Kommissar in ihm wieder Platz nahm, um durchs weitere Leben zu rollen. Scheiße! Merghentin war zum Heulen. Er vegetierte. Leben mochte der Kommissar dieses Dasein nicht mehr nennen. Scheiße und keine Hoffnung!

Benjamin Wolter legte seinen Arm um den wiedergefundenen Lover, nahm neben ihm Platz und vergrub seine Nase in Merghentins Nacken. Warum war das mit ihnen damals eigentlich auseinandergegangen? Sie passten doch augenscheinlich sehr gut zusammen.

Merghentin legte Benjamin Wolter die Hand aufs Knie und flüsterte nur: „Danke.“ Er hätte mehr sagen wollen, doch Frankie servierte eilig den aufgewärmten Kaffee. Auch Benjamin schmeckte Sabines Kuchen, und er bestellte ein weiteres Stück von Omas leckerer Eierschecke. Dann sah Merghentin auf die Uhr.

„Kohlund wird toben!“

Benjamin hatte den Wink verstanden und schob sich den Kommissar auf die Arme.

„So werden Bräute über die Türschwelle getragen.“

„Auch das würd’ ich tun.“

Es war als hätte etwas neu begonnen, was niemals aufgehört hatte.

„Ich will ja nicht stören, Herr Kommissar, aber wer übernimmt nun die Rechnung?“

Frankie stand lächelnd hinter dem Rollstuhl und hielt ihnen auffordernd sein Portemonnaie entgegen. Benjamin setzte Merghentin ins Gefährt. Der fasste sofort zur Brieftasche an der rechten Seite und gab Frankie großzügig Trinkgeld.

„Ich kann Ihnen den Beamten nicht glauben“, sagte der Buffettier.

„Ich mir auch nicht“, sagte Merghentin.

Sabine lachte, während sie putzte. Diesmal die Gulaschkanone.

„Wir kommen wieder“, sagte Benjamin Wolter.

„Ich bitte darum.“