„Sie sind für das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit verantwortlich!“
Schwäblein-Kunz beugte sich über den Schreibtisch und kam Thorst Schmitt näher. Der Kriminaldirektor glaubte, schlechten Atem zu riechen und stellte fest, dass so die Verhörten in einer Vernehmung empfinden mussten. Egal ob sie etwas zu gestehen hatten oder nicht. Er jedenfalls verspürte das Gefühl einer unkonkreten Bedrohung, ohne dass er sagen konnte, warum. Der Mann ihm gegenüber war gut informiert, allerdings leicht aggressiv. Und er hatte mehr Macht, die er nutze. Schmitt kam sich vor, als erhielte er einen Anschiss vom Schuldirektor, obwohl er nichts getan hatte. Er hatte buchstäblich noch nichts getan, denn Schmitt war keine Woche im neuen Amt. Fehlentscheidungen konnte er in dieser Zeit nicht getroffen haben. Im Gegenteil, er hatte noch gar keine Entscheidung gefällt, auch wenn er sie schon hätte fällen müssen. Andrea Dressel lächelte jede Sekunde, weil sie wohl hoffte, ihren Sekretärinnenjob bei ihm behalten zu dürfen. Noch konnte Schmitt solch missliche Entscheidung wie ihre Versetzung aufschieben. Anderen Verpflichtungen war nachzukommen.
Bereits am Morgen seines ersten Arbeitstages fand er eine Notiz vom zuständigen Stadtdezernenten auf seinem Schreibtisch. Der bat um sofortigen Rückruf und die Vereinbarung eines Gesprächstermins. Es sollte doch ein vertrauensvolles Klima zwischen den zuständigen Behörden herrschen. Die Dressel hatte ihn lächelnd auf dessen Dringlichkeit verwiesen. Jetzt saß Schmitt dem Stadtdezernenten Schwäblein-Kunz gegenüber und fühlte sich wie zur Russischprüfung des Abiturs.
„Sie vertreten unsere Behörde vor den Medien, Herr Schmitt.“
„Dafür gibt es Pressesprecher. Unserer heißt Dominik Bleicher.“ Und ist ein Karrierist und Lackarsch, fügte Schmitt in Gedanken hinzu.
„Aber er vertritt Sie, da Sie als Chef nicht überall sein können. Das ist wie bei der Kanzlerin. Herr Bleicher steht für Ihre Arbeit. Im Guten wie im Schlechten“
Thorst Schmitt glaubte, Schwäblein-Kunz falsch verstanden zu haben. Sie sind doch wohl auch der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig, war er versucht, dem Dezernenten entgegenzuhalten. Offensichtlich drückte Schmitts Gesicht sein Unverständnis auch aus. Denn Schwäblein-Kunz lehnte sich nunmehr in seinem schwingenden Schreibtischsessel zurück, verschränkte die Hände über seinem stattlichen Wanst und fuhr im Belehrungston von Schmitts gehasster Fremdsprachenlehrerin fort.
„Das öffentliche Bild Ihrer Behörde ist katastrophal. Von Inkompetenz, Korruption, Verschleierung wird gesprochen, geschrieben und gesendet. Das, verehrter Herr Schmitt, muss sich ändern. Sofort! Am besten, Sie berufen morgen eine Pressekonferenz ein.“
„Und was soll ich den Journalisten sagen?“
„Was Sie vorhaben, um den guten Ruf der Kriminalpolizei wieder herzustellen. Ich erinnere Sie an die Fahndungserfolge bei den Fällen Mitja und Michelle.“
„Aber die mir Unterstellten sind doch nicht am derzeitigen schlechten Ruf der Leipziger Ermittlungs- und Justizbehörden schuld.“
Schwäblein-Kunz zeigte ihm seine weißen Handflächen über dem Bauch. Eine Geste der Abwehr und Unschuld. Dieser Beamte wusste genau, wie er sich präsentierte. Schmitt kam in Wut. Das Benehmen von Schwäblein-Kunz machte auf ihn den Eindruck schlecht gelernter Schauspielkunst. Solche Typen hatten scharenweise vor ihm im Verhör gesessen. Waren aalglatt und glaubten sich ihm überlegen, aber mit Fakten und Geduld waren auch die aus der Fassung zu bringen.
Was bildete sich dieser Sesselfurzer denn ein? Staatsanwaltschaft und Ermittlungsorgane brachten nicht er und seine Kollegen von der Kriminalpolizei in Misskredit, sondern die Leitungsebenen aus Rathaus, beigeordneten Behörden und Justiz höchstselbst. Eine Affäre jagte die nächste. Die Chefetagen der Stadt und ihrer Unternehmen stellten sich, nachdem der Skandal öffentlich geworden und nicht mehr zu vertuschen war, unwissend oder sie waren es. Die Behörden vermittelten ein katastrophales Bild von Raffgier und Inkompetenz. Die Beamten schienen allesamt Gesetzesbrecher, Abzocker und Betrüger, oder sie vermittelten den Anschein, ihrem Job nicht gewachsen oder blind zu sein. Und jetzt verlangte einer der dafür verantwortlichen Herren, dieser fette Schwäblein-Kunz, dass er, Thorst Schmitt, dies korrigieren sollte. Wer war er denn? Der Kriminaldirektor! Er trug für die Fehlleistungen in der Kommunalpolitik keine Verantwortung, die ihm der Kerl hinterm Schreibtisch offensichtlich aufhalsen wollte. Schmitt musste seine Gegenargumente nicht suchen.
„Wir, lieber Herr Schwäblein-Kunz“, der Name floss ihm salbungsvoll über die Lippen. Schmitt vermutete, dass er ironisch lächelte. „Wir haben in allen zur Diskussion stehenden Fällen die Tatsachen ermittelt. Da waren keine Fehler zu finden. Was Justiz, Verwaltung und Medien daraus machten, dafür sind weder ich noch meine Kollegen verantwortlich.“
Die Hände des Dezernenten klappten auf seine Brustwarzen. Wahrscheinlich waren die mit Nadeln durchstoßen. Schmitt biss sich auf die Zunge, um nicht zu lachen. Sofort schaltete Schwäblein-Kunz in den bewährten Defensiv-Modus. „Verstehe ich, Herr Schmitt, verstehe ich gut. Aber Sie werden mir zustimmen, dass wir, und da schließe ich Sie und Ihre Kollegen ausdrücklich ein, dass wir momentan mehr Kritik als Erfolge verzeichnen.“
Unliebsame Schlagzeilen aus Rathaus und dessen nachgeordneten Unternehmen rissen seit Jahren nicht ab. Der Sachsensumpf stank in Leipzig zum Himmel. Der Chef der kommunalen Wasserwerke spekulierte mit anvertrauten Geldern in Millionenhöhe und ließ sich mit Millionen schmieren. Nach vollbrachter Straftat schloss er einen Vergleich mit der Justiz, und die verhängte eine lächerliche Strafe. Zwangsprostituierte bezichtigten Richter und Staatsanwälte, sie missbraucht zu haben und mit ihren Zuhältern zu dealen. Zurzeit wurde wegen übler Nachrede verhandelt. Auch der Leiter der städtischen Verkehrsbetriebe stand in der Kritik, die Pensionsansprüche des ehemaligen Gewerkschafters sprengten die Kassen der Kommune. Erst nach Protesten wurde die Zahlung verweigert. Die Rechtsabteilung des Rathauses verkaufte Grundstücke, ohne deren Eigentümer zu befragen. Leipzig baute an der kürzesten U-Bahn Deutschlands, die mittlerweile mehr als eine Milliarde und doppelt so viel wie geplant versenkte. Ein Revolutionsdenkmal ward ausgeschrieben, das kaum ein Leipziger im Zentrum stehen haben wollte. Die Regionalpresse barst vor Hohn und Spott. Das Leipziger Rathaus lächelte und schwieg und machte im gleichen Stile weiter. Gern wurde vergessen, dass gar der amtierende Bürgermeister bereits wegen undurchschaubarer Finanzgeschäfte als Verantwortlicher von anderem Posten zurückgetreten war. Jetzt war er wieder dicke da, gegenwärtig kandidierte dieser Mann erneut als Oberbürgermeister. Die Opposition nominierte den ehemaligen Polizeichef für die nächste Wahl, glaubte damit die Stimmung für sich und Erfolge nutzen zu können. Schmitt graute es. Und jetzt saß dieser dicke Schwäblein-Kunz vor ihm und verlangte, dass er, Thorst Schmitt, ein besseres Bild der Stadtbediensteten herstellte. Unglaublich!
„Die Schlagzeilen, Herr Schwäblein-Kunz, sind nicht erlogen.“
„Das ist das Missliche daran.“
Schmitt glaubte nicht recht zu verstehen. Wollte Schwäblein-Kunz die Gesetzesbrecher im Rathaus schützen? Keiner konnte den Zeitungen vorschreiben, was sie druckten, wenn das den Tatsachen entsprach. Pressefreiheit. Und die Verfehlungen der Würdenträger waren Tatsachen, keine Verleumdungen. Jetzt tat Schwäblein-Kunz grad so, als müsste er, Thorst Schmitt, mit ihm gegen Journalisten kämpfen. Denn genau dafür wollte Schwäblein-Kunz ihn offensichtlich benutzen.
„Wir müssen dafür sorgen, dass die Medien ein objektives Bild unserer Arbeit abbilden.“
Der sprach, als ob er sich selbst nicht verstünde. Objektives Bild unserer Arbeit abbilden. Es hatte Zeiten gegeben, und Schmitt erinnerte sich gut daran, wo alle Öffentlichkeit gleichgeschaltet war und hundertzehnprozentige Übererfüllung aller Pläne jeden Tag die Titelseiten beherrschte. Jeder liefert jedem Qualität! Offensichtlich war auch die derzeitige Obrigkeit mit der Realität unzufrieden und versuchte, sich diese zurechtzubiegen wie in einer Diktatur oder Bananenrepublik.
„Herr Schmitt, Sie gehören ab sofort zu uns. Sie haben sozusagen die Seiten gewechselt. Wir müssen das Heft des Handelns in der Hand behalten!“
Die Politik sah die Diskrepanz zwischen Volk und Volksvertreter selbst, und Schwäblein-Kunz fand das offensichtlich ganz in Ordnung. Der Kriminaldirektor fasste es nicht.
Schmitts Ton wurde schärfer: „Nichts hindert Sie daran, Herr Schwäblein-Kunz. Erklären Sie, wieso Ihr Amt rechtwidrig Grundstücke veräußerte.“
„Ich habe nichts davon gewusst!“
„Aber ich soll eine Pressekonferenz zu diesem Thema geben?“ Schmitt schnaufte. „Herr Schwäblein-Kunz, es wäre an der Zeit, dass Sie und Ihre hochgestellten Kollegen die Verantwortung übernehmen, die Sie tragen. Ich werde mich in meinem Amt nicht hinter den kleinen Angestellten verstecken, wenn die Kacke am Dampfen ist. Verdammt noch mal, Sie werden doch dafür bezahlt, dass Sie die Pressekonferenzen geben, die Sie mir jetzt aufhalsen wollen. Das ist nicht mein Verantwortungsbereich, Herr Schwäblein-Kunz!“
Schmitt schwitzte und hatte das Gefühl, zu viel gesagt zu haben. Schwäblein-Kunz lachte. Und er beugte sich über den Schreibtisch wieder dem Kriminaldirektor zu.
„Sie verstehen mich nicht, Herr Schmitt, sind augenscheinlich in Ihrem neuen Amt noch nicht angekommen. Deswegen habe ich Sie auch um dieses Gespräch gebeten. Ich schiebe meine Verantwortung nicht ab, Herr Schmitt, ich übe sie aus. Weiß Gott, wie viele Interviews ich zu diesen leidigen Vorfällen gegeben habe. Aber auch Ihr Aufgabenbereich steht in der Kritik. Konkret.“ Schwäblein-Kunz wühlte pro forma in Papieren. Schmitt war sich gewiss, dass der Dezernent alle Fakten im Kopf hatte und den Vielbeschäftigten nur spielte. „Ah, hier.“ Ein kurzer Blick genügte Schwäblein-Kunz. „Eine vermisste alte Frau und keine Spur. Ein toter Knabe und zur Leiche keinen Namen. Ausufernde Taschendiebstähle. Fahrerflucht bei Unfall mit Todesfolge. Tankdiebstahl mit ungeheuren Zuwachsraten ... Ich will bloß sagen, lieber Herr Schmitt, auch bei Ihnen liegt manches im Argen. Ich hoffe, dass Sie Aufklärung bringen. Aber zuförderst wollte ich mit Ihnen persönlich in Kontakt kommen. Ich und Sie als quasi mir Unterstellter sollten einen guten Draht spinnen, quasi an einem Strang ziehen.“ Hätte Schwäblein-Kunz neben ihm gestanden, hätte der ihm zweifelsohne auf die Schulter gehauen. War in diesen Kreisen offensichtlich üblich. Der Dezernent hatte die rechte Hand bereits gehoben und ließ sie langsam wieder sinken. „Darauf zumindest einen Schluck Kaffee, lieber Herr Schmitt.“ Und Schwäblein-Kunz beugte sich über die Gegensprechanlage und gab seiner Sekretärin Order. „Zwei Kaffee!“ Und zu Thorst Schmitt gewandt: „Sahne? Zucker?“ Schmitt verneinte. „Beide schwarz, Dorothee.“ Und dann nickte Schwäblein-Kunz lächelnd.
Schmitt fühlte sich nicht nur auf dem Besucherstuhl vor diesem großen Schreibtisch deplatziert. Er konnte keine der Reaktionen von Schwäblein-Kunz deuten. Der sprach in Rätseln, mimte auf gute Zusammenarbeit und schiss ihn gleichzeitig an. Natürlich wusste Thorst Schmitt, dass Fälle ungeklärt waren. Die Aufgabe eines Kriminalpolizisten war, Täter zu überführen. Ein Verbrecher kündigte seine Straftat in der Regel nicht an und wollte unerkannt bleiben. Genau das warf ihm Schwäblein-Kunz vor. Einzig die Ermittlungsdauer konnte man seinen Kollegen zum Vorwurf machen. Aber die nutzten alle Möglichkeiten, arbeiteten am Rande des Nervenzusammenbruchs, litten selbst, wenn sie die Fälle nicht in angemessener Zeit klären konnten. Schmitt kannte die Gefühlslage, er war jahrelang Ermittler gewesen.
„Die Kollegen tun, was sie können.“
„Das ist zu wenig. Wir brauchen Erfolge. Wir müssen die Schuldigen finden. Unsere Menschen wollen in Sicherheit leben.“
Unsere Menschen! Schwäblein-Kunz redete wie ein Wahlkämpfer im Sozialismus. Unsere Menschen! Schmitt glaubte ihm nicht. Mit Erschrecken wurde dem Kriminaldirektor bewusst, dass solche Gespräche zum neuen Job gehörten. Er hatte nunmehr fast Mitleid mit Konstantin Miersch und verstand, warum ihn der Alte zu bedauern schien und gesagt hatte: Sie werden zwischen allen Stühlen sitzen, verehrter Kollege. Wie Sie auch entscheiden, einigen kann es nicht recht sein. Der verantwortliche Dezernent saß ihm gegenüber und präsentierte schon wieder seine Handflächen und bewegte die Finger. Schon jetzt gab es Momente, wo Thorst Schmitt es bereute, sich für den Posten des Kriminaldirektors beworben zu haben.
An der Tür klopfte es kurz, und eine schmucke Sekretärin oder Managment-Assistentin servierte den Kaffee in goldenen Tässchen, deren Henkel für Schmitts Hand zu klein war. Schwäblein-Kunz spreizte die Finger, als er seine Tasse zum Munde führte. Für Schmitts Geschmack war der Kaffee nicht stark genug. Er griff zum Mürbeteigplätzchen, das auf der Untertasse lag. Auch das schmeckte erstaunlich lasch. Sie leerten nunmehr schweigend ihre Tassen.
„So, lieber Schmitt, ich wünsche Ihnen für Ihre Vorhaben viel Erfolg. Führen Sie die Leipziger Kriminalpolizei zu neuen Erfolgen. Ich vertraue Ihnen völlig. Sie haben meine vollste Unterstützung.“ Dann senkte Schwäblein-Kunz seine Stimme. „Und falls Sie Rat oder Hilfe brauchen, meine Tür steht Ihnen jederzeit offen.“ Damit wies er auf den Ausgang ins Vorzimmer. Schmitt folgte der Richtung, die die Hand des Dezernenten wies.
„Hat mich sehr gefreut, Herr Schwäblein-Kunz“, sagte Schmitt.
„Ganz meinerseits, lieber Herr Schmitt. Ich hoffe, in nächster Zeit nur positive Schlagzeilen zu lesen.“
„Ich werde mein Möglichstes tun.“
„Wir tun es gemeinsam.“
Damit knallte die Bürotür hinter Schmitt ins Schloss. Der Kriminaldirektor war sich nicht sicher, ob er einen neuen Freund gefunden hatte. Aber für erfreuliche Presse würde er sorgen. Schon im eigenen Interesse. Kohlund würde er als Direktor schnelleres Handeln befehlen. Bei der Schabowski würde er mal in die Akten schauen, ob er nicht einen Erfolg versprechenden Hinweis fand, um ihr zu helfen. Und er musste eine Leitungssitzung einberufen und den Kollegen mal die Meinung sagen. Schmitt schwor sich, nicht noch einmal so dumm vor Schwäblein-Kunz zu stehen. Diesem Herrn würde Schmitt Paroli bieten. Was glaubte denn dieses Arschloch, wer er war!
Schmitt nickte der Dorothee hinterm Vorzimmertisch exakt zu. Auf Wiedersehen wollte Kriminaldirektor Thorst Schmitt nicht sagen, wusste aber, dass er noch öfter diesen Weg zu gehen hatte.