15.

Ein Mann verließ das Einfamilienhaus gegenüber und war erschrocken, als er das Polizeiauto bemerkte. Auf der schmalen Straße der Siedlung waren mehrere Einsatzwagen eng am Straßenrand geparkt. Agnes Schabowski hatte kein gutes Gefühl, aber Bastian Michalk hatte sie überredet, Toralf Fischers Verhaftung und eine umfassende Durchsuchung seines Grundstücks beim Staatsanwalt zu beantragen. Nicht nur der Kriminaldirektor auch die Öffentlichkeit erwartete Ergebnisse oder zumindest Aktivitäten der Polizei im Fall Gerlind Hopstock. Der Staatsanwalt hatte nicht lange gezögert, die Genehmigungen unterschrieben und keine Fragen gestellt. Michalks Argumentation hatte selbst Schabowski beeindruckt. Jetzt saß das SEK in den Kleinbussen und wartete auf den Abruf. Die Kommissarin musste nur noch den Befehl zum Einsatz geben.

An einem dünnen Pfirsichbäumchen bewegten sich Blätter. Auf den Fensterbrettern blühten Geranien. Die Rollos dahinter waren heruntergezogen. Wahrscheinlich schliefen die Fischers noch. Sechs Uhr fünfzehn bewies Schabowski ein Blick auf die Uhr. Vorruheständler und Pensionäre mussten nicht aus den Betten. Zumal am Sonnabend, da schlief die ganze Stadt aus. Auch die Kommissarin hätte länger im Bett bleiben können. Ihr Lover aber murrte nur kurz, als der Wecker geklingelt hatte und war mit ihr unter die Dusche gestiegen. Sie hätte sich danach wieder hinlegen mögen. Hainar Krumpholz hatte es getan und ihr aus den Federn beim Verlassen der Wohnung gewunken. Schabowski roch sein Shampoo for Men auf ihrer Haut. Bastian Michalk neben ihr duftete süßer.

„Die Kollegen warten!“

Der Satz war ein Vorwurf. Michalk hob seinen Arm, als ob er ihr über die Hand streichen wollte. Das hatte Schabowskis Oma immer getan. Meine Kleine, wat mut, dat mut. Ja, klar doch, es musste. Aber die Kommissarin hatte kein gutes Gefühl. Sie war sich ihrer Ermittlungen immer sicher gewesen, hatte stets alle Handlungen genau geplant und durchdacht. Schmitt hatte bei der Dienstberatung endlich Erfolge gefordert. Schabowski war es recht, als ihr Michalk Vorschläge machte. Der junge Kollege glaubte, das Verschwinden von Gerlind Hopstock erklären zu können. Toralf Fischer hatte seine Schwiegermutter getötet und vergraben. Wahrscheinlich auf dem eigenen Grundstück. Dieser Mord musste Fischer nur bewiesen werden. Schabowski gab zu, dass Michalks Schlussfolgerungen in sich logisch waren und allen Fakten Rechnung trugen. Fischers Alibi konnte mit wenigen Kniffen gebaut worden sein. Sie würden es zerpflücken können. Zweifel an Modellbau und Training hatten sie immer. Und Toralf Fischer hätte dann sowohl Gelegenheit als auch einen Grund gehabt, seine Schwiegermutter zu beseitigen. Er ertrug die Familiensituation nicht länger. Dieses Leben als Qual mit der Oma gestand Toralf Fischer auch ein. So hatte er sein Motiv selbst bestätigt, und ein unsicheres Alibi hatte er noch dazu. Auch Schabowski hatte in dieser Richtung ermittelt. Aber die Verdachtsmomente gegen Toralf Fischer schienen ihr nicht hinreichend genug. Sie traute diesem Mann die Gewalttat an der alten Frau nicht zu. Zumal Fischer damit seine Gattin an den Rand des Wahnsinns getrieben hätte. Beate Fischer hatte den bereits überschritten, empfand Schabowski. Ein Familiendrama.

Michalks Finger hoben und senkten sich auf dem Gummibezug des Lenkrads. Einen Rhythmus konnte Schabowski in den kleinen, schmatzenden Geräuschen nicht erkennen. Vielleicht Depeche Mode, obwohl Schabowski nicht glaubte, dass der junge Mann neben ihr diese Band kannte. Die Kommissarin ging noch heute manchmal inkognito zu den einschlägigen DeMo-Partys in die Moritzbastei oder ins Werk II. Vielleicht würde sie Hainar Krumpholz bei der nächsten begleiten. Michalk blickte Schabowski aller Sekunden kurz zu, stand augenscheinlich kurz vor der Explosion. Wat mut, dat mut.

„Also los, Michalk, geben Sie den Einsatzbefehl.“

Bastian Michalk blies stolzgeschwellter Brust in ein Pfeifchen, das einen spitzen Ton von sich gab und fühlte sich augenscheinlich wie der Chef der GSG 9. Mit Elan öffnete er die Fahrertür und sprang katzengleich auf das Haus der Fischers zu. Hinter ihm die Kollegen waren vermummt und hielten ein riesiges Eisen im Anschlag, um notfalls mit ein, zwei Schlägen die verriegelte Türe zu öffnen. Schabowski hatte unterschätzt, wie viele Kräfte zu einem Sondereinsatzkommando gehörten. Der Vorgarten der Fischers wurde von ihnen niedergetrampelt. Beate Fischer würde um ihre sorgsam gepflegten Kräuter weinen. Am Pfirsichbaum knickten Zweige. Dann suchten die vermummten Polizisten Deckung hinter Büschen und Sträuchern, Bastian Michalk drückte die Klingel. Tatort live.

Der schnarrende Ton war überlaut, hörte Schabowski. Die im Garten verteilten Einsatzkräfte scharrten bereits mit den Füßen. Michalk gebot ihnen abzuwarten, dann legte er sein Ohr an die Holztür, nickte und winkte ab. Das war das Zeichen für die Kollegen, ihre Habachtstellung aufzugeben. Die Haustür öffnete sich, und Toralf Fischer stand mit nacktem Oberkörper und geblümter Pyjamahose im Rahmen. Er blinzelte in die Morgensonne, erschrak. Es war der Körper eines alten Mannes, nicht der von Hainar Krumpholz, der bei ihr im Bett lag. Schabowski schämte sich, dass Toralf Fischer sich so präsentieren musste.

„Sie sind Toralf Fischer?“, fragte Michalk, als ob er es nicht wüsste. Fischer wurde sich des Aufgebots in seinem Garten bewusst und zog sich schamhaft hinter die Türe zurück. „Sie sind Herr Toralf Fischer, geboren am 4. September 1947 in Kleinwölkau in Sachsen?“

Fischer nickte. Sie sahen nur seinen Kopf, und auch den nur zur Hälfte. Schabowski hatte sich mittlerweile zu Michalk begeben. Der präsentierte seine Handschellen.

„Herr Toralf Fischer, Sie sind verhaftet!“

„Warum?“

Die Frage kam langsam, als schien Fischer noch nicht verstanden zu haben.

„Sie stehen in dringendem Tatverdacht, Ihre Schwiegermutter Gerlind Hopstock ermordet zu haben.“

Fischer kam hinter seiner Tür wieder hervor. Sein Brustkorb pumpte. Seine Stimme klang aggressiv. „Und wo bitte habe ich Omas Leiche entsorgt? In meinem Haus haben Sie keine Säurefässer gefunden, in denen ich sie hätte auflösen können!“ Und er breitete seine Arme, als würde er sie einladen wollen.

„Genau deswegen werden wir Ihr Wohnhaus noch einmal durchsuchen“, schmetterte Michalk. „Die Kollegen sind vorbereitet.“ Der Kommissar verwies auf die Mannschaft, die in weißen Anzügen mit Köfferchen, Tüten und Gerät auf dem Gartenweg stand. Berger von der Technik und seine Kollegen setzten sich in Bewegung. Um sie vorbeizulassen, trat Schabowski einen Schritt zurück in das Beet mit den verblühten Tulpen. Die Scharfschützen im Tarnanzug und die Vermummten vom SEK mit Ramme begaben sich auf den Rückweg zu ihren Kleinbussen. Ihr Einsatz wäre nicht nötig gewesen, aber Schabowski hatte bei der Planung ihrem jungen Kollegen freie Hand gegeben. Jetzt würde sie bei Schmitt die Einsatzkosten verteidigen müssen. Vor der Diskussion graute der Kommissarin schon jetzt.

So wie Toralf Fischer in der Tür stand, glich er eher Rhys Ifans in Notting Hill als einem kaltblütigen Mörder. Jetzt kratzte der sich am Hintern. Schabowski blickte den sich entfernenden SEK-Kräften nach und bemerkte, dass sich einige Gardinen der Nachbarhäuser bewegten. Beate Fischers Garten glich mittlerweile dem Zeltplatz nach dem Wave-Gotik-Treffen. Kein Hälmchen stand grade.

„Toralf? Isses de Post?“, rief es plötzlich im Flur. Schabowski wandte sich wieder der Haustüre zu. Toralf Fischer sprach die Treppe nach oben.

„Ja, lege dich schlafen. Ich komm’ gleich.“

„Aber zeitig, die Post. Oder sind’s die von der Reklame? Edeka steckt doch heute die Angebote der Woche in den Kasten. Guck mal!“

„Ja, Schatz, Ja, ja, lege dich hin, ich geh gucken“, Damit drehte sich Fischer Kommissar Bastian Michalk wieder zu. „Ich nehme an, Sie haben Haftbefehl und einen Durchsuchungsbefehl?“ Michalk hielt die Schreiben in beiden Händen und wedelte damit vor Toralf Fischers Gesicht wie ein Clown. „Sie werden Oma bei uns nicht finden.“ Damit gab Fischer den Korridor frei, und Bergers Männer betraten das Haus.

„Keller zuerst. Zwei Mann Erdgeschoss. Zwei erster Stock.“

„Meine Frau schläft noch!“

„Sie werden Ihre Verhaftung vor Ihrer Frau nicht geheim halten können. Auch nicht die Durchsuchung.“

„Sicher.“ Toralf Fischer ging ihnen ins Wohnzimmer des kleinen Hauses voraus. Schabowski und Michalk folgten ihm. Die Kommissarin wusste nicht, wir sie die nächste Zeit überbrücken könnte. Die Beschuldigten sollten bei einer Wohnungsdurchsuchung anwesend sein. Zumindest Zeugen aus der Nachbarschaft. Die Ermittler drangen in die Privatsphäre fremder Menschen, in deren Intimstes ein. Durchsuchungen blieben Schabowski unangenehm. Bergers Leute würden künstliche Gebisse, Unterwäsche, die geheime Pornosammlung betrachten. Sie sahen die Spinnen an den Wänden und die ungeputzte Toilette. Polizisten sollten sich keine Meinung über Charakter und Gesinnung der Verdächtigen bilden. Tatsachen zählten, nichts anderes. Aber es war nicht zu vermeiden, dass Emotionen bei den Ermittlern ausgelöst wurden, wenn sie die Grenze der privaten Sphäre überschritten, im Namen des Gesetzes überschreiten mussten.

„Bitte nehmen Sie Platz.“ Und Fischer wies auf das Sofa, das einer Sitcom der Neunzigerjahre abgekauft worden schien. Gegenüber der Couch in der polierten Schrankwand standen Puppen und Püppchen und merkwürdig geformte Schnapsflaschen. Neben Modellbau schien Fischers Hobby das Sammeln seltener Gefäße von Alkoholica zu sein. Dreieckig, achteckig, Tropfen waren die Flaschen. Der Hausherr stand am Fenster und zog das Rollo nach oben. Ein diffuses Licht durchfloss den Raum. Vorm Fenster sah Schabowski das SEK die Kleinbusse anfahren. Die Straße verfiel wieder in ihre wohlanständige Wochenendruhe. Hinter den Zäunen der nachbarlichen Vorgärten schauten verschlafene Menschen herüber.

Die Kommissare nahmen auf der alten Couch Platz. Schabowskis Hintern war die Polsterung zu weich. Sie schien zu versinken. Ihre Hände fanden in ihrem Schoß Ruhe. Sie musterte Fischer. War dieser etwas dickliche Herr mit der kahlen Stelle am Hinterkopf ein Mörder? Sein Bauch hing ihm über die bunte Pyjamahose. Darauf erkannte sie Mohnblumen und Wiesenschaumkraut. Um die Brustwarzen wuchsen Fischer sehr lange Haare. Sein nackter Oberkörper war ihm nicht peinlich, oder er hatte verdrängt, dass er sich in Gegenwart von Fremden befand. Dass die Nacktheit eine Provokation sein könnte, den Gedanken verwarf die Kommissarin. Dafür waren Haushalt und Gestalt Fischers einfach zu traurig.

„Sie auch einen Kaffee?“ Und Toralf Fischer blickte sie herausfordernd an. Sein linker Brustmuskel zuckte. Die Haare darauf schienen sich in Wellen zu bewegen. Schabowski hatte den Spruch Wir trinken im Dienst nicht auf der Zunge und nickte. Die Zeremonie eines Morgenkaffees lenkte vielleicht ab und ließ nicht nur Toralf Fischer Zeit vergessen. Schabowski überlegte, ob sie dem Hausherren nachrufen sollte: Bitte ziehen Sie sich etwas drüber!

„Erkälten Sie sich nicht“, bemerkte Bastian Michalk zu Fischer.

Schabowski musste lächeln. Und sah sich nochmals im Zimmer um, das sie so oft schon gesehen hatte. Der Fernseher stand auf einem Servierwagen, sodass man ihn je nach Blickwinkel in Position schieben konnte. Darunter lagen Illustrierte, die sicherlich Beate Fischer las oder für ihre Mutter gekauft hatte. Schabowski lächelten Babs Becker, Charlene und Prinzessin Estelle von den Covern entgegen. Die Schlagzeilen ließen größere Tragödien vermuten, als sie die Fischers gerade durchlebten.

In der Küche klapperten Töpfe. Wasser lief. Bastian Michalk neben ihr hatte die Augen geschlossen und schien an etwas sehr Schönes zu denken. Seine Lippen verzogen sich in einem Lächeln. Zumindest kam es Schabowski so vor.

Die Kommissarin erhob sich vom Sofa und trat ans Fenster. Auf dessen Brett seltene Pflanzen gediehen. Eine zeigte ungewöhnlich geformte gelbe Blüten, von denen die Kommissarin glaubte, sie schon einmal im Botanischen Garten betrachtet zu haben. Auf der Straße vorm Haus standen die Autos der Polizei. Neugierige liefen langsam an ihnen vorbei, taten so, als würden sie zum Bäcker oder in den Supermarkt schlendern. Schabowski erkannte in ihrem Verhalten das Interesse an der Sensation. Verstohlene Blicke schielten zum Haus, in dem die Ermittler verschwunden waren. Nicht lange würde es dauern, und rotweiße Bänder würden die Bürger vom Haus trennen müssen. Ein gebeugter Mann war bereits stehen geblieben, sein Hund folgte auf den Befehl Sitz! oder er simulierte ein großes Geschäft. Der Bewohner vom Haus gegenüber schob einen Liegestuhl auf die winzige Wiese und griff zur Zeitung. Samstag 7 Uhr schien Schabowski eine ungewöhnliche Zeit für diese Lektüre im Freien.

„Gleich fertig!“, rief Toralf Fischer aus der Küche. Dann klapperte Geschirr und Schranktüren schlugen. Als Fischer mit Tablett in der Tür stand, hatte er einen Bademantel über seine Blöße geworfen. Die Kaffeetassen dampften, als er sie auf den Couchtisch stellte.

„Zucker? Sahne? Karamel? Ich kann auch schnell noch Milch aufschäumen. Wir haben uns extra einen Apparat dafür gekauft. Oma schaute gern zu, wenn die Blasen über den Becherrand quollen.“

Sowohl Michalk als auch Schabowski lehnten dankend ab. Zuckerdose und Sahnekännchen standen bereits auf dem Tablett. Michalk griff zu und fragte per Blick, ob Schabowski etwas davon wolle.

„Ein Schlückchen Milch“, sagte sie, „ich gewöhn’ mich langsam an sächsische Bräuche.“

„Ich trinke schwarz“, sagte Fischer. „Hat mein Vater schon so getan.“

Schabowski nahm wieder ihre vertraute Haltung auf dem Sofaplatz neben Kollegen Michalk ein. Wenn diese traute Gemeinsamkeit jemand betrachten würde, hätte er den Eindruck einer kleinen Familienfeier. Nur die Geräuschkulisse, die Bergers Mannen bei ihrer Arbeit verursachten, störte. Dann erschien plötzlich Beate Fischer. Sie stand in der Tür mit Köfferchen und einem vollen Lidl-Plastebeutel Über ihren Arm hatte sie einen Mantel gelegt.

„Wenn sie dich mitnehmen, bleibe ich bei dir. Das hätte ich schon bei Oma tun sollen. Die Sachen habe ich schon gepackt.“ Sie hob den Beutel ihnen entgegen.

Schabowski verbrannte der Kaffee trotz Milch die Zunge.