16.

„Mein Mann lässt sich entschuldigen. Der Zins ist wieder gestiegen. Eine Krisensitzung jagt die nächste. Er ist kaum noch zu Hause.“

Eileen Proksch nahm drei Klappstühle und trug sie auf den Rasen hinter der Kirche. Dieser vermittelte den Eindruck einer Streuobstwiese, obwohl keine Obstbäume darauf standen. Zwei Linden und eine Weide, und an der Mauer machte Kohlund eine kleine Zierkirsche aus, die bald in Blüte stehen würde. Er war sich unsicher, aber der Kommissar griff ebenso zu den Gartenmöbeln und lief Eileen Proksch damit hinterher. Diese Frau schien Kohlund nicht im Alter einer Mutter, deren Sohn zum Abitur strebte. Ihre schlanke Gestalt wurde durch ein eng anliegendes Kleid überbetont. Ihr Hüftschwung glich dem von Models, wenn sie vor Heidi Klum promenierten, um sich danach beschimpfen zu lassen. Im blonden Haar glänzte die Sonne. Sie trug es nach oben gesteckt. Einige Strähnen waren aus der Halterung gefallen. Mit graziler Bewegung lehnte Eileen Proksch das Gestühl an eine Mauer. Kohlund stellte seines daneben.

„Heute Abend tritt im Garten unser Kirchenchor auf. Wenn Sie wollen, ich lade Sie ein.“

Das Angebot war Lars Kohlund peinlich, und er konnte nicht sagen warum. Nicht, dass er nicht zu Konzerten ging. Als Kulturmuffel bezeichnete ihn manchmal seine Frau. Aber er hatte sehr wohl die Weltliteratur der Musik live gehört von Wagner über Mozart bis hin zu Stockhausen oder Siegfried Matthus’ Grete Minde. Die Assoziation ließ sich augenblicklich nicht vermeiden. Eine junge Mutter findet in der Welt keinen Halt und wird zur Attentäterin. Grete Minde legte Tangermünde in Schutt und Asche. Er würde Alexia nie verlassen, ob schwanger oder nicht. Aber Alexia wollte kein weiteres Kind. Sie hatten seit dem Geständnis im Bayrischen Bahnhof jedes Gespräch darüber abgebogen. Doch stand das Ungeborene wie eine Mauer zwischen ihnen. Kein Wort, keine Geste von ihr, wo er es nicht mitdachte. Im Bad könnte der Wickeltisch stehen. Im Supermarkt gab es Windeln in unüberschaubarer Auswahl, Breichen, Milch und Milchersatz. Sie hatten Charlotte und Gisbert die ersten Monate neben ihrem Ehebett schlafen lassen. Jetzt stand zumindest ein Zimmer frei, auch das zweite wurde nicht mehr regelmäßig genutzt. Die großen Geschwister würden vom Kleinen das Wägelchen fahren und gerne der Babysitter sein.

Und was heißt Geständnis? Alexia hatte ihm den Fakt ihrer Schwangerschaft einfach um die Ohren gehauen. Er konnte ihn und die Folgen akzeptieren, auch wenn sich sein Leben gewaltig ändern würde. In den Lebensjahren, in dem andre Männer Opa wurden, könnte er zum dritten Mal Vater werden. Ein wenig Stolz darauf spürte er. Aber Alexia wollte nicht mehr als Mutter ein Kleinkind betreuen. Ich will kein Kind mehr in meinem Alter. Die Windeln. Das Schreien. Die Angst bei Schule und Job. Ja, als Oma vielleicht. Lange konnte sie ihre Entscheidung nicht mehr hinauszögern. Der endgültige Termin für die Fristenlösung lief ab.

Eike Prokschs Mutter setzte sich auf einen der Stühle, die bereits wie im Zuschauersaal unter den Linden standen. Der Kommissar nahm in der Reihe vor ihr Platz und wendete Eileen Proksch sein Gesicht zu. Ihre Züge waren ebenmäßig. Die Wangenknochen hoch und weit auseinanderstehend. Sie war ungeschminkt, trotzdem sahen die Wimpern wie angeklebt aus. Eileen Proksch sah den Kommissar erwartungsvoll an. Er konnte der Mutter jedoch keine Hoffnungen machen. Ihr Sohn war die Leiche im Zwenkauer See. Die Analysen der Gerichtsmedizin hatten das bestätigt. Zweifel an der Identität des Toten war nicht mehr möglich. Es gab keine Hoffnungen mehr. Der Kommissar senkte seinen Blick aus der Baumkrone und wandte ihn Eileen Proksch wieder zu.

„Was steht denn heute Abend auf dem Programm?“

„Luther, Geibel, ... man muss wieder glauben lernen. Vierzig Jahre Sozialismus haben viel verschüttet, und Glauben tut Not. Ich weiß, wovon ich spreche.“

„Glauben Sie, das mit einem Konzert ändern zu können?“

Die Mutter schaute, ihm direkt in die Augen, als wollte sie ihn auf den Stuhl nageln. Zweifel sah Kohlund. Ungläubigkeit. Und immer noch Hoffnung, dass alles gut werden würde.

„Sie sind nicht gekommen, um über den Glauben zu diskutieren.“

„Nein.“

Kohlund hatte nie den Drang verspürt, Gottesdienst und Kirche zu besuchen. Er war Atheist. Seine Eltern hatten nicht zu einem Gott gebetet. Er tat es nicht. Er hatte die üblichen Stationen jugendlicher Entfaltung in der DDR durchlaufen: Jungpioniere, Thälmannpioniere, Freie Deutsche Jugend. GST, der Fahrerlaubnis wegen: billig und schnell. Bis heute waren ihm Gebete suspekt. Zu wem sprach man? Wer hörte zu? Er glaubte an kein höheres Wesen. Auch als die Kirchen in Wendezeiten überfüllt waren, hatte Kohlund nicht in ihnen gesessen. Seine Tochter besuchte zur Weihnacht das Krippenspiel. Eine Schulfreundin gab die Maria oder eine andre Figur.

Jetzt saß er in der verblassenden Sonne Eileen Proksch gegenüber. Familie Proksch lebte aktiv in der Kirchgemeinde seit sie in Leipzig zugezogen war. Der Kommissar hatte die Nachbarn gefragt, wo er Mutter und Vater treffen könnte. Die Prokschs waren für ihn telefonisch nicht erreichbar gewesen. Und heute Morgen lagen die Gutachten aus Jaenickes Klinik auf seinem Schreibtisch. Der Kommissar fand, dass das Resultat sofort der Familie mitgeteilt werden müsse. Fast ein halbes Jahr hatten sie darauf gewartet. Deswegen hatte der Kommissar nach Vater und Mutter gesucht. Die sind sicher beim Pfarrer. Seit das mit Ihrem Sohn ... Wenn Gott ihnen hilft, hörte er. So war Kohlund zur Kirche gefahren, wo die Aktiven den Konzertabend vorbereiteten. Jetzt saß er unterm Lindenbaum, und Eileen Proksch vermied es wie er, auf das Unvermeidliche zu sprechen zu kommen.

„Eike hatte auch nach dem Stimmbruch einen sehr klaren Tenor. Unser Chorleiter hat ihn sogar mit Soli betraut. Herr, errette mich!“ Kohlund kam es vor, als wäre just dieser Text von Siegfried Matthus vertont worden. Eileen Proksch sprach nach kurzer Pause weiter: „Trotzdem stand auf Eikes Zeugnis in Musik die Note zwei.“ Dann atmete die Mutter tief. „Mein Sohn passte nicht in diese Stadt und hat sich in seine Heimat zurückgesehnt. Dort wohnten wir in der Natur. Nette Menschen. Seine Hauskatze Bombassad. Der Taunus. Wenn Sie ihn kennen.“ Sie blickte kurz auf. „Hier ist alles so künstlich, selbst Berge und Seen.“

Die Mutter schien sehr bewusst alle Fragen zu umgehen, um zu erfahren, warum er ihr gegenübersaß. Aber es gab keinen Zweifel: Ihr Sohn Eike war tot. Und auch der Kommissar wich dem Thema noch aus. „Wo ist Ihr Gatte?“, fragte er.

„In der Bank. Seit Monaten wird er zu Sondersitzungen gerufen. Mal fällt der Euro. Mal fällt der Zins. Mal hat ein Politiker mit unbedachten Äußerungen die Märkte in Turbulenzen gebracht. Nirgendwo geht es aufwärts. Glauben Sie mir, kein Geld wiegt diesen Job auf. Einar ist kaum noch daheim, und wenn, ist er mit seinen Gedanken auf Arbeit.“

Kohlunds Mitleid hielt sich in Grenzen. Einar Proksch konnte den stressigen Job eines Bankers auch kündigen. Niemand war verpflichtet, gegen seinen Willen und ohne die Bezahlung von Überstunden mitzutun. Gut, auch er hielt sich nicht immer an diesen Vorsatz. Aber der Kommissar hatte sich seine Meinung über Herrn Proksch schon lange gebildet. Kündigung, das stand für den nicht zur Diskussion, Proksch hatte sich wahrscheinlich wegen der Karriere aus dem Taunus in den Osten versetzen lassen. In den neuen Bundesländern verlief der Aufstieg in den hierarchischen Systemen schneller. Immer noch, nach über zwanzig Jahren Angleichung der Lebensverhältnisse. Den Wohnort Königstein gab niemand freiwillig auf, zumindest konnte sich Kohlund das nicht vorstellen. Wer tauschte diese feine Adresse mit Markkleeberg in Sachsen?

„Eigentlich wollte Einar, mein Mann“, Eileen Proksch lächelte entschuldigend, schien Kohlund jedoch irgendwie mit den Gedanken woanders zu sein, „er wollte heute die Baritone verstärken, hat extra zu Hause geübt, ... kann ja nicht immer zu den Proben, bei seinem Pensum.“ Sie lächelte still. „Nun hat ihn sein Chef vor zwei Stunden ins Bankhaus gerufen. Wieder nix mit einem gemeinsamen Abend. Kann dauern, hat Einar noch zu mir gesagt. Verbring ich die Stunden eben bei guten Freunden, die mir hier geworden sind.“ Und Eileen Proksch wies auf die wuselnden Frauen, die ein Kuchenbuffet aufbauten. Auf die Männer, die Biergarnituren rückten. Und auf Kinder, die erstaunlich ernst Spiele spielten. Dann sah Eileen Proksch dem Kommissar direkt in die Augen. „Nun kommen Sie, wie kann ich helfen?“

Kohlund schluckte. Plötzlich war Eileen Proksch zum Frontalangriff übergegangen. Er hatte sich seine Worte noch nicht zurechtgelegt. In den meisten Fällen verpflichtete er Kollegen, die dann die deprimierenden Nachrichten überbringen mussten. Heute konnte Kohlund diese Aufgabe nicht delegieren. Als er in die Augen der Mutter sah, wusste er, dass Eileen Proksch schon verstanden hatte. Vielleicht hatte sie es immer gewusst.

„Wir haben Ihren Sohn gefunden.“

Eileen Proksch schaute ihn unverwandt an.

„Er ist tot. Seine Leiche lag im Zwenkauer See.“

Die Mutter sah ihn weiter ohne ein Blinzeln ins Gesicht, starr und ohne wirklich etwas zu fixieren. So war der Kommissar gezwungen, weiterzusprechen.

„Die Umstände seines Todes sind mysteriös. Auch deswegen bin ich bei Ihnen. Wir versuchen, sie zu klären.“

„Hat er sehr leiden müssen?“

„Wir wissen es nicht, doch die Mediziner sind der Meinung, wohl eher nicht. Die Umstände seines Todes, sie sind ungeklärt, was nicht heißt, Ihr Sohn ist auf keine natürliche Weise gestorben.“ Der Kommissar fühlte sich verpflichtet, es der Mutter genauer zu erklären. Aber er war sich unsicher, ob sie ihm überhaupt zuhörte. Eileen Proksch drehte eine der Haarsträhnen in ihrer Hand.

„Spuren äußerer Gewalt wie Messerstiche, Drosslungsmarken, Knochenbrüche durch Schläge oder Unfall konnten nicht nachgewiesen werden. Trotzdem ergeben sich für uns natürlich Fragen. Wissen Sie, ob Eike sich öfter im Tagebaugebiet verabredete? Fuhr er dort Rad? Beobachtete er die Natur?“

„Ich glaube nicht, dass er überhaupt jemals ohne uns dort war.“ Eileen Proksch sprach sehr klar. „Meinem Sohn war die Landschaft so fad wie mir. Die Hügel gleichen Golfplätzen, die Teiche denen in den Vorgärten, nur sind die da größer. Die Bäume, sie sind hier dünn und sehr biegsam. Bei uns daheim standen Buchen und Eichen und Kastanien im Wald.“

Der Kommissar blickte in die Linde nach oben. Er hatte verstanden. Eileen Proksch fühlte sich als Exilantin. Sie und vielleicht auch ihr Sohn waren in Leipzig niemals angekommen. Die Bäume zu dünn. Die Seen zu künstlich. Die Landschaft war fad. Der Taunus war ihnen Heimat geblieben. Wenn Eileen Proksch über ihn sprach, kam in ihre Augen ein Leuchten. Hier war sie nicht zu Hause. Sie war aus Liebe ihrem Mann nach Leipzig gezogen. Sie hatte den Umzug längst bedauert. Nun fesselte sie der Beruf ihres Mannes an diesen Ort, den sie nicht liebte.

Heute saß Eileen Proksch in einem Kirchgarten und schleppte Stühle, um den Glauben zu stärken. Offenbar war sie ihrem Mann blind gefolgt, hatte nicht die eigene Befindlichkeit in Rechnung gestellt. Und ihr Unbehagen hatte die Mutter auf den Sohn übertragen. Sie hatte Aufnahme in der Gemeinde gefunden, doch wohlfühlte sich Eileen Proksch offensichtlich auch hier nicht.

„Hatte Eike Freunde?“

„Was heißt das? Kann man die haben? Wer kennt einen wirklich?“ Eileen Proksch blickte hinauf zu den Blättern und seufzte. Wahrscheinlich vermisste sie Freunde ebenso wie ihr Sohn. „Er fühlte sich nicht unwohl in seiner Schule. Manchmal nahmen ihn die sogenannten Kameraden mit zu Feten oder auf einen Ausflug. Nur warm geworden ist Eike mit den Typen nie wirklich.“

„Und Mädchen?“

Die Mutter blickte ihn erstaunt an, als wäre allein die Frage schon ungehörig. „Eike war noch keine fünfzehn!“

„In diesem Alter hatte mein Sohn bereits eine Freundin.“ Es war Lars Kohlund bis heute peinlich, dass er das Geständnis dieses ersten sexuellen Kontakts beinah aus Gisbert herausgeprügelt hatte. Er hatte den eigenen Sohn eines Verbrechens verdächtigt. Gisbert hatte es ihm bis heute nicht verziehen, das glaubte zumindest der Vater. Und wahrscheinlich war es auch so.

„Mit fünfzehn, ich bitte Sie!“ Eileen Proksch schaute den Kommissar an, als ekele sie sich vor ihm. „Ich hatte bis zu meiner Heirat keinen außerehelichen Verkehr.“ Das mochte so sein, dachte Kohlund, aber in Pornohefte oder Sexshops wirst du schon geschielt haben. Das tut jeder in diesem Alter. Auch gläubige Mädchen.

„Hatte Ihr Sohn Kontakt zu Männern?“

„Was erlauben Sie sich!“ Die Mutter war vom Sitz aufgesprungen. „Ich bin ja manches von den Leuten im Osten gewöhnt, aber dass ist unverschämt. Unverschämt, Herr Kommissar! Mein Sohn ist nicht schwul!“

„Das habe ich nicht behauptet.“

Mein Sohn ist nicht schwul! Selbst wenn es so wäre, könnte die Mutter dagegen nichts tun. Eileen Proksch hatte Ansichten, als wäre sie im Alter ihrer Oma. Kohlund sollte Eileen Proksch einmal Grischa Merghentin vorstellen, vielleicht nahm der ihr Angst und Vorurteile. Auch Merghentin kam aus dem Westen, hatte hier aber offensichtlich schnell Anschluss und Freunde gefunden. Vor den Realitäten konnte man nicht die Augen schließen, die Brutalität des Öffnens danach war weitaus grauenvoller. Wenn nicht mit Schadenfreude, so doch sehr bewusst, sagte der Kommissar den nächsten Satz.

„Ihr Sohn wurde in Damenkleidung gefunden.“

Eileen Proksch fiel zurück auf ihren Stuhl und atmete, als hätte sie einen Asthmaanfall. Dann ließ sie die Strähne los und fuhr sich mit beiden Händen durchs blonde Haar. Ihre Augen hielt sie geschlossen. Offensichtlich zählte sie, um sich zu beruhigen. Ihre Finger hob sie in Wellen: eins, zwei, drei, vier, fünf. Mit der anderen Hand das Gleiche. Dann noch mal von vorn. Und immer wieder.

Eine der Frauen vom Kuchenbuffet rief ihnen etwas herüber, was Kohlund nicht verstand. Vielleicht lud sie sie beide auf einen Kaffee ein. Eileen Proksch ihm gegenüber schien bewusstlos. Nur die Finger zeigten Leben: eins, zwei, drei, vier, fünf. Mit der anderen Hand das Gleiche. Kohlund schwieg.

„Warum tun Sie mir das an?“

„Was glauben Sie?“