17.

„Trauen Sie sich das zu?“

Er hatte genickt und noch einmal genickt, jedes Wort schien ihm Verschwendung. Er hatte nie Zweifel gehabt. Natürlich traute er sich das zu. Er hatte es sich immer zugetraut. War nur nie ernst genommen worden. Seit Monaten, Jahren hatte er den Chef wieder und wieder gebeten, ihn vom Schreibtisch wegzuholen und zu den Zeugen, zu den Ermittlungen vor Ort zu schicken. Kohlund hatte stets mit dem Kopf geschüttelt, hatte die üblichen Floskeln für die Versehrten parat: Überanstrengen Sie sich nicht. Schonen Sie sich. Kommen Sie erst mal wieder auf die Beine. Dieser Satz war angesichts des Rollstuhls beleidigend. Grischa Merghentin hatte pflichtschuldigst gelacht und nahm weiterhin Protokolle auf und recherchierte im Internet und in alten Akten. Geändert hatte sich nichts. Aber sich aufgegeben hatte er nie. Es war so weit.

In der Mord zwei herrschte Personalmangel. Die Beetz hatte Urlaub. Der Schmitt war in der Hierarchie nach oben gefallen. Kohlund wusste nicht, wie die Arbeit verteilen. Denn wollte der Chef keine Unterstützung von oben anfordern, blieb ihm nur noch Oberkommissar Merghentin als einsetzbare Arbeitskraft. Also hatte Merghentin eine Strategie notwendiger Zeugenvernehmungen erstellt und diese Kohlund mit den Worten auf den Tisch gelegt: Einige davon kann ich übernehmen.

„Trauen Sie sich das zu?“

Welch Frage! Er hätte seit Langem solche Ermittlungen führen können. Der Chef hatte ihm das nicht zugetraut. Jetzt hatte er seine Meinung geändert. Deshalb rollte Merghentin nun durch den Clara-Zetkin-Park in Richtung Schachzentrum. Marisa Schwerdtner hatte gesagt: Dort treffe ich Freunde und tu was für den Geist. Massen schienen an diesem Wochenende unterwegs. Der April präsentierte sich im Juniwetter. Jeder sonnt sich heute so gern. Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden ... Der Kommissar hatte die molligen Decken über die fühllosen Beine zu Hause auf dem Sofa liegen lassen, hatte die schweren Taschen von unnötigem Ballast befreit, hatte die Sommerkleidung übergezogen. Aus dumpfen Gemächern kam er sich ans Licht gebracht vor. Endlich gehörte er wieder zum Team, war Kommissar und tat, was ein Kommissar tun musste.

Vorm niedrigen Gebäude des Zentrums saßen die Schachspieler und schwiegen voller Konzentration. Nur am letzten Tisch führte ein älteres männliches Pärchen einen Stellvertreterkrieg vor aller Augen und Ohren in fremder Sprache. Grischa Merghentin konnte unter den Anwesenden kein Mädchen ausmachen, dass Marisa Schwerdtner hätte sein können. Das Durchschnittsalter der Spieler schien dem Kommissar um die sechzig. Meist Männer saßen an den kleinen Tischen, die kaum Platz für das Schachbrett hatten. Aschenbecher und Getränke standen auf dem kleinen Mäuerchen, das das Zentrum von Wiese und Allee trennte. Merghentin griff zum Handy.

Das Girl, das neben dem Tisch der Streithähne saß, suchte in ihren Jeans. Merghentin unterbrach das Gespräch, ohne es geführt zu haben, und rollte auf den Tisch der alten Schachspieler zu. Sein Handy läutete, summte und blitzte derweil zwischen seinen Beinen. Marisa Schwerdtner rief ihn zurück. Mit den Händen griff Merghentin in die Reifen. Klingender Hüfte blieb er vor der jungen Frau stehen. Die beiden Alten hielten in ihrem Streit ein und besahen sich den Rollstuhl, als wäre soeben ein Ufo vor ihnen gelandet. Das Handy gab dazu die passenden Töne und Lichteffekte.

„Sie sind Kommissar Merghentin?“, fragte das Girl mit dem Handy am Ohr.

Der Kommissar nahm das Gespräch auf seinem Handy nun an. „Merghentin“, sagte er und mit Blick auf das Mädchen, „Marisa Schwerdtner?“ Die nickte.

„Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?“

Sie nickte nochmals und stellte die beiden Alten vor. „Mein Opa, Dragoslav Olič. Daneben sein Freund Miloš.“ Dann steckte Marisa Schwerdtner ihr Handy unter den Gürtel der Hose und wies mit ihrem Kopf nach links. „Sie können mir ein Eis ausgeben.“ Damit grüßte sie die Spieler am Tisch, als gehörten sie zu ihrer Generation. Schlag in die Hand und Küsschen links, rechts. Großvater mit Freund diskutierten mit der Enkelin oder gaben ihr Rat. Worte, die Merghentin nicht verstand. Eine Sprache aus dem Osten vermutete er: Russisch, Polnisch, Kroatisch. Marisa Schwerdtner nickte und schüttelte ihre Haare, als käme sie aus dem Wasser wie weiland Halle Barry. Dann stellte das Mädchen auf dem Brett eine Schachfigur um. Die Alten lachten und winkten ihr nach.

Auf dem Parkweg kamen sie nicht sofort in denselben Rhythmus. Marisa Schwerdtner schritt dem Kommissar stets voraus. Er konnte schwer folgen. Sie schien zu bedauern, ihre Einwilligung zum Gespräch gegeben zu haben.

„Was wollen Sie wissen? Ich habe Eike Proksch nicht gekannt. Er ist in sich gekehrt, ein ganz Stiller, und er war fremd in der Stadt. Vielleicht ist er einfach fortgegangen, weil er es länger nicht aushielt.“

„Er wollte Eltern und Stadt verlassen?“ Der Fakt war Merghentin neu, jedenfalls stand er nicht glasklar in Boers Protokollen. War eine Arbeitshypothese gewesen, die keine Bestätigung fand. Kurz hatte Merghentin überlegt, ob er Marisa und du sagen sollte. Aber es schien ihm unangebracht, das Mädchen machte einen außerordentlich reifen Eindruck. Ihn würde ihre Familiengeschichte interessieren: Dragoslav Olič hörte sich nach Migrantenbiografie an. Marisa als Vorname war möglich, aber bei Deutschen nicht üblich. „Hat er mit Ihnen über Abhauen und Flucht gesprochen?“

„Eike sprach so gut wie gar nicht. Kaum, dass er sich im Unterricht gemeldet hätte.“

„Zeugen sagen, dass Eike mit Ihnen mehr verband als Klassenkameradschaft.“

„Was so erzählt wird.“ Sie versuchte zu lächeln. „Gerüchte. Eine Schule ist da nicht anders als Theaterkantine oder Seniorenstift.“ Den Kommissar wunderte, dass Marisa mit diesen Einrichtungen Erfahrungen hatte. Eine Fehleinschätzung schien ihm dieser Vergleich nicht. „Kann schon sein, dass er mehr von mir wollte ... aber mit Losern gibt sich keiner gern ab.“

„Sie hatten ihn gern?“

„Nein. Eike war ein Verlierer. Schon wie er sich benahm. Er schien was Besseres als alle wir andern. Jedenfalls haben wir schnell gemerkt, dass er anders war. Allein sein Dialekt, der klang irgendwie hochnäsig. Für seine Akzeptanz hat er schon kräftig abgeben müssen, die haben ihn ganz schön abgezogen, den Eike: seine Schuhe, sein Handy, mal musste er Kaugummis holen, mal eine Pulle Stroh 80. Und alles auf eigene Rechnung. Von uns hat ihm keiner was geschenkt.“ Marisa sprach von sie und uns, nicht die anderen haben ihn abgezogen. Marisa wollte zu den Starken gehören.

„Das empfanden Sie als ungerecht?“

„Er hat darunter gelitten. Er tat mir leid, sagen wir so. Habe ich mich in den Pausen mal zu ihm gestellt, mir mal einen Kaffee ausgeben lassen. Einladungen zu Diskos oder Kino habe ich nicht angenommen. Sehen meine Eltern nicht gern. Sie haben mich anders erzogen.“

„Wegen der Eltern sind Sie mit Eike nicht ins Kino gegangen?“

Marisa erzählte ihm, was ihrer eigenen Überzeugung widersprach. Der Kommissar sah es an Gesten, hörte es aus ihrem Tonfall heraus. Das Mädchen bemerkte selbst, dass sie nicht glaubwürdig klang. Sie wedelte unwirsch mit ihrer Hand und beschleunigte ihren Schritt. Merghentin griff kräftiger ins Rad und kam dem Mädchen wieder näher. Ins Gesicht sehen konnte der Kommissar nicht. Nähe wäre im Verhörraum leichter zu erzwingen gewesen. Da hätten Kameras alle ihre Regungen aufgezeichnet. Psychologen hätten danach jede Geste erklärt. So aber verließ sich Merghentin auf seine Intuition: Marisa Schwerdtner hatte Eike gemocht. Sie konnte es nur vor sich selber nicht zugeben. Mit Losern gibt sich keiner gern ab.

„Fühlte sich Eike zu Männern hingezogen?“

„Ich verstehe Sie nicht!“

„Er trug Frauenkleider, als man ihn fand.“

„Niemals!“ Und als hätte sie ihn jetzt erst verstanden, blieb Marisa Schwerdtner plötzlich stehen, sodass ihr Merghentin gegen das Schienbein fuhr. Das Mädchen tat, als hätte sie nichts bemerkt, verzog keine Miene, aber sie beugte sich näher zum Kommissar, als wollte sie ihm ins Gewissen reden. Merghentin glaubte Tränen zu sehen und heißen Atem zu spüren. „Sie haben Eike gefunden?“

„Ja.“

„Kommt er wieder?“

„Nein. Eike kommt nicht mehr wieder. Er ist tot. Schon seit mehreren Monaten.“

Das Mädchen zögerte. „Wie ist er gestorben?“

„Das ist nicht mehr feststellbar, Eike hat zu lange im Dreck gelegen.“

Marisa Schwerdtner erschrak. „Wo?“

„Im Zwenkauer See.“

Das Mädchen und der Kommissar liefen jetzt schweigend nebeneinander. An der Brücke sah Merghentin am Eiswagen bunte Fahnen. Gelati. Moroschenoe. Icecreme. Vor der Ausgabe stand eine Schlange. In ihr glaubte Merghentin Agnes Schabowski entdeckt zu haben. Aber er erkannte sie kaum wieder. Gelöst die Gesichtszüge, ein stetes Lachen, und dem Herrn neben ihr gab sie einen Kuss nach dem andern. Merghentin wollte sie in diesem Moment der Intimitäten nicht begrüßen müssen. Hoffentlich übersah ihn die Kollegin.

Auf der Balustrade der Brücke über die Elster saßen Sonnenhungrige und Spaziergänger. Rollerskates und Skateboards rasselten an ihnen vorbei. Ein etwa Zehnjähriger stürzte auf den groben Asphalt, betrachtete seine Wunden und verbiss sich den Schmerz. Mütter sprachen in Kinderwagen oder zeigten den Nachwuchs stolz ihren Bekannten. Merghentin hätte gern eigene Kinder erzogen. Kilian und er waren im Behördendschungel des Adoptionsverfahrens verreckt. Ob sie es noch einmal versuchten, war fraglich. Vielleicht sollte sich der Kommissar besser um die Sorgen seines heimlichen Lovers kümmern. Benjamin Wolter bedurfte der Hilfe im Streit um Mandy und Muttis Erzwingungshaft. Vier Meter Leine, der Kommissar war verblüfft, worum Prozesse in Deutschland ernsthaft geführt werden konnten. Die eben entdeckte Schabowski schleckte Eis und lachte noch immer.

Marisa Schwerdtner schien mit sich selber beschäftigt und lief am Kiosk vorbei. Merghentin rief: „Doch kein Eis?“ Eh sie ihre Speiseeiskugeln erhalten hätten, wäre die Schabowski längst außer Sichtweite gewesen. Die umarmte ihren Lover und wandte Merghentin den Rücken.

„Es würde nicht schmecken.“ Es klang wie das Geständnis, dass Marisa in Eiko verliebt war. Das Mädchen hatte nun Scheu und Zurückhaltung aufgegeben. Sie machte langsame Schritte und setzte sich auf eine Bank abseits des Hauptwegs. Merghentin platzierte seinen Rollstuhl daneben. Wenn Marisa nicht ihre Hände im Schoß gefaltet hätte, hätte er seine auf ihre gelegt.

„Du hast ihn geliebt.“ Der Kommissar stellte keine Frage, er stellte es fest. Das Mädchen verbat sich nicht den Wechsel ins vertrauliche Du.

„Außenseiter verstehen sich. Sie sehen das Leiden des andern. Wir waren beide in der Klasse irgendwie fremd.“ Marisa scharrte mit dem Fuß ein unsichtbares Muster auf die harte Erde und blickte, als würde sie die Steine der gegenüberliegenden Uferbefestigung zählen. Der Kommissar fragte sich, was Marisa sich fremd empfinden ließ. Ihre Herkunft? Ihre Liebe? Ihre schulischen Leistungen?

„Aber du warst auf der Fete bei Jean-Claude Wöhler?“

„Ja.“ Danach die lange Pause wollte der Kommissar nicht unterbrechen. „Jean hatte gesagt, Bring a Bottle, und du bist dabei. Eike hatte Whisky gebracht. Die Flasche haben sie ihm abgenommen, dann haben sie ihn vor der Tür stehen lassen.“

„Und er ist gegangen?“ Sie nickte. „Weißt du wohin?“

„Nein. Eike stand erst noch mehr als eine halbe Stunde im Hof. Hat gehofft, dass sie ihn reinlassen. Er hat gerufen und an den Fenstern geklopft, bis sich Nachbarn beschwerten. Dann war er verschwunden. Ich hab ihm noch seine Flasche wiedergegeben, sah es nicht ein, dass sich Jean und seine Kumpels an Eikes Whisky besoffen.“

„Du hast noch mit Eike gesprochen, bevor er die Party bei Jean endgültig verließ?“

„Ich habe ihm aus dem Klofenster den Whisky gereicht. Den hat Eike genommen und noch gefragt, ob ich mit ihm gehen wolle.“

„Du bist nicht mit ihm gegangen?“

„Nein.“ Und wieder ein endloses Schweigen der jungen Frau. „Hätt ich’s getan, vielleicht würde Eike noch leben.“

Marisa sackte das Kinn nach unten. Die Hände hielt sie sich vors Gesicht. Sie schluchzte. Merghentin fand in einer seiner vielen Taschen am Rollstuhl Tücher, die ihre Tränen nicht wirklich trocknen würden. Marisa nahm die Verpackung, öffnete sie jedoch nicht. Von der Straße hallte Kindergeschrei. Auf einem Tretmobil saßen sechs Männer im Kreis und tranken Bier, das in ihrer Mitte stand. Sie prosteten Merghentin zu. Der hob seine Hand und ließ sie langsam auf die von Marisa Schwerdtner sinken.

„Du hättest Eike nicht helfen können.“ Der Kommissar sagte es, weil er die junge Frau trösten wollte. Der Tod des Eike Proksch war ungeklärt. Er würde alles tun, um die Umstände dieses Sterbens zu erhellen. Auch diesem trauernden Mädchen zuliebe.

Kommissar und Zeugin sahen auf das freizeitliche Treiben im Park und auf das Wasser des Flusses. Enten schwammen. Boote, in denen lustige Menschen saßen, paddelten an ihnen vorbei. Eine Oma fütterte Schwäne und Tauben. Und drüben auf der Böschung, von der im Winter die Kinder mit Schlitten abfuhren, entdeckte Merghentin Agnes Schabowski. Sie ließ sich von ihrem Begleiter fangen und rannte dann erneut vor ihm weg. Merghentin kannte den Mann: Hainar Krumpholz. Er gönnte seiner Kollegin den Spaß und die Liebe. Apropo: Er hoffte selber, heute noch Benjamin zu treffen. Kilian war zu seinen Eltern gefahren. Grischa Merghentin war die Arbeit wichtiger gewesen. Seit seiner Lähmung war er das erste Mal wieder offiziell zu Ermittlungen außer Haus von Kohlund eingesetzt worden. Seine Bürozeit hatte ein Ende genommen.

Mit tränennassem Gesicht blickte Marisa Schwerdtner ihn an. „Im Zwenkauer See möchte ich nicht sterben müssen.“

Der Kommissar drückte ihre Hand fester.