Mal quatschen und nach den Weibern gucken, hatte Dominik Bleicher gesagt. Heute nach Dienst? Bastian Michalk hatte zugestimmt. Denn er hatte keine derzeitige Lebensabschnittsgefährtin und am Abend freie Zeit. Auch sein Kollege war solo, jedenfalls behauptete er das, und mal reden mit Bleicher würde Michalk recht gern. Er könnte endlich mal den Frust rauslassen, den die Arbeit in ihm hinterließ und den er seiner Chefin gegenüber nicht zu äußern wagte. Über die Missstimmung im Team der Schabowski könnte Michalk mit dem Kollegen angelegentlich diskutieren und warum seine Ermittlungen in letzter Zeit stets nur zu Misserfolgen gerieten. Vielleicht hatte Dominik da eine Meinung, einen Rat, ein paar nette Worte für ihn übrig. Die hatte er nötig. Der Fall Hopstock schlug Michalk bereits auf den Magen-Darm-Trakt. Kumpel Dominik würde heute Abend geduldig zuhören müssen. Und zu einem Bier nach Dienst hatte der Oberkommissar stets Lust, kam nur selten aus Zeitgründen und mangels passender Freunde dazu.
Michalk und Bleicher hatten sich an diesem Abend bei Fast Food getroffen, und dann Burger auf die Hand. Nun hatten sie auf der schmalen innerstädtischen Kneipenmeile Platz genommen. Hier wurden sie gesehen. Hier konnten sie die Blicke schweifen lassen, denn die Massen walzten an ihnen vorbei. Allein der Name Fressgässchen war Provokation. Doch dort promenierten die, die in der Stadt gesehen werden wollten, und die, die es nicht besser wussten. Menschen aller Meter, die sich unwiderstehlich fanden, die sich zur Highsociety und zum Establishment zählten, die Model-Maße besaßen, aber noch keinen Vertrag dafür hatten. Dazwischen Touristen, die die alkoholgeschwängerte Atmosphäre für Leipziger Flair hielten. Michalk hätte lieber in einer der gemütvollen Kneipen gesessen, wo sich die Heimischen und die Studenten trafen. Aber Freund Dominik hatte Argumente dagegen: Von nischt, kommt nischt – Wennde was zum Ficken suchst, musste auf ’n Präsentierteller und dich umgucken, nicht verstecken!
Michalk suchte nichts zum Ficken, auch wenn er sein Bett seit Wochen mit keiner Frau geteilt hatte. Der letzte Geschlechtsverkehr, an den er sich erinnerte, hatte zwischen Büschen und einem Abfallcontainer stattgefunden. Name und Gesicht der Sexualpartnerin hatte er längst vergessen. Ihr billiges Parfüm hatte Bastian Michalk in der Nase, wenn er nur dran dachte. Er musste es dringend nötig gehabt haben, das bisschen Müllabkutschieren. Heute war er nicht geil und nicht notgeil, er hatte andere Probleme. Er hob sein Glas Dominik zu, der ihm wiederholt zuprostete.
„Dort, die neben der Dünnen im gestreiften Kleid ... scheint interessiert.“
„Ich bin’s aber nicht.“
Bastian Michalk stellte sein Glas mit mehr Wucht auf die Tischplatte zurück, als er beabsichtigt hatte. Weizenbier schwappte über. Die neben der Dünnen präsentierte ihr Dekolletee wie im Dirndl. Die Beine hatte sie übereinandergeschlagen. Schöne Waden, schlanker Fuß. Er wäre nicht abgeneigt, wenn Wetter und seine Laune besser wären, er das Bett neu bezogen hätte und seine Mutter morgen nicht zum Abwaschen und Aufräumen bei ihrem ewigen Junggesellen kam. Dabei war Michalk keine dreißig. Abgesehen davon musste der Kommissar aufpassen, dass er nicht an eine Professionelle geriet, die ihm dann auf Arbeit wieder begegnete, und er sich durch sie erpressbar machte. Eine Fort- und Weiterbildung zum Thema jagte die nächste. Michalk war zwar nicht bei der Sitte tätig, sondern in der Mord eins, aber wenn es dumm lief: Milieu bleibt Milieu. Dass Bleicher so einfach über die Gefahren hinwegsah, verwunderte Michalk. Dominik hielt als Pressesprecher seine Fresse in jede Kamera und war leichter wiederzuerkennen als Bastian Michalk. Kaum auszudenken, wie Schmitt reagierte, wenn Bleicher durch einen Fehlfick selber in die Schlagzeilen geriet ... Aber wahrscheinlich scherzte der Freund, machte vor ihm auf dicke Hose. Dominik hatte eine sehr spezielle Art von Humor, die er im Präsidium zu unterdrücken wusste.
„Der Abend ist jung noch. Bestellen wir was für die Leber.“
„Hast recht“, und wieder Dominiks Blick zu der Dame. Dann folgte seine Einschätzung. „Aber ohne ist die weiß Gott nicht.“
Michalk nickte, und Bleicher winkte verstohlen dem Dekolletee. Michalk tat, als hätte er es nicht bemerkt. Der Freund hatte es offensichtlich noch dringender nötig als er. Die neben der Dünnen hob ihnen ihr Cocktailglas entgegen. Die Dünne selbst stocherte in einem Becher Eis und sah aus, als hätte sie auf Zitronen gebissen, wandte nicht ein Mal den Blick ihnen zu. Ausgeschlossen, mit diesen Frauen den weiteren Abend zu planen, stellte Bastian Michalk fest. Außerdem wirkten die auf ihn kostümiert und trugen denselben Schriftzug über dem Shirt. Monas letzter freier Abend. Die gehörten wahrscheinlich zu irgend so einer Chickenparty, die die Innenstadt unsicher machten und sich dabei ganz witzig vorkamen. Dominik schien von ihnen begeistert. Allein diese Aufmachung, mit quellenden Brüsten und ganz nackten Beinen bis in den Schritt ... Michalk trank sein Glas leer. Monas letzter freier Abend – mein Gott!
„Und ich sage dir, der Fischer hat die Alte umgebracht. So wahr ich Bastian Michalk heiße.“
„Ihr habt keinen einzigen Beweis dafür gefunden.“
Michalk nickte und gestand sein Versagen ein. Mit Akribie und Riesenaufwand hatte er die Schabowski überredet und die Hausdurchsuchung bei Familie Fischer geplant. Er war sich sicher, den Fall damit endlich abschließen zu können. Sie würden die Beweise finden, Toralf Fischer überführen. Der Kommissar war grandios und vor aller Augen gescheitert. Seine Theorie blieb reine Theorie und konnte durch nichts bewiesen werden. Weil Berger von der Technik im Eigenheim des Verdächtigen keine neuen und Erfolg versprechenden Indizien fand. Alle zugängigen Winkel und Ecken hatten Bergers Mannen Millimeter für Millimeter abgeleuchtet. Nichts, nichts und nichts. Blieb nur, die Mauern einzureißen oder den Estrich im Keller zu zerhacken. Nein, die Ermittler hatten keinerlei Spuren gefunden, keine einer Gewalttat, geschweige denn, die einer Leiche. Michalk hatte auf ganzer Linie versagt. Prost! Und ein leeres Glas.
Ein graziles weibliches Wesen, das kaum die Volljährigkeit überschritten zu haben schien, fragte schüchtern, ob sie noch Wünsche hätten.
„Natürlich.“ Und Dominik starrte dem Mädchen frivol ins Gesicht. „Zwei Weizen!“, sagte er dann und stürzte sein Bier, ohne den Blick von ihr zu wenden.
Michalks Gedanken kreisten: Fischer. Fischer. Gerlind Hopstock. Die alte Dame musste zu finden sein. Kein Mensch verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen. Eine Binsenweisheit. Bislang aber hatten ihre Ermittlungen nichts, keinen einzigen Hinweis erbracht, der Michalks Verdacht stützte. Ein schwaches Alibi – na und? Kriminaldirektor Schmitt hatte ob des groß angelegten Einsatzes und des daraus resultierenden Misserfolgs getobt. Beweise! Beweise! Wo sind die Beweise? Sie, Michalk, müssen dem Mörder seine Tat beweisen! Michalk kannte seine Pflicht. Die musste ihm niemand vorhalten. Aber diese erfolglose Suche und das Verhalten Toralf Fischers hatten den Verdacht des Kommissars gegen den Schwiegersohn der Gerlind Hopstock noch verstärkt. Dieser Toralf Fischer war sich zu sicher gewesen, hatte lächelnd im Türrahmen gelehnt und ihre Arbeit beobachtet, Scherzworte auf seinen Lippen, die die Ermittler tief kränkten. Unterm Misthaufen haben Sie schon geschaut? Sie hatten den Haufen dreimal versetzt und die Erde durchs Sieb geschüttet. Fischer hatte sich dafür bedankt. Wird bester Humus! Dank Ihnen, meine Herren. Der Mann wusste genau, dass sie an den falschen Stellen suchten. Die Leiche der Hopstock lag ganz woanders, und Fischer wusste, wo. Nein, Michalk würde nicht aufgeben. Diesem Täter würde er persönlich die Handschellen anlegen. Sie hatten Fischer mittlerweile aus der Untersuchungshaft entlassen müssen. Wo sind die Beweise? Sie, Michalk, müssen dem Mörder seine Tat beweisen! Der Kommissar empfand diese Niederlage als eine persönliche Schmach. Rechnete in schwachen Stunden mit Kündigung oder zumindest Degradierung.
Michalk fühlte sich elend und machte sich Vorwürfe. Obwohl die Schabowski von Schmitt die Standpauke erhalten hatte, schämte sich Bastian Michalk, im Präsidium durch die Gänge zu laufen. Überall hörte er das hämische Getuschel und Lachen der Kollegen. Die Kantine suchte er seit Tagen nicht mehr auf. Drei Kilo hatte er seit Ermittlungsbeginn im Fall Hopstock bereits verloren. Schön, war die Speckrolle über dem Hüftknochen verschwunden. Michalks Laune jedoch hatte sich noch mehr verschlechtert. Der Fischer war’s! hatte er immer wieder zu seiner Chefin gesagt. Sie, Michalk, müssen dem Mörder seine Tat beweisen! Michalk hatte verstanden.
Auch der Freund, Dominik Bleicher, musste für sein Versagen grade stehen. Erst hatte er mit ihm als ermittelnden Kommissar gesprochen. Dann spürte auch Bleicher die Wut des Kriminaldirektors: Bin ich denn nur von Dilettanten umgeben! Später musste der Polizeisprecher das Scheitern der Aktion vor der gesamten Presse eingestehen. Die Suche wurde erfolglos abgebrochen. Doch auch danach hatte Bleicher seinem Freund Bastian auf die Schultern geklopft. Was lange währt ... Kopf hoch! Jetzt saßen sie beim Bier und Bleicher blinzelte fremden Frauen zu, ohne ihm die erwartete Aufmerksamkeit zu widmen. Verdammt noch mal, Michalk litt. Der Kommissar war am Ende der Geduld.
„Fischer war’s!“
„Beweise es!“ Und Bleicher schaute schon wieder hinüber zu den Weibern am anderen Tisch. Monas letzter freier Abend. Michalks Sorgen waren keine für ihn. Michalk ahnte, dass der Fall ihm längst zur Obsession geworden war. Er würde Wälder abholzen und Felder umpflügen, um die Leiche zu finden. Wenn er nur gewusst hätte, wo? Beim Einschlafen überlegte er, unter welchem Stein die alte Frau liegen konnte. Beim Aufwachen plante er, welchen Beton er durchbohren musste, um die Tote zu finden. Doch aus nichts ließ sich nichts machen, geschweige denn, ein Mörder zum Geständnis zu bewegen.
„Er war Hausmeister. Der Fischer weiß, wie man mauert, betoniert und schreddert.“
„Sind die Häcksler Leipzigs schon auf Blutspuren abgesucht worden?“ Bleicher lachte.
Michalk fand diese Idee nicht unwahrscheinlich. Nicht nur in Filmen hatte die Leichenentsorgung im Häcksler Furore gemacht. In jedem zehnten Mordfall zerteilte der Täter ohnehin sein Opfer. Erst vor Kurzem hatten Spaziergänger am Elsterufer menschliche Extremitäten gefunden. Mittlerweile stand ein Tatverdächtiger vor Gericht. Warum sollte das Fischer nicht getan haben? Tiere konnten Menschen fressen. Von Kannibalen hörte man immer wieder Neues. Michalk wusste, dass sich seine Gedanken auf Abwegen befanden. Und Dominik, der gute Freund, zeigte für seine Misere keinerlei Verständnis.
„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
„Ich werde den Damen einen Caipirinha ausgeben. Das Zeug in ihren Gläsern sieht jedenfalls danach aus und es geht bei ihnen zur Neige.“
„Ich weiß nicht wie er es angestellt hat, aber Fischer hat die Leiche der Alten entsorgt.“
Dominik wandte sein Interesse wieder dem Freund zu. „Wie soll er denn das angestellt haben? Wir haben auf deinen Befehl hin jeden Quadratzentimeter des Hauses untersucht.“
„Kann man feststellen, wann Beton gegossen wurde?“
„Was fragste mich.“
Das zarte Gaststättenwesen brachte ihre Getränke. Michalk griff dankbar zu und hätte sofort ein neues bestellen können.
„Kannst du, schönes Kind, den Damen dort drüben, zwei Caipirinhas servieren?“ Bleicher zeigte der Kellnerin, welchen Frauen er einen ausgeben wollte. Die beiden hatten wahrscheinlich Dominics Worte verstanden und suchten zu ihren edlen Spendern den Blickkontakt. Die im Dirndl hatte Bleicher sowieso nie aus den Augen gelassen. Sie würde sich die nähere Beschäftigung mit Dominic durchaus gefallen lassen, war er gewiss. Oder galt ihr Zwinkern ihm, Bastian Michalk?
„Der Tisch dieser Damen gehört nicht zu meinem Revier.“
„Drücken Sie ein Auge zu, liebes Frollein, es geht um unser Glück.“ Dabei presste Bleicher seine Hände aufs Herz und blickte wie der Rühmann im Liebesfilm. Unwiderstehlich. Doch die junge Kellnerin beeindruckte er damit nicht.
„Anderes Fass, andere Kneipe, nicht mein Portemonnaie.“ Damit war das ätherische Wesen zwischen den Tischen ihres Reviers verschwunden. Wenn schon, dann würde Michalk dieses schlagfertige Serviermädchen fragen, ob sie Zeit und Lust auf ihn hätte. Aber die tat ihren Dienst, und Ausschankschluss gab es in Leipzig keinen.
„Wir könnten Carport, Gewächshaus und Schuppen abreißen, die hat Fischer selber gebaut. Wir werden Gerlind Hopstock finden, ich weiß es.“
„Davon musst du nur den Staatsanwalt überzeugen.“
Michalk schaute ins Bierglas, als könnte er darin Antworten finden. Bleicher versuchte pantomimisch, den Damen eine Geschichte zu erzählen. Kurze Zeit später nahmen sie an ihrem Tisch Platz. Jetzt wurde aus dem richtigen Fass ausgeschenkt. Die Kasse stimmte. Nur Bastian Michalk wurde der Abend zur Qual.