19.

Mensch, was haben wir zusammen gefickt! Der Satz ging Grischa Merghentin nicht aus dem Kopf. Als ob er an nichts anderes denken konnte, wenn er diesen Mann sah. Jetzt saß Merghentin vor der Kaffeemaschine, während Benjamin in der Wohnstube auf dem Tisch Akten ausbreitete und einzelne Blätter von links nach rechts und zurück verschob, bündelte und durchlas, um ihm die Fakten dieses eklatanten Unrechts endgültig klarzumachen. Der Kommissar hatte dem Freund versprochen, ihn im Fall von Mandys kurzer Hundeleine zu unterstützen. Nicht dass er seine Zusage bereute, aber irgendwie zielorientierter hatte er sich die Diskussionen mit Benjamin vorgestellt. Noch immer waren Merghentin die Zeitabläufe, die Abfolge der Worte und Widerworte, die Datierung der Behördenschreiben und der erfolgten Wutausbrüche nicht in Gänze nachvollziehbar. Benjamin sprang in seinem Bericht vom Hundertsten ins Tausendste, vom Detail zur gesellschaftlichen Anklage, er echauffierte sich maßlos, er referierte und zitierte: Es sind oft die Entscheidungen der unteren und mittleren Verwaltungsebenen, die das Ansehen des demokratischen Staates in den Augen der betroffenen Bürger beschädigen. Gerade Maßnahmen, wie die von Herrn Dr. Wenzke gegen mich verhängte, sind es, die das neue Regime hassenswert erscheinen lassen. Selbst die SED-Vertreter der DDR-Diktatur wussten, wie weit sie mit der Unterdrückung der Bevölkerung gehen konnten. Herrn Dr. Christoffer Wenzke scheint dieses Augenmaß abhandengekommen zu sein!

„Meine Worte. Habe ich Mutti diktiert.“ Benjamin blickte stolz, als erwarte er vom Freund Beifall. Merghentin schloss die Augen, nickte aber. Unter den obwaltenden Umständen konnte er den Sex vergessen. Benjamin war auf anderes fixiert. Bevor er sich dem Fall Hundeleine jedoch genauer widmete, brauchte der Kommissar einen Kaffee, stark, ohne Zucker, unverblendet. Er rollte in die Küche und ließ Benjamin weiter die Fakten ordnen. Und im Gegensatz zum Büro musste der Kaffee daheim reine Natur sein. Schwarze Bohnen aus Simbabwe schienen ihm der Situation angemessen. Allein das Tütchen verströmte ein delikates Aroma. Merghentin holte es aus dem Hängeschrank, wo es unter anderen Gewürzen stand. Doch ein anderes Pulver erregt seine Aufmerksamkeit: Kardamom.

Merghentin ließ Wasser in den Kocher laufen. Mein Gott, er hatte sich den Nachmittag anders vorgestellt: Benjamin und er hätten im Hausgarten auf der Hollywoodschaukel gesessen, hätten am Cocktail genippt und über alte Zeiten gequatscht. Merghentin hatte extra Schillerlocken und Mandel-Crockant-Eis besorgt, das der Freund so gern aß. Dann wären sie nicht nur der alten Zeiten wegen zusammen ins Bett gestiegen. Merghentin hätte den Lover in seine anders erregenden Sexualpraktiken eingewiesen. Denn eine Behinderung ließ den Behinderten nicht zum lustlosen Wesen degenerieren, was gemeinhin angenommen und mit mitleidvollem Lächeln flankiert wurde. Es hätte so schön sein können.

Merghentin war sich sicher: Benjamin hätte seine Wünsche wortlos und schnell verstanden. Der Lover hätte gewusst, wo und wie er Merghentin zu Erregung bringen konnte. Sie hatten in ihrer gemeinsamen Zeit da nie Probleme gehabt. Aber auf Schillerlocken und Mandel-Crockant hatte der Herr Wolter heute keinen Appetit. Kaffee? Ja, gerne. Der Streit mit der Behörde war alles, woran der denken konnte. Merghentin schien es, als sei er Benjamins letzte Hoffnung auf Sieg in diesem vertrackten Fall behördlicher Willkür. Benjamin war wie besessen. Alle intimen Anspielungen hatte er überhört oder überhören wollen. Merghentin spekulierte noch immer auf Sex, seine Hoffnungen ganz aufgeben, mochte er nicht. Den Blick zur Uhr verbot sich der Kommissar. Grischa Merghentin wusste, dass Benjamin und er noch gut drei Stunden freie Zeit hatten, bevor er Kilian vom Besuch seiner Eltern zurückerwartete. Aber wenn Grischa um die momentane Minute wusste, kam er sich wie gehetzt vor. Sex unter Zeitdruck war wie Prüfungsstress, blieb nur die Frage, schaff ich’s oder nicht. Gehen lassen konnte er sich da nicht. Lust käme gar nicht erst auf. Merghentin griff in den Schrank. Das Kardamom wog schwer in seiner Hand. Wissende Bücher sprachen von einem gehäuften Esslöffel auf eine Tasse. Bislang hatte Merghentin einschlägigen Aphrodisiaka vertraut, wenn er sie auch selten genutzt hatte. Jetzt maß er Kardamom in die Kanne.

„Gleich fertig!“, rief er über den Flur.

Merghentin stand leichter Schweiß auf der Stirn. Die Hände zitterten. Vielleicht bildete er sich das auch ein. Seine Erregung sollte Benjamin nicht bemerken, so beschloss Merghentin, den Siedepunkt des Wassers in der Küche abzuwarten. Unvorstellbar, wenn der Freund in den Aufguss blickte und nach dem fremden Gewürz fragen würde. Merghentin rollte mit Pulver und Kanne auf den Balkon und sah die Bäume nach oben. Eine Erdgeschosswohnung war aus mehreren Gründen von Vorteil. Nicht nur, dass ein beschwerlicher Weg in die Höhe wegfiel, der Fahrstuhl war aufgrund seiner Stellfläche nicht behindertengerecht. Er war für unterernährte Personen zugelassen, und den Rollstuhl fasste er nur mit Trick 17, indem er ihn schräg enterte und sofort im Innenraum drehte. Und Merghentin mochte nicht daran denken, wenn sich der Aufzug in Reparatur oder Stromausfall befand. Er hätte um Obdach bei den Nachbarn bitten müssen. Die Treppen getragen zu werden, hätte den Verlust seiner Selbstachtung zur Folge, redete er sich ein. Und wer sollte lahme Kommissare freiwillig nach oben schleppen? Und was hätte der Behinderte, nach oben gehoben, in der Wohnung ohne Rollstuhl, seinem Fortbewegungsmittel, anstellen sollen? Merghentin hätte buchstäblich festgesessen. Da war das Erdgeschoss von Vorteil, zumal eine schiefe Ebene in den Vorgarten führte, der ihrer Wohnung mietrechtlich zugeschlagen worden war. Grischa Merghentin fuhr gern ins Grüne vorm Haus und genoss die Gartenarbeit. Auch das eine Änderung in Ansicht und Verhalten, die sich Merghentin in jüngeren Jahren niemals hatte vorstellen können. Freizeit auf der eigenen Parzelle zwischen Bohnen und Flox hatte ihm als Inbegriff der Spießigkeit gegolten. Nun zogen er und Kilian selber Gemüse und pflückten Blumen und waren beleidigt, wenn sich der Beschenkte über die selbstgezogene Pracht nicht angemessen erfreute. Aber Tatsache: Tomaten aus eigenem Anbau schmeckten wesentlich besser. Kilian lachte über seinen guten Geschmack. Das Gewürz in der Hand brachte Merghentin auf andre Gedanken.

Das Kaffeewasser hatte die 100 Grad erreicht. Merghentin benutzte das Wischtuch als Topflappen und brühte Kardamom und Kaffee, füllte gleich die Kanne, die sechzehn Tassen fasste. Ein seltsamer Geruch durchwehte die Wohnung.

„Kochst du Mittag?“

„Nein Kaffee.“

Die Kanne lief über. Der Aufguss hinterließ krümelige Pfützen auf den Küchenmöbeln. Sechzehn Tassen – Merghentin trank Kaffee auch gerne kalt. Wahrscheinlich wäre dann die Wirkung des Kardamoms verflogen. Hop oder Top.

„Milch? Zucker?“

„Beides“, rief Benjamin aus dem Wohnzimmer. Merghentin wunderte sich, dass er überhaupt etwas anderes wahrnahm als Mandys Hundeleine und die dazugehörigen Papiere.

Merghentin rollte mit innovativ designter Thermoskanne zurück. Kilian stand auf solch kunstvollen Schnickschnack. Merghentin war so was Last und zu teuer. Aber im Zusammenleben konnte nicht er alle Entscheidungen treffen, so nahm er rhombische Teller, stecknadelgroße Löffel und außerirdische Eierbecher kommentarlos zur Kenntnis. Bei den Grafiken vielversprechender Talente an den Wänden erhob Merghentin, wenn nötig, Einspruch. Kilian konnte dem Lebenspartner sein Verständnis für Hochkultur und Kunst nicht beibringen. Deshalb sammelte sich in der gemeinsamen Wohnung, nach Merghentins Meinung, auch manch Lächerliches.

„Ich hatte es gerade geordnet!“, erhob Benjamin Widerspruch, als Grischa Akten und anwaltliche Schreiben zur Tischkante schob, Kanne und Tassen platzierte. Verführerisch duftete der Kaffee. Merghentin spürte bereits die Wirkung des beigemischten Gewürzes. Reine Kopfsache, wie Sex schließlich auch.

„Wir werden den Fall zu euren Gunsten klären.“ Merghentin lächelte, aber Benjamin hatte für diesen Humor momentan kein Verständnis, hielt sich ein Dokument eng an die Augen und nickte, um es danach beiseitezulegen.

Merghentin schenkte ein. Sein Lächeln missdeutete der Gast. „Du findest mich, Mandy und Mutti lächerlich, was!“ Und dann stierte Benjamin wieder in seine Papiere. „Der Kaffee riecht wie Hirschbraten. Bist du sicher, Kaffee gekocht zu haben.“

„Ja.“

Auf anderes als Hundeleine und Mandy zu sprechen zu kommen, war aussichtslos. Aber Merghentin vertraute der Wirkung der indischen Zutat. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Er schlürfte und verbrannte sich die Zunge. „Trink, Benny, trink, sonst wird der Kaffee kalt und hat keine Wirkung!“ Merghentin konnte nicht verhindern, dass er lachte. Er schob Benjamin die Tasse entgegen.

Der Freund ignorierte, dass dampfender Kaffee vor ihm stand. „Ich lese das Antwortschreiben meiner Mutter.“ Damit blickte er Merghentin an und räusperte sich, als würde er vor Tausenden einen Vortrag halten müssen. „Herr Dr. Wenzke warf mir eine ordnungswidrige Hundehaltung vor, da die Länge der Leine meines Hundes ab Zwinger aus zwingenden Gründen nur 4 m und nicht wie vorgeschrieben 6 m beträgt. Die Behauptung von Herrn Dr. Wenzke, dass der Hund nicht die Hütte aufsuchen, bzw. sich nicht legen oder umdrehen könne, ist nicht zutreffend. Der Zwinger ist mit einer Grundfläche von 8 m2 ausreichend groß, wobei jeder Punkt des Zwingers vom Hund erreicht werden kann. Mein Hund wird zweimal am Tag ausgeführt. Ich verwahre mich gegen die Termini „Tatort“ und „Tatzeit“, denn ich bin keine „Täterin“. Die Forderungen von Herrn Dr. Wenzke nach einem Freilaufen des Hundes bzw. einer 6 m langen Laufleine sind irreal, da die objektiven Gegebenheiten dafür nicht vorhanden sind:

Gegenwärtig werden Wohnhaus und Schuppen vom Eigentümer saniert. Bis Anfang Dezember war das Wohnhaus teilweise eingerüstet. Die Länge der Leine kann im Augenblick nicht länger gewählt werden, da die Bauarbeiten noch andauern, scharfkantiger Bauschutt herumliegt und die Verfüllung der Fundamente nicht abgeschlossen ist.

Seit vielen Jahren wurde der Ausbau der Straße vor unserem Grundstück immer wieder verschoben. Es wäre unsinnig gewesen, den defekten Begrenzungszaun vor dem Straßenbau zu erneuern. Deshalb wurde vom Eigentümer des Grundstücks der Zaun noch nicht instand gesetzt, zumal der neue Zaun versetzt werden und den Standort an der Grundstücksgrenze einnehmen soll. Es ist mir unverständlich, dass diese gegebene Situation in den Überlegungen von Herrn Dr. Wenzke keine Berücksichtigung findet, zumal vor Ort nicht bemerkt wurde, dass Ihr Mitarbeiter sich an der Kettenhaltung anderer Hofhunde stören würde. Viel dramatischer finde ich die in keiner Weise artgerechte Haltung großer Hunde in winzigen Wohnungen der benachbarten Neubauten ohne entsprechenden Auslauf und ohne jegliches Freigelände.“ Benjamin atmete, als wäre er Marathon gelaufen.

„Da habt ihr euch aber die Wut von der Seele geschrieben!“

„Kannste wissen! Hat mich Stunden gekostet, das so emotionslos zu formulieren.“

Merghentin schenkte sich aus der Thermoskanne Kaffee nach, meinte die erregende Wirkung in jedem Gliede zu spüren. Reine Kopfsache. Sein Gesprächspartner übersah den Kaffee und fuhr im Monolog fort. Der Kommissar wusste nicht, was Benjamin damit bezweckte. Merghentin interessierten im Augenblick weder Hunderecht, Leinenlänge noch Bußgeldbeschwerde oder Haftandrohung. Sein Mitleid für Mutti hielt sich in Grenzen. Eine Beamtenposse, geeignet für einen Kommentar auf der Kommunalseite der Lokalzeitung. Merghentin hielt es im Rollstuhl kaum aus, brauchte Luft, Zuspruch und Liebe.

„Trink einen Schluck, das beruhigt“, forderte Merghentin und konnte seine Gedanken nicht zähmen. Er spürte Benjamins Finger auf seiner Haut, dessen Zunge in seinem Ohr. Er hörte Benjamins wohliges Stöhnen, verrieb dessen Feuchtes auf seinem Bauch. Aber Benjamin Wolter fuhr unerbittlich in seiner Anklage fort.

„Dieser Bußgeldbescheid stellt sich mir als ein besonders schlimmes Beispiel von Behördenwillkür dar. Die Tatsache, dass mein Hund zu seinem eigenen Schutz zur Zeit an der Leine gehalten werden muss und nicht frei herumlaufen kann, ist objektiven Gegebenheiten geschuldet, die ich nicht zu verantworten habe: Die Bauarbeiten an dem von mir bewohnten Haus sind sehr umfangreich, da am Haus von den Fundamenten bis zum Dach nach und nach alles in Ordnung gebracht werden musste und muss. Seit Jahren befrage und bedränge ich die Stadtverwaltung nachweislich, die Straße vor dem Grundstück instand zu setzen, damit der defekte Zaun repariert und geschlossen werden kann. Der hintere Zaun des Grundstücks wurde vor einigen Jahren von den Baufirmen der Panorama-GmbH während deren Haus- und Straßenbauarbeiten auf einer beträchtlichen Länge zerstört. Diesen Zaun haben wir damals mit unserer Rente selbst vollkommen erneuern müssen. Ich kann die Bauarbeiten des Grundstückseigentümers nicht beeinflussen und nur bitten, dass bei all der Sanierungstätigkeit am Haus auch einmal der Zaun an die Reihe kommt. Zur Sicherheit des Hundes kann dieser deshalb nicht frei herumlaufen. Die Installation einer Laufleine ist aus Platzgründen durch Gerüst und Bäume nicht möglich.“

Die Wut des Bürgers sprach aus jedem Wort. Merghentin konnte sich aufkommende Sympathie nicht verbieten. Genau darauf hatte er’s ja angelegt. Nur reagierte der ihm gegenübersitzende Mann nicht seinen Hoffnungen, Vorstellungen und Wünschen gemäß, redete, redete, redete von Gesetzen und Hass, Beamtenärschen und Dr. Wenzke, Mutti und Mandy.

„Sprich dich nicht heiser, nimm einen Schluck!“ und damit schob Merghentin seinem Freund die Tasse in die Hand. Benjamin führte sie zum Mund und trank das Gebräu ohne Milch und Zucker und Bedenken aus. Merghentin konnte kaum auf die Wirkung des Kardamoms warten, doch Benjamin gefiel sich augenscheinlich in der Rolle des gesellschaftlichen Anklägers, verschwendete an Atmosphäre und den Mann im Rollstuhl keinen Gedanken. Die Schizophrenie der Situation war besser als jeder Film. Das Lachen stand Merghentin wie nach Hasch unaufhörlich im Hals, er versuchte, es krampfhaft zu unterdrücken. War das wirklich die Wirkung des Kardamoms. Oder was? Merghentin trank die zweite Kaffeetasse aus.

Herr Dr. Wenzke ließ während seines Auftritts an meiner Wohnungstür mir gegenüber, ich bin 74 Jahre alt und Witwe, den gebotenen Respekt missen. Im Ort und in den Neubauten gibt es sehr viele kräftige Burschen mit großen Hunden in winzigen Einraumwohnungen, denen er so wie mir nicht gegenübertreten könnte. Es ist mir auch nicht bekannt, dass er in den zahlreichen Fällen von Kettenhaltungen von Wachhunden aktiv geworden wäre. Das sind die Fakten. Grischa, sag selbst, Bußgeld muss Mutti angesichts solcher Tatsachen und Beamtenwillkür nicht zahlen? Und die Haft ist doch ein Witz! Oder?“

Merghentin hatte Kardamom und Kaffee in der falschen Kehle, konnte nur röcheln. Benjamin interpretierte es als Zustimmung. Merghentin stand vorm Erstickungstod.

„Mutti droht Bußgeld und Haft. Das kann man sich doch nicht bieten lassen!“

Natürlich nicht!, war Grischa Merghentin bereit zu sagen, aber die Luftzufuhr war ihm gesperrt. Er drohte augenblicklich zu ersticken und wedelte mit seiner Tasse. Vom Kaffee spritzten Tropfen aufs handbemalte Deckchen des Tisches. Das durfte nur in Handwäsche gereinigt werden, sonst verloren sich seine grellen Farben. Kilian hatte es der Künstlerin förmlich abschwatzen müssen, und hoffentlich hinterließ Kardamom keine Flecke. Schweiß stand Merghentin auf der Stirn, und sein Lachreiz war nicht zu dämpfen. Nur die Luftzufuhr stockte. Merghentin drohten, die Sinne zu schwinden.

Endlich blickte der Freund auf und erkannte Merghentins fatale Situation. Benjamin Wolter ließ die Papiere vom Schoß rutschen und sprang auf ihn zu. Endlich! Er schlug Merghentin sacht, aber heftig auf den Rücken. Der spuckte und nickte verzweifelt mit seinem Kopf. Benjamin schlug kräftiger zu. Husten löste sich in Merghentins Hals. Es war wie eine Befreiung. Benjamins Schläge waren in Streicheln übergegangen. Das Kardamom zeigte endlich die erhoffte Wirkung. Merghentin setzte den Freund auf seinen Schoß und rollte mit ihm ins Schlafzimmer auf das Doppelbett zu, das er ihm den ganzen Tag schon hatte zeigen wollen. Benjamin nahm ihn zärtlich auf die Arme, legte Grischa behutsam aufs Überbett und begann, ihm unter Küssen die Sachen vom Leibe zu ziehen. Merghentin vergaß alles, sogar die Erinnerungen.

Die Liebenden überhörten den Schlüssel, der sich im Schloss drehte. Plötzlich stand Kilian Weiß mit Mantel und Reisegepäck in der Schlafzimmertür. Er schaute mit Augen, die immer größer zu werden schienen. Kilians Gesicht geriet zur Maske. In seine Stirn gruben sich Falten. Kilian fuhr sich mit dem Zeigefinger unter die Nase und hörte sich an, als müsse er Nießen. Merghentins Erschrecken blieb aus, zu groß der eben gefühlte Genuss.

„Trink einen Kaffee. Er steht auf dem Tisch“, sagte er heiter.

Kilian drehte sich wortlos auf den Schuhspitzen und erweckte den Eindruck einer missglückten Pirouette, dann wandte er den Blick von seinem Schlafzimmer ab. Die Tür schlug zu. Benjamin hatte sich schamhaft die Decke über die Blöße gezogen. Der Eindruck blieb peinlich. Grischa kroch unter das Bettdeck und zählte mit seinen Lippen auf Benjamins Körper die Haare. Doch der Freund hatte am Sex merklich das Interesse verloren.

„Mutti wartet“, sagte Benjamin, „ich bin eh schon zu lange geblieben.“

Merghentin rollte sich an den Bettrand und verfluchte die Zeit und den zu früh erschienen Mann. Kein Stau, kein Unfall, kein Defekt hatten Kilian fernhalten können. Seit Jahren hatte den Gelähmten Leidenschaft übermannt, die er glaubte, nicht mehr spüren zu können. Und dann endete sie so kläglich in verruschelten Laken. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Im Film sah man solche Szenen. In Wirklichkeit gab es die nie.

Dann schob sich langsam die Zimmertür wieder auf und Kilian stand im Rahmen. Er war nackt. Die Erregung sahen sie ihm an.

„Darf ich mich dazulegen?“, fragte Kilian.

„Ich kann auch noch bleiben“, sagte Benjamin.

Grischa Merghentin hatte mit solcher Wirkung des Kardamoms nicht gerechnet.

„Lassen wir den Hund von der Leine!“