Ihr Job interessierte sie nicht, und Agnes Schabowski tat nichts gegen dieses Desinteresse. Die Kommissarin genoss ihr Versagen jeden Tag. Schon beim Aufstehen fieberte sie dem Feierabend und Hainar Krumpholz entgegen, seinen Küssen, seinen Händen, ihrem Bett. Kaum dass sie das Büro betreten hatte, meinte sie, sich nach dem Befinden des Lovers erkundigen zu müssen. War er okay? Liebte er sie noch? Vermisste er sie? Sie hatten knapp dreißig Minuten keinen Kontakt, da konnte sonst was passiert sein. Ganze Welten waren in dieser Zeit untergegangen. Die Kommissarin bezwang sich, nicht alle Minuten Hainars Nummer zu wählen, und auch deshalb geriet der Job zur Nebensache oder zum notwendigem Übel. Schabowski überlegte jedes Mal, wenn sie die Treppen von ihrer Wohnung hinunterstieg, ob sie sich einen Krankenschein beschaffte. Diagnose: Burn-out. Wäre jedem verständlich. War mittlerweile eine Zivilisationskrankheit. Die Psychiatrien waren voll solcher Patienten. Nur hatte diese Diagnose keinen guten Ruf. Die Kommissarin würde die Häme der Kollegen kaum ertragen. Wir haben es immer gewusst: Frauen in Führungspositionen! Schabowski allerdings wusste genau, warum die Arbeit ihr zur Last geriet. Außerdem log sie verdammt schlecht.
Bastian Michalk hatte ihr die Leitungshoheit der Mord zwo sukzessive aus der Hand genommen. Zwar fragte er scheinheilig, ob er die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen einleiten und die notwendigen Befehle geben durfte, aber sein Lächeln verriet, dass er sicher war, die Mord eins realiter zu leiten. Schabowski war dieser Ehrgeiz momentan sehr recht. Nur durfte sich Michalk keine nachweisbaren Fehler leisten, denn die Kritik seiner falschen Entscheidungen würde auf die Leiterin des Teams fallen, auf sie, Agnes R. Schabowski. Und dieses Versagen konnte Karriere und Ruf so schädigen, dass sie den Job wechseln müsste. Und zur Hausdurchsuchung bei den Fischers hatten einige Aussprachen stattgefunden. Lob hatte es keines gegeben. Ganz zu Recht. Sie hatte Michalk zusammengeschissen, oder was Schabowski unter Zusammenscheißen verstand. Der Kollege hatte es stoisch zur Kenntnis genommen und genauso weitergemacht. In Wirklichkeit leitete er ja die Mordkommission. Die Kommissarin verdrängte diese unliebsamen Gedanken, sehnte sich in die Arme von Hainar Krumpholz und dessen nie endende Aufmerksamkeit. Eine Rose hier, ein Praliné da, eine Karte fürs Schauspiel, eine fürs Konzert und eine für die Oper. Die verbrachten Nächte mit ihm verursachten Schabowski auch am Tage wohlige Schauer. Hainar Krumpholz betete Schabowski an. Eine Gefühlslage, die sie, zugegebenermaßen, noch niemals kennengelernt hatte. Das Leben war schön! Jawohl.
Ihr Privatwagen war weder zugeparkt, noch hatte er ein Knöllchen unter dem Wischer. Als Schabowski in das Auto stieg, tat sie noch einen Blick nach oben: Hainar stand in sexy Unterwäsche auf dem kleinen Balkon und winkte ihr mit Kusshand zu. Der Stadtverkehr war trotz der rätselhaften Vermehrung der Baustellen erstaunlich flüssig. Die Kommissarin gewährte mit freundlicher Geste den sich stauenden Autos aus den Nebenstraßen Vorfahrt. Das Radio sendete Hits, die sie kannte. Das kann kein Zufall sein! Und die Kurzkritik einer skandalträchtigen Inszenierung verursachte ihr Lachen. Samuel Finzi und sein langatmiges Würgen, um endlich zu kotzen! Falladas „Trinker“ – eine Blamage. Eigentlich hatten Hainar und sie den Besuch dieser Aufführung in ihre Planungen einbezogen. Aber das musste nach diesen Worten nicht sein, sie konnten den Abend mit Besserem als mit Zusehen beim Erbrechen anderer verbringen. Allein wie Hainars Lippen schmeckten ... Schabowski schloss kurz die Augen. Der Bremsweg zum vor ihr fahrenden Auto war beinah zu kurz.
Wieder stand Schabowski ein Arbeitstag bevor. Die Chefin der Mord eins stimmte mangels Zeit und Alternativen den Schlussfolgerungen Bastian Michalks zu. Ihr eloquenter junger Mitarbeiter glaubte, den Schuldigen an Gerlind Hopstocks Verschwinden in Person des Schwiegersohnes gefunden zu haben. Nur fehlte der Beweis, der ein Gericht den Schuldspruch fällen ließ. Eine missliche Situation, die mittlerweile Kritik von Schmitt und Oberstaatsanwalt, Schwäblein-Kunz und anderen Politikern hervorgerufen hatte. Ein unspektakulärer Fall, der ihrer Meinung nach zu hohe Aufmerksamkeit übergeordneter Stellen genoss. Der Fall Hopstock war wahrscheinlich nur willkommener Anlass, dass die Politik ihr unübersehbares Engagement für die Alten der Gesellschaft unters Volk bringen konnte. Doch auch mit erhöhtem Druck waren ihre Ermittlungsergebnisse keine neuen. Gerlind Hopstock blieb verschwunden. Kein Zufall legte Spuren offen. Und Michalk hatte recht, vieles deutete auf die Täterschaft von Toralf Fischer. Nur der Nachweis glückte ihnen nicht. Schabowski fragte sich, ob sie Fischer jemals der Straftat überführen konnten. Sie mussten nur die Leiche finden. Wenn nicht, dann wäre dieser schlichte Fall ein schwarzer Fleck auf ihrer weißen Weste des beruflichen Aufstiegs. Aber momentan hätte sich Schabowski auch mit einer Hausfrauenrolle zufriedengegeben. Ich will keine Schokolade, ich hab’ einen Mann! Schabowski lachte ausdauernder als übers Feuilleton. Das Leben war schön! Jawohl.
Als sie das Präsidium betrat, lag ihr noch immer der Top-Ten-Hit Mitteldeutschlands im Ohr. Das kann kein Zufall sein! Die Kommissarin war weder abergläubisch noch vertraute sie auf göttliche Fügung: Thorst Schmitt stand vorm Wachhabenden im kleinen Kabuff hinterm Eingang und hatte einen Strauß Feldblumen in seiner Hand. Selber gepflückt hatte der Kriminaldirektor die Blüten nicht, dafür waren sie zu professionell gebunden. Überhaupt, warum sollte der Chef sie mit Blumen begrüßen? Das kann kein Zufall sein!
„Schön wie der Morgen“, stellte Schmitt statt einer Begrüßung fest.
„Es kann kaum bessere geben“, entgegnete die Kommissarin wider ihrer Empfindung. Wenn einen dieser Herr Direktor bereits an der Pforte empfing, konnte es kein schöner Morgen mehr sein. Schmitt lächelte ölig wie ein Hai vor dem Angriff und verbarg die Blumen hinter seinem Rücken. Der Wachhabende folgte ihrem Gespräch mit regem Interesse. Wahrscheinlich würde die Gerüchteküche durch ihn neue Nahrung bekommen. Das kann kein Zufall sein! Wenn der Direktor sie jetzt nach dem Fall Hopstock befragte, würde Schabowski einen Schreikrampf bekommen.
„Ansätze im Fall der Vermissten Seniorin?“
Schabowski schrie nicht, verschluckte sich aber am eigenen Speichel und wedelte ihren Kopf hin und her. Schmitt schaute, als wäre sie ein Fossil im Museum.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Die Stimme klang im Spektrum seiner Möglichkeiten besorgt. Auch kam Schmitts Kopf dem Schabowskis immer näher. Interessiert betrachtete sie der Direktor wie einen zerlegten Frosch im Biologieunterricht.
Schabowski nickte nun kräftig mit dem Kopf und konnte sich selbst nicht erklären warum. Wie sollte der Chef diese verfahrenen Ermittlungen unterstützen? Sie und ihre Mitarbeiter fanden keine Ansätze. Und Wochen bereits wusste der Chef darüber Bescheid.
Das Grinsen im Gesicht des Direktors, musste sie als Diskriminierung empfinden, als hätte es fünfzig Jahre Frauenbewegung nie gegeben. Er hatte es immer gewusst, sagte Schmitts Blick: Frauen in Führungspositionen! Überhaupt, was stand denn der Schmitt zu Arbeitsbeginn mit Blumen an der Pforte wie ein Empfangskomitee?
Es wäre Schabowski hilfreich gewesen, wenn ihr der Direktor kräftig auf den Rücken geschlagen hätte. Die Luft war ihr knapp. Sie schnappte wie ein Karpfen an Land. Der Wachhabende sprang aus seinem Glaskasten und hieb der Kollegin zwischen die Schulterblätter. Die Kommissarin nickte heftiger, bis sich ein Pfropfen gelöst zu haben schien.
Schmitt schaute ungläubig wie ein Theaterbesucher. Samuel Finzi und sein langatmiges Würgen, um endlich zu kotzen!
Und dann wiederholte der Kriminaldirektor seine Frage: „Kann ich Ihnen helfen?“
Schabowski hätte ihm ins Gesicht schreien mögen: Lassen Sie mich in Ruhe! „Ein paar Details lassen auf eine Klärung des Falles hoffen“, stöhnte sie und hatte einen üblen Geschmack auf der Zunge.
„Kollege Michalk hat einen Antrag auf Durchsuchung des Grundstücks gestellt“, sagte Schmitt.
„Ja.“
Die Hausdurchsuchung war vergangene Woche ergebnislos beendet worden. Schabowski hatte das Protokoll dieses Scheiterns noch nicht verfasst. Michalk wollte sie diese Aufgabe nicht übertragen. Die Verantwortung trug sie und wollte diese nicht delegieren. Offensichtlich war der Direktor über diesen Fehlschlag noch nicht informiert. Allerdings hatte doch Michalk sie zur letzten Dienstberatung vertreten. Schabowski war verhindert gewesen, hatte einen sofortigen Arztbesuch vorgeschoben. Sex am Morgen genoss sie sehr. Den mit Hainar Krumpholz noch mehr. Der hatte sie die Zeit vergessen lassen. Michalk ging zur Dienstberatung, und dort war offensichtlich der Einsatz im Hause der Fischers nicht diskutiert worden trotz SEK, Gewalt und schlechter Presse.
Schmitt sprach zur ihr in belehrendem Ton. „Ich gebe nur zögernd meine Zustimmung, Frau Kollegin.“
Schabowski tat, als hänge ihr noch immer der Husten im Hals und versuchte, die Äußerungen Schmitts in einen Zusammenhang zu bringen. Kurzzeitig hatte die Kommissarin den Eindruck, als verschwören sich Männerbünde gegen sie. Frauen in Führungspositionen! Schabowski fragte: „Ja?“
„Frau Kollegin, das ist ein sehr vehementer Eingriff in die Privatsphäre. Die Kosten des Einsatzes sind enorm. Und gesetzt den Fall, er verläuft ohne Ergebnis, müssen wir auf Staatskosten das Anwesen wieder aufbauen. Sie sind sich Ihres Vorgehens wirklich ganz sicher? Es ist unser letztes Mittel.“
Schabowski begriff gar nichts, nickte jedoch. Es war ihr, als spräche der Chef chinesisch mit fremdem Akzent. Sie sah asiatische Schriftzeichen und Uma Thurman als Kill Bill. Überhaupt klang Schmitts Vokabular verdächtig nach Krieg. Einsatz und Wiederaufbau, solche Worte hatte Schabowskis Tante im Munde geführt, wenn sie von Feuersturm und Luftschutzkeller erzählte. Die Chefin hatte keine Ahnung, wovon der Kollege Kriminaldirektor überhaupt sprach. Vorwärtsverteidigung.
„Aber die Schlussfolgerungen des Kollegen Michalk sind in sich logisch und konsequent zu Ende gedacht. Insofern sehe ich keine Schwierigkeiten, die Staatsanwaltschaft zu überzeugen.“
„Ja. Aber bei einem Scheitern tragen Sie die Verantwortung, Frau Kollegin.“
„Auch bei einem Erfolg trage ich die. Oder ist der dann der Ihre, Herr Schmitt?“
Jetzt kam der Blumenstrauß hinter Schmitts Rücken hervor. Der Direktor hielt das Grün Schabowski zu eng vor den Körper. Die Kommissarin war verwirrt. Dass der Kriminaldirektor seine Unterstellten mit Blumen an der Pforte empfing, war mehr als ungewöhnlich. Das kann kein Zufall sein! Schabowski hatte aber weder Geburtstag noch Dienstjubiläum. Der Wachhabende telefonierte leise in seinem Glashaus, die Blicke konnte er nicht von ihnen wenden. Wahrscheinlich diente ihr Empfang mit Blumen und Direktor bereits im Haus für Gerüchte. Schabowski war es peinlich. Sie nahm Schmitt seinen Blumenstrauß ab.
„Ich freue mich sehr.“
Schabowski betrachtete die bunten Blüten und war sich sicher, dass Schmitt ein anderes Ziel damit verfolgte. Seit dem Tod seiner Frau und schon vorher, hatte die Kommissarin das Gefühl, dass er sie in sein Bett bekommen wollte. Der Mann war ihr einfach zuwider.
„Tausend Tage Chefin der Mord zwo ist ein Anlass, liebe Kollegin, Ihnen Dank und Lob zu sagen. Auf weitere gute Zusammenarbeit!“ Und Schmitt streckte ihr seine Hand entgegen. Sie war noch feucht vom Blumenpapier.
„Danke.“
Die große Tür des Präsidiums wurde aufgeschoben und die Biederstedt, Bild, schritt hindurch. Schmitt wandte sich um und sein Gesicht geriet zum schiefen Grinsen. Schabowski konnte es nicht glauben, dass der Kriminaldirektor auf diese Skandaljournalistin gewartet hatte.
„Herzlich willkommen, liebe Frau Biederstedt!“
Die liebe Frau Biederstedt, Bild, war eine der bestgehassten Frauen im Präsidium. Keiner der Kollegen in Leitungsfunktion, der nicht bereits unter ihrer spitzen Feder gelitten hätte. Unterstützende Kritik nannte das die Biederstedt, Bild. Bei manchem Ermittler hatte ihre Kritik nur die Versetzung unterstützt. Auch Schabowski war bereits in ihr Visier geraten, aber mit leichten Blessuren aus der Berichterstattung herausgekommen. Der Kommissarin wurde die Verlegenheitslösung des Direktors jetzt klar: Für die Biederstedt, Bild, waren die Blumen bestimmt gewesen, die sie jetzt in der Hand hielt. Der Strauß sprach vom Geschmack der Floristin, Schabowski sah keinen Grund, ihn Schmitt zurückzugeben.
„Dank, Herr Direktor, dass Sie mich empfangen!“, flötete die Biederstedt, Bild.
„Ganz meinerseits. Ganz meinerseits.“ Damit schob sich der Direktor zur Seite und wies der Journalistin den Weg wie beim Empfang eines Königs. „Bitte geradeaus.“
„Ich bin bereits im Präsidium gewesen.“
Schmitt lächelte dümmlich. Hätte Schabowski auf der Straße gestanden, hätte sie kräftig ausgespuckt. So schluckte sie ihren Ekel herunter und verspürte schon wieder den Brechreiz. Samuel Finzi und sein langatmiges Würgen, um endlich zu kotzen! Die Kommissarin wandte sich vom peinlichen Schauspiel ab und lief den Gang zu ihrem Büro. Dabei überschlug sie die Tage seit ihrer Ernennung. Tausend Stück – der Chef konnte recht haben. Fast drei Jahre bekleidete sie bereits diesen Posten.
Als sie vor ihrer Tür stand, schlug diese auf. Michalk schaute gehetzt. „Wo bleiben Sie denn? Der Staatsanwalt wartet ungern.“
„Haben wir einen Termin?“
„Ja.“
Schabowski musste dieses Gespräch überhört oder vergessen haben. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie heute bei Gericht vorsprechen wollten.
„Um was geht es?“
„Um die Leiche von Gerlind Hopstock. Das habe ich Ihnen doch gestern ausführlich erklärt. Ich bin überzeugt, dass sie Fischer auf seinem Grundstück versteckt hat.“ Schabowski nickte. Michalk sprach immer schneller. „Seit dem Verschwinden seiner Schwiegermutter hat er eifrig am Haus weitergebaut. Wir werden den Beton aufhacken, den Schuppen abreißen, wenn nötig das ganze Haus. Wir werden Toralf Fischer seinen Mord beweisen!“ Michalks Augen leuchteten. „Der Staatsanwalt muss nur seine Unterschrift geben und empfängt uns um acht Uhr dreißig vor seiner Verhandlung.“ Schabowski schaute wohl entgeistert, denn Michalk setzte bedauernd hinzu: „Ein anderer Termin war nicht möglich.“
„Ich würde den Blumen gern noch Wasser geben“, sagte die Kommissarin. „So viel Zeit muss sein!“