22.

„Kaffee? Tee? Wasser?“

Kohlund verneinte.

„Einen au lait und Remy, wenn ihr habt.“ Der Anwalt ließ stolz die Vokabeln über seine Lippen fließen. Dr. Gilbert Wöhler achtete auf Etikette und deutete die Verbeugung wie königliches Dienstpersonal an. „Sehr wohl, der Herr.“ Dr. Alhaus nahm es wohlwollend zur Kenntnis, dann wandte er gnädig seinen Blick den Kriminalisten zu. Kohlund war die Situation unangenehm.

„Cola, wenn Sie haben“, rief Merghentin Wöhler hinterher.

„Auch die“, lächelte Corinne Wöhler von der anderen Seite.

Zunächst vermutete Kohlund, dass die Hausherrin ebenfalls Richtung Küche verschwinden würde, doch Corinne Wöhler trat nur drei Schritte zur Seite und bückte sich zu dem Eisschrank einer kleinen Hausbar im Zimmer. Aus dem Kühlraum fiel lila Licht auf den Teppich, das auch die Butzenglasscheiben im Bauernmobiliar reflektierten. Die Wohnung der Wöhlers vermittelte einen gehobenen, aber geschmacklosen Eindruck. Geraffte Gardinen, die halbhoch die Fenster verdeckten. Blumen in Kübeln, die zu zerspringen drohten. Eine Uhr, in der Buratinos lange Nase als Zeiger diente. Kohlund war verblüfft, was der Handel hergab. Die Wöhlers bewegten sich in den Räumen wie Helga Piur und Günter Schubert in einer Aufführung aus dem Fernsehtheater Moritzburg. Die Gesten der Mitwirkenden waren exakt bemessen, jedes Lächeln genau platziert. Selbst das Zwinkern der Lider schien Lars Kohlund abgesprochen. Nur Dr. Alhaus saß wie ein Buddha im schweren Sessel und rieb sich die Hände.

„Was wollen Sie wissen, meine Mandanten haben schon jede Frage Ihrer Behörde beantwortet, und diese mehrmals. Einmal muss das doch ein Ende haben!“

Corinne Wöhler stellte ein Glas mit sprudelndem Coffein-Getränk vor Merghentin hin. Dieser Cola haftete ein Geruch des Westens an. Kohlund erinnerte sich, dass früher die leeren Büchsen kapitalistischer Limonade und fremden Bieres als Schmuck die Regale in hiesigen Wohnzimmern zierten. Manche der Dosen wurden zu Humpen verarbeitet und mit gegrillten Wäscheklammern beklebt. Solch ein Becher hätte hervorragend zum Ambiente gepasst. Daraus hätte Kohlund gern einen Remy gekippt. Aber Dr. Alhaus bekam einen geschliffenen Schwenker.

„VSOP, sieben Jahre“, sagte Wöhler, als er das Glas vor dem Anwalt hinstellte.

„Allein der Geruch“, kam Alhaus ins Schwärmen.

„Coke zero“, sagte Frau Wöhler zu Merghentin.

„Nicht unbedingt gesünder als mit.“ Merghentin überspielte diese Provokation, als wüsste er nicht, was er sagte. Kaum merklich zuckte der Hausherrin die Hand. Kohlund bemühte sich um eine angemessene Miene. Die Kommissare verstanden sich wortlos.

Kohlund und Merghentin hatten die freie Zeit bis zur Ankunft des Dr. Alhaus mit einem Spaziergang im Viertel verbracht. Ins Präsidium zu fahren, hätte keinen Sinn ergeben. Kaum am Arbeitsplatz angekommen, hätten sie wieder starten müssen, abrechenbare Tätigkeiten wären in der Zeit nicht zu machen gewesen. So streiften die beiden Kommissare über Hänsel- und Dornröschenweg, bogen Am Bogen in den Denkmalsblick ein. Merghentin hatte dem hier geborenen Kohlund die Geschichte Marienbrunns nahegebracht. Eine Wallfahrtskirche hatte es einmal vor Ort gegeben und eine Quelle, die versiegte: der Marienbrunnen. Fischteiche lagen in dieser Flur und Felder. Die Messestadt war nicht weit. Und vor hundert Jahren hatte man mit der Bebauung der Gemarkung als Gartenstadt begonnen. Ein Viertel mit Geschichte, ein Viertel, wo’s sich wohnen lässt, hatte Merghentin gemeint und ihn angeschaut.

Kohlund empfand Blick und Bemerkung als Kritik, denn seine Familie wohnte noch immer und gern in der Platte von Grünau. Alexia und er hatten überlegt, ob sie in etwas Kleineres zogen. Die zwei Kinderzimmer standen fast leer. Kohlund saß manchmal in Gisberts Buchte, wenn er sich mit seiner Gattin nicht übers TV-Programm einigen konnte. Rosamunde Pilcher war nicht nach seinem Geschmack, und Alexia tarnte ihr Interesse an den Schnulzen mit beruflichen Gründen. Man muss doch wissen, wo man die Leute hinschickt. Und du buchst mit mir ja keinen Urlaub in Cornwall. Charlottes Zimmer nutzte Alexia manchmal fürs Bügeln. Ansonsten stellten die Eltern veraltete, aber möglicherweise noch nutzbare Geräte und Accessoires oder gebrauchtes Mobiliar in die Räume. Kohlund hätte manches davon schon auf den Sperrmüll getragen, wenn nicht so verdammt viele Erinnerungen an Sternrecorder, Spartakiademedaillen und DIE-Reihen hängen würden. Letztens hatte er ein Plakat von Fritzens Dampferband & Nina Hagen drinnen gefunden. Die Kinderzimmer mutierten zum Museum seines Lebens und dem seiner Frau. Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael! Aber möglicherweise blieben sie nicht Museum, ein Kind war unterwegs. Geburt ungewiss. Doch Kohlund schwor sich, Alexias Schwangerschaft zum Anlass zu nehmen und einige der ungebrauchten Gegenstände zu entsorgen.

Merghentin hatte den Erinnerungen seines Chefs schweigend zugehört, und Kohlund war sich sicher, dass der junge Kollege nichts davon verstanden hatte: Wessi. Aber der Kommissar versuchte es immer wieder, und immer wieder hörte ihm Grischa Merghentin geduldig zu. Das taten nicht viele.

Die Kommissare waren am Südfriedhof entlanggelaufen. Über holpriges Pflaster und Kies hatte Kohlund den Rollstuhl geschoben. Pünktlich waren sie vorm Einfamilienhaus der Wöhlers wieder erschienen. Auf der Straße parkte nunmehr ein BMW, von dem Kohlund annahm, dass der zu Dr. Alhaus gehörte.

Auch diesmal öffnete Dr. Gilbert Wöhler ohne ein Klingeln seine Tür und bat die Kommissare ins Haus. Sein Gesichtsausdruck bemühte sich um Freundlichkeit, die ihm sichtlich schwerfiel. Als Wöhler Merghentins Handicap erkannte, stieg er ohne Zögern die drei Stufen nach unten und nahm den behinderten Kommissar auf seine muskulösen Arme. Kohlund klappte den Rollstuhl zusammen und trug ihn ins fremde Haus. Dr. Wöhler setzte Merghentin aufs weiche Sofa, der Kommissar versank fast zwischen den fein bestickten Kissen, zwei, drei schob er sich ins Kreuz für bessren Halt. Kohlund lehnte den Rollstuhl an die Wand unter das Bild von Walter Womacka: Junges Paar am Strand.

„Lucien wollte noch einen Kaffee, setzt du Wasser auf, meine Liebe?“ Lächelnd tarnte Gilbert Wöhler seinen Befehl an die Gattin. Die verschwand nickend. Kohlund hörte Wasser in einen Kessel laufen.

Dr. Lucien Alhaus wandte sich wieder den Kriminalisten zu. Den Cognacschwenker ließ er in seiner Hand kreisen. „Sie werden nichts Neues erfahren.“

„Die Leiche von Eike Proksch ist im Zwenkauer See gefunden worden.“

„Diese Tatsache ist uns bekannt. Aber eine Leiche ändert doch nichts an den Aussagen meiner Mandanten.“

„Wenn Sie die Fragen trotzdem beantworten würden?“

Dr. Gilbert Wöhler fuhr beruhigend über die Hand seines Anwalts. „Sie müssen ihre Arbeit tun, wir unsre.“ Dann setzte er sich auf einen der Stühle am Speisetisch, schlug die Beine übereinander, sah auf den Schrank mit den Butzenglasscheiben und schien zu pfeifen.

„Wie Ihnen bekannt sein dürfte waren meine Mandanten zu der fraglichen Zeit im Skiurlaub, Ihre Behörde hat sich angelegentlich beim Vermieter in Königsleiten erkundigt. Die Skipässe waren auch mit dem Datum des 27. Januar gestempelt. Beim apré ski wurden Herr und Frau Dr. Wöhler von mehreren Zeugen gesehen.“

„Wir haben uns sehr vergnügt. Konnten ja nicht ahnen, was in diesem Haus hier passiert.“ Corinne Wöhler war wieder ins Zimmer getreten und bemühte sich um die richtige Tonlage, die ihre Empörung verdeutlichen konnte.

Merghentin sprach aus seiner Matratzengruft. „Hatten Sie Ihrem Sohn diese Party gestattet?“

„Was heißt gestattet?“ Die Stimme der Mutter wurde schriller. Kohlund dauerte das Kind, das sie ertragen musste. Corinne Wöhler nippte an einem Glas, in dem sich, vermutete Kohlund, Alkohol befand, der den Eindruck stillen Wassers erweckte.

„Sagen wir so“, übernahm Gilbert Wöhler das Gespräch, „wir hatten nichts dagegen, dass mein Sohn mit ein paar Freunden den Schuljahresabschluss hier feiert.“ Wöhler blickte auffordernd in die Runde, nur bei seiner Frau wendete er den Blick. „Wer von uns war nicht froh, endlich Ferien zu haben und eine sturmfreie Bude dazu.“ Sein Lachen klang gekünstelt. Der Vater bemerkte es selbst und verstummte.

„Und es ist ja auch gar nichts passiert“, fiel Corinne Wöhler ein. „Drei Gläser gingen zu Bruch, die ich eh nie leiden mochte.“ Und zu ihrem Mann: „Die gehörten zur Aussteuer deiner Urgroßoma und sahen aus wie Pokale.“ Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, nein, auf unseren Sohn können wir uns verlassen.“ Und als sei das nicht Begründung genug: „Und immer sollen die Eltern auch nicht um die jungen Leute herum sein, wollen ja selbstständig werden. Gar nichts Schlimmes ist da passiert.“ Sie setzte sich ihrem Mann gegenüber an den Tisch. Es sah aus, als warteten sie auf Speisen im Restaurant.

Dr. Alhaus nickte und ließ noch immer den Remy VSOP, sieben Jahre im Schwenker rotieren. „Völlig normal, dass Kinder in Jeans Alter auch mal allein feiern wollen.“ Dann führte der Anwalt das Glas zum Munde und genoss dessen Inhalt. Als er es auf dem Couchtisch absetzte, nickte er Gilbert Wöhler anerkennend zu. „Top Qualität.“ Der Mann kannte sich aus.

„Nur dass Ihr Sohn und seine Gäste Eike Proksch bei dieser Party nicht hineingelassen haben.“ Die Eltern blickten betreten. „Hier wurde er zum letzten Mal lebend gesehen.“

Kohlund glaubte, ein leises Stöhnen zu hören. Sie gaben die Vorstellung einer glücklichen Familie, doch schien das Zusammenleben nicht so ideal zu funktionieren. Kohlund schlussfolgerte dies aus kleinen Gesten und Zwischentönen, auch er hatte vor Fremden gern vom Verständnis aller füreinander bei sich zu Hause erzählt. So stressfrei konnte Familienleben nicht sein, wie ihnen die Wöhlers hier weismachen wollten.

„Hat Ihr Sohn von der Party erzählt, als er bei Ihnen im Skihotel ankam?“

Ein Blick zwischen den Eheleuten. Dann nickte die Mutter. „Was junge Männer eben erzählen: Schön war’s und fertig.“

„Wussten Sie, welche Gäste sich Ihr Sohn eingeladen hatte?“

Der Vater sagte: „Eigentlich kannten wir alle, die da waren. Meine Frau arbeitet im Elternaktiv mit. Tolle Lehrer, tolle Klasse, eigentlich keine Probleme. Außer die, die’s immer gibt.“

„Die da wären?“

„Schlechte Noten. Mal ein Streich. Mal fühlte sich ein Lehrer beleidigt. Mal Stress unter Freunden. Völlig normal, würde ich sagen.“

„Diese Klasse zieht an einem Strang“, fügte die Mutter hinzu und nippte am Wasserglas.

„An dem letztlich Eike Proksch hing.“

„Er hat sich erhangen? In der Zeitung stand nichts von der Todesursache“, war Dr. Wöhler interessiert.

Merghentin ging nicht darauf ein, sondern blickte freundlich aus seinen Kissen und hielt Corinne Wöhler sein Glas entgegen. „Hätten Sie noch eine Coke zero?“

Wortlos nahm die Mutter Merghentins Glas und verschwand diesmal in der Küche. Dr. Alhaus lächelte nicht mehr und griff zum leeren Schwenker, um wenigstens dem Geruch den Remy VSOP nachzuspüren. Als Gilbert Wöhler ihm nachschenken wollte, hielt der Anwalt seine Hand über das Glas. „Es reicht!“ Dann stand Dr. Alhaus auf und lief um den Couchtisch. Mutter Wöhler war zurück und stellte vor Merghentin das gefüllte Glas, der ließ es stehen.

„Herr Kommissar, Sie wollen meinen Mandanten einen Mord unterstellen. Dagegen werde ich Schritte einleiten. Fakt ist, dass Eike Proksch lebend bei der Party gesehen wurde, nicht tot. Es ist Ihr Beruf zu klären, was danach mit ihm geschah! Wöhlers können am Tod dieses Jungen keine Schuld tragen, sie waren im Urlaub in Königsleiten, das wurde von zig Leuten bestätigt.“

„Fakt ist aber auch“, sagte Merghentin und ignorierte den Anwalt, „dass diese tolle Klasse Eike Proksch mobbte. Der Junge litt, litt fürchterlich. Über Selbstmord machte sich Eike Proksch Gedanken. Er wollte nicht mehr, erst recht nicht in diese Schule. Und dann stand er hier vor Ihrer Tür, und die hielt Ihr Sohn samt guten Freunden fest verschlossen. Und da erzählen Sie mir, es gab keine Probleme!“

Stille. Die Wöhlers wichen allen Blicken aus. Dr. Alhaus bediente sich nun doch selbst und reichlich aus der Flasche Remy Martin VSOP und kippte das volle Glas in einem Zug. Kohlund war fasziniert, wie schnell die aufrecht gehaltene Fassade zusammenbrach. Merghentin verstand seinen Job. Und Kohlund fragte sich, warum er den Kollegen im Büro mit Schreibtischarbeit festgehalten hatte.

„War Ihr Sohn schwul?“, fragte Kohlund.

„Bitte?“ Herr und Frau Dr. Wöhler sprachen im Chor. Dr. Alhaus sah aus dem Fenster.

„Eike Proksch wurde in Damenkleidung gefunden.“

„Das kann mit uns nichts zu tun haben.“

„Nicht einmal homosexuelle Erfahrungen gemacht?“, ließ sich Merghentin vernehmen. Sogar der Anwalt schüttelte den Kopf. „Eigentlich macht das jedes Kind in diesem Alter. Man muss seine sexuelle Identität suchen und finden.“

„Nicht unser Sohn!“, rief Corinne Wöhler und erinnerte Kohlund an die gläubige Mutter von Eike Proksch.

„Können wir mit Ihrem Sohn sprechen? Sie fuhren ja, wie Sie sagten, zum Zeitpunkt der Party in Königsleiten die Pisten hinab. Jean-Claude würden wir gerne befragen, er war ja der Gastgeber an jenem Abend.“

Wieder kein Wort, nur die Mutter nickte. Dr. Alhaus schielte zum Cognac und verzichtete. Wie auf Befehl erhoben sich alle. Dr. Gilbert Wöhler stieg die Treppe voraus und vergaß Grischa Merghentin auf seine Arme zu nehmen. Der behinderte Kommissar auf dem Sofa beendete die peinliche Situation.

„Ich schau mich derweil mal im Zimmer hier um“, sagte Merghentin.

„Wir kommen mit Jean-Claude zurück“, sagte Kohlund und kam sich dämlich vor. Vielleicht war es doch keine gute Idee, Merghentin wieder mit auf Außendienst zu nehmen. Wie sollte der allein mit solchen Situationen fertig werden? Andrerseits schien es, als überstehe dieser Kommissar problemlos noch ganz andere Komplikationen.

Die Treppenstufen waren mit dickem Filz überzogen. Lautlos bewegte sich die Gesellschaft. An Jean-Claudes Zimmertür prangte ein martialisches Plakat eines Computerspiels, auf dem ein geharnischter Koloss ihnen seine Waffe entgegenhielt. Betreten heißt Tod stand darunter. Auch Kohlunds Sohn hatte solche Abwehr der Alten ehedem an seiner Zimmertür hängen. Charlottes Warnungen waren da wesentlich diffiziler gewesen. Eintritt nur nach Aufforderung gestattet. Corinne Wöhler klopfte ans Zimmer ihres Sohnes und klinkte ohne Erfolg. Die Tür blieb verschlossen. Sie klopfte noch einmal. Keine Reaktion.

Dann drängte der Vater nach vorn. Er hämmerte so stark ans Brett, dass Kohlund befürchtete, die Tür würde aus ihren Angeln gehoben. „Jean! Öffne sofort die Tür. Die Polizei will mit dir reden!“

Von drinnen schrie es mit dünnem Stimmchen: „Verdammt noch mal, lasst mich in Ruhe! Verschwindet!“

Dr. Gilbert Wöhler haute wieder kräftig gegen das Holz. „Jean, du kommst jetzt da raus und sagst, was du den Polizisten schon immer gesagt hast!“ Dann fiel der Vater fast in einen normalen Tonfall zurück. „Wir wissen, du hast keine Schuld. Der Eike ist verschwunden gewesen, woher sollst du wissen, wohin er ging. Komm raus, Junge, du machst alles nur schlimmer.“

Kohlund glaubte, Weinen hinter der verschlossenen Türe zu hören. Als sich der Kommissar umsah, sah er auch Tränen in den Augen der Mutter.